Montag, 20. April 2020

Das Haus verstand

So muss das nämlich heißen. Ist dieses Haus mein Kopf eigentlich? Und fliegen Vögel durch die geöffneten Fenster aus und ein? Dass ein Haus etwas versteht, das geht ja gar nicht, denn das Verstehen ist ja an ein Gehirn geknüpft, an ein Bewusstsein, und beides hat das Haus nicht, zumindest meinen wir das. Mein Haus aber verstand. Früher einmal, jetzt nicht mehr, daher der Gebrauch des Präteritums. Was verstand das Haus? Nicht alles, aber das was zwischen den Zeilen gesagt wurde. Manchmal hörte das Haus auch einfach nicht zu. Es war, als würde es sich die Ohren zuhalten und immerfort "Lalalalala" rufen. Dabei drehte es sich von rechts nach links, hin und her und im Inneren wackelte alles und die Teller in der Kredenz klapperten. Selbstverständlich schaut das Haus aus wie auf einer Kinderzeichnung. Meistens ist die Tür zu klein, dafür sind die Fenster groß und vor dem Haus stehen Blumen in der Höhe eines Buschs. Das Haus auf der Zeichnung zeigt Wille zur Symmetrie. Diesen Häusern ist durchaus Verstand zuzutrauen. Immer wieder muss ich in diesem Zusammenhang an den Logo denken. Dieser Logo wohnt vermutlich auch im Kopf, in allen unseren Köpfen. "Das sagt einem der Logo!", so hat der Fahrlehrer einer Freundin gegenüber begründet, dass man beim Autofahren einfach Verschiedenes weiß. Links oder rechts, oder das andere rechts? Oder schalten, wenn beschleunigen? Obwohl ich annehme, dass der Logo so heißt, weil er sich vom Begriff "Logos", griechisch "das Wort", ableitet und daher sich leicht tut mit dem Reden, ist er in meinem Kopf ganz still und sagt gar nichts. Der Logo. Kann es sein, dass ich einen stummen Logo in meinem Kopf hocken habe? Ist er beleidigt? Los, Logo, sprich endlich, ja spuck's aus, in meinem Kopf drinnen, da brauchst du keine Maske gegen feuchtes Sprechen. Wohnt der Logo im Haus, das versteht, das ja auch oben in meinem Hirnkasten aufgestellt ist? Das könnte sein, das kleine Kinderhaus, das hin und her wackelt und in einem Eck sitzt der bockige Logo. Vielleicht verstand das Haus auch ihn und daher hat er sich dorthin zurückgezogen. Das scheint mir ganz logisch. Naja, das ist übertrieben, aber es wäre naheliegend.

Mittwoch, 15. April 2020

Mir hat es die Rede verschlagen

Das müsste eigentlich reichen. Ich habe nichts zu sagen. Nichts anderes. Nichts weiteres. Ich möchte weder einen Videobeitrag darüber machen, wie ich im Homeoffice arbeite, noch einen von den anderen Menschen sehen.

Ich bin zu einer Stadtstreichern geworden, besser gesagt, zu einem dieser Tiere, die sich weiter ins urbane Gebiet vorwagen, weil nicht mehr so viele Menschen in der Stadt unterwegs sind. Wie die Hirsche, die in eine Auslage eines Einkaufszentrums starren, wage ich mich in unbelebte Gässchen, nehme Abkürzungen durch Privatgelände, werfe verstohlene Blicke in Innenhöfe, schaue an Fassaden hoch, gehe zick zack durch die Straßen, um nicht nah an anderen Menschen vorbeizugehen. Das wäre mir bis vor Kurzem unhöflich erschienen. Heute bedanken sich die anderen Menschen mitunter sogar dafür. Manchmal schaue ich sehnsüchtig einer fast leeren Straßenbahn nach.

Ich gehe aber auch gerne die immer gleichen Wege und prüfe die Größe der Urinflecken der Hunde auf der Straße. Es hat schon lange nicht geregnet.

Ich schlafe schlecht. Ich mache mir Sorgen. Die Menschen tun mir leid. Sie haben keine Arbeit oder zu viel Arbeit, sie haben kein Geld, sie werden krank. Sie sterben.

Aber sie stehen auch Schlange und warten geduldig, bis ihr Auto in der neuerdings wieder geöffneten Waschanlage sauber gemacht wird. Sie fragen öffentlich nach, ob sie ihre Einwegmaske in der Mikrowelle desinfizieren können.

Und es gibt keinen Impfstoff, weder gegen das eine, noch gegen das andere.


Montag, 24. Dezember 2018

Beauty lies in the eyes of the beholder

Die Datti war krank und konnte nicht nach Italien fliegen zu Weihnachten.
Der Körper der Datti hat sich mit undurchschaubaren Kombinationen an Viren und Bakterien geplagt, was das Hirn der Datti relativ weich gemacht hat, weswegen ihr alles wurscht war. Ein herrlicher Zustand, würde einem dabei jemand alle paar Stunden das gesamte Bettzeug wechseln.

Jetzt habe ich kein Fieber mehr und bilde mir ein, mein Hirn sei schon wieder ein bisschen kompakter. Bereit, jemanden belehren zu wollen, favourite pastime. Doch nein! Das Fieber hat den Effekt des "Ist mir doch wurscht" hinterlassen und entgegen meines ursprünglichen Impulses schreie ich nicht: "Behaltet euch eure Weihnachtswünsche, Leute!".

Nein, nach den Tagen des Herumwälzens in verschwitzten Leintüchern und der daraus resultierenden Weihnachtsabstinenz sehe ich mich verändert. Mein Haar ist grauer. Meine Hosen (jetzt ausse ausm Pyjama!) sitzen lockerer. Meine Toleranz ist größer!

Während die alte Datti noch grantelt und sagt: "Konsumwahnsinn. Ausgegrenzte Menschen. Geht's olle scheißn.", sagt die neue Datti: "Ok, ich habe begriffen, es geht um eine Tradition. Wer es will, kann es tun, wer nicht, kann zu Hause bleiben. An den Jesus denkt eh schon die längste Zeit keiner mehr in echt."

Gestern war in Ö1 eine Sendung, in dem Redakteure über ihr Weihnachten berichtet haben, dabei hat eine Frau ihren Bruder interviewt, der am Heiligen Abend immer allein zu Hause bleibt, weil er Weihnachten eigentlich nicht leiwand findet. Das Gute an diesem Tag sei für ihn, dass er still sei.

Das kann ich bestätigen. Ich als genötigte Weihnachstdissidentin habe ein Time-Out von allem. Das Kind ist nach Italien geflogen, es ist gerettet. Alle anderen sowieso. Ich kann das Buch fertig lesen, das ich im Januar 2018 begonnen habe. Es war nicht das einzige Buch, wie ich zu meiner Ehrenrettung betonen möchte, aber ich habe es immer wieder unterbrochen, 4321 von Paul Auster. In der Paperback-Ausgabe immerhin 1070 Seiten.

Ich kann nachdenken, über das, was ich nächstes Jahr machen will. Und was nicht (mehr).

Ich kann das Fenster mit der Nummer 24 vom Adventkalender des Kindes aufmachen und den Schokoladeweihnachtsmann essen. Ich hoffe, der noch grummelnde Bauch wird es verzeihen. Und das Kind auch.

Ich kann nachdenken, über das, was in diesem Jahr passiert ist. Und das ist nicht wenig. Darüber kann ich sogar dankbar sein. Wenn ich will.

Ich plädiere durchaus für einen Tag mit seiner Familie. Nichts gegen Weihnachten. Aber ich plädiere noch viel mehr für einen Tag mit sich alleine. Eben, zum Thema - besinnlich. Also wie wäre es, wenn - nein, ich weiß, man kann die Tradition nicht mehr ändern. Und die Kinder bekommen gerne Geschenke.

Und komischerweise bleiben einem die allein verbrachten Abende mehr in Erinnerung als die in Gesellschaft. All meine Sylvester verschwimmen ineinander. Den einzigen, den ich alleine verbracht habe, erinnere ich, als wäre es gestern gewesen. Am Mariahilfberg bei Gutenstein. Von all meinen Weihnachten bleibt eine unvollständige Rückschau. Während ich jetzt schon weiß, dass dieser erstmals allein verbrachte Heilige Abend besonders bleiben wird. Vielleicht ist er der erste von vielen? Vielleicht macht er unbändige Lust auf ein Familienfest im nächsten Jahr?
Vielleicht ist es auch der letzte, wer weiß?

Als Gefühl bleibt immer die Erinnerung an etwas Klares, Neues. An den potenziell nächsten Tag mit dem neuen, lang ersehnten Spielzeug, dem Schlummerle, der Puppenküche, der Barbie. Den Büchern von Hanni und Nanni und Bullerbü. Jetzt beginnt das Leben. Und dann noch Ferien, genug Zeit zum Spielen. Zum Lesen. Zum Schifahren auf dem Konstantinhügel. (in Wikepedia steht, dass der Konstantinhügel ein 7 m hohe Erhebung im Wiener Parter ist, das macht mich fast hysterisch...).

Irgendwann habe ich dieses Klare, Neue, zu vermissen begonnen. Ich habe begriffen, dass ich mich wahnsinnig auf Weihnachten gefreut habe, dass ich am Ende aber einfach müde war und nicht erfrischt. Und dass das Leben nicht mehr am nächsten Morgen neu begann.

Es sollte so sein am nächsten Tag: Man ist aufgewacht und war ausgeruht. Und man konnte spielen, mit den Sachen, die man sich so sehr gewünscht hatte. Man hatte keine anderen Verpflichtungen.

Meine Mutter, deren Kindheit von Kälte und Not geprägt war, wie ich ihren Erzählungen entnehmen kann, hatte eine Puppe. Ich glaube aus Holz und aus Stoff. Im Laufe eines Jahres war diese Puppe derangiert und zerstört und zu Weihnachten fand meine Mutter, das kleine Mädchen, das sie damals war, das kleine Mädchen, das sie heute wieder ist, die Puppe repariert unter dem Christbaum.
Dafür taugt Weihnachten.

Meine Mutter ist sehr großzügig mit ihren Weihnachtsgeschenken.

Sie hat auch noch eine andere Weihnachtsgeschichte. Ihr Vater, ein passionierter Pfeifenraucher, bekam zu Weihnachten immer Tabak geschenkt, der dann für ein Jahr anhielt. In seinem 88. Lebensjahr sagte er zu meiner Mutter, dem jüngsten seiner 12 Kinder, sie brauche keinen Tabak mehr zu schicken, er werde zu Weihnachten nicht mehr rauchen. Und tatsächlich sei er gestorben. Meine Mutter meinte, so werde es auch bei ihr sein, denn wie alle Menschen sucht sie Zusammenhänge in ihrem chaotischen Dasein.
Doch vor ein paar Tagen ist meine Mutter 88 geworden und als ich sagte: "Das hast du hinter dir, jetzt kannst du auch 90 werden", lachte sie ihr spitzbübisches Kleines-Mädchen-Lachen.

Weihnachten ist doch immer unverhofftes Glück. Oder lang ersehntes Glück. Oder Klarheit. Ausgeruhtheit. Ein Tag in einer Schneelandschaft. Der Wunsch und Wille etwas Neues zu beginnen.

Weihnachten kommt aus einer Erinnerung. Glücklich, wer eine solche hat, noch glücklicher, wenn diese gut ist.


Freitag, 19. Oktober 2018

Was hält einen?

Die Datti geht in der großen Stadt demonstirieren.
Sie will eine andere Regierung, diese hat sie nicht gewählt, absolut nicht.
Sie will einen anderen Job, sie will mehr verdienen.
Dass dem nicht so ist, daran ist sie womöglich schuld, wenn man von einer solchen sprechen kann. Jahrelang hat sich die Datti um ihre Familie gekümmert und parallel dazu sind alle voll arg geworden.

Und ob sie es will oder nicht, sie braucht mehr Geld.

Das Kind ist jetzt auch in der großen Stadt, denn das Kind ist kein Trottel, nie gewesen. Das Kind mag "Tombini a livello". Kanaldeckel, die nicht schief verlegt worden sind. Das Kind will was lernen, das Kind hat Ideen und will sich nicht beklagen.

Das Kind sagt: Es ist schwierig, aber ich bin glücklich.

Die Vorstellung, dass das Kind bisher nicht glücklich war, zwingt mich in die Knie. Das Kind sagt, es hätte bis jetzt die Schule gehasst. Ich kenne das Kind seit 11 Jahren und immer ist es in die Schule gegangen und, Donnerwetter, immer hat es die Schule gehasst? Und ich habe es immer ignoriert?
Ignoriert, wie dass ich eigentlich mehr Geld verdienen muss? Wie dass sich der Rallyefahrer offenbar in seinem Leben langweilt? Ignoriert, dass sich mein großer Sohn in eine Situation extremer Existenzangst begeben musste, bevor wir alle ein Gefühl füreinander bekommen konnten?

Die Datti sollte demostrieren. Aber es ist komisch. Auf der Demo sind sehr viele junge Menschen. Was ja gut ist. Und dann sind auch einige, die aus der Datti-Generation stammen. Aus der goldenen Zeit. Als man begann, die Schulbücher gratis zu vergeben. Als es normal war, sozial zu sein. Als es eine Sozialpartnerschaft gab. Nicht hergeben.

Nach 22 Jahren in Italien wird das Sozialsystem im Staatsbürgerland der Datti zu einer persönlichen Frage.

Die Datti liebt das Land. Aus politischen Gründen, nicht aus landschaftlichen. Eine lange Zeit lang ist ihr das Land auf die Nerven gegangen, als alle sie belehren wollten. In Italien wollte sie niemand belehren. Aber in Italien haben sich alle geduckt, mit den Armen um ihre Lieben. Und es steht einem nichts zu, außer die eigene Familie.

Jetzt ist es so: Die politische Wahrhaftigkeit jedes der Länder ist kompromittiert, wenn man so ein altmodisches Wort benutzen darf.

Soll man dort bleiben, wo die Kanaldeckel gerade verlegt wurden? Wo es mehr gepflegte Geschichte gibt?

Ich hätte gerne eine Freundin, die jetzt mit mir in der Küche abtanzt zu sowas wie "Daddy cool". I'm crazy like a fool. Aber alle meine Freundinnen müssen die Deutschhausübungen ihrer Töchter verbessern, sich um ihre Sozialversicherungsbeiträge sorgen oder ihre alternden Mütter wenn nicht ihre Enkelinnen bespaßen.

Das hat uns niemand ermöglicht, Sozialpartnerschaft si oder no: Sorgenfrei in eine Zukunft zu schauen,  auch wenn das Gras grün ist. Schon oasch.

Dienstag, 9. Oktober 2018

Don't be old

In der großen Stadt begleite ich meine Mutter zur Friseurin. Man muss dazu nicht einmal die Straße überqueren und meine Mutter rast mit ihrem Rollator den Gehsteig entlang. Ich überlasse sie eine halbe Stunde der Obhut der sich enthusiastisch gebärdenden Frau Karin und fühle mich, als wären meine Kinder mit der Babysitterin unterwegs. Nur schreibe ich nicht schnell einen Roman, sondern kaufe im Supermarkt Fertiggerichte für meine Mutter ein. Ich bin dennoch glücklich.
Die Friseurin hat meiner Mutter einen Kurzhaarschnitt verpasst, mit dem sie sich jugendlich fühlt. "Vorher habe ich ja ausgesehen wie eine Hundertjährige!" sagt sie empört. Sie wird in diesem Jahr 88. Hundertjährige sind für meine Mutter wohl das, was für mich als Jugendliche Erwachsene waren.

Sie will noch nicht gleich nach Hause gehen und wir gehen eine Runde um den Block. Sie erzählt mir, wie ihre Füße schmerzen. Sie sagt: "Da gibt es so viele kleine Nerven und Sehnen, ich spüre sie alle." Sie hat diesen Satz schon so oft gesagt und sie sagt ihn jedesmal, als wäre es eine Erkenntnis dieses präzisen Moments. Ich nehme mir vor, nie wieder über meine eigenen Schmerzen zu sprechen. Obwohl ich in diesem Augenblick alle Sehnen und Nerven meiner Füße spüre. Und es gerne jemandem erzählen würde.

Zu Hause angekommen trage ich den Rollator die 6 Stufen hinauf, die meine Mutter von der Welt trennen. Sie zieht sich am Treppengeländer hoch. Ich möchte die Türe schließen, aber sie verbietet es mir. Sie möchte, so lange ich da bin, versuchen, alleine die Treppe hinunter zu gehen. Sie sagt, es gäbe eine Krankheit, die Schwellenangst hieße, und deshalb könne sie die Treppe nicht hinunter gehen. Sie hätte Angst, zu fallen. Ich sage, ihre Angst sei nicht pathologisch. Die Möglichkeit, dass meine 87- jährige Mutter, die an einer Hüfte operiert ist und an der anderen leider nicht, die Treppe hinunter fällt, ist durchaus wahrscheinlich. Aber sie scheint die Psychologie entdeckt zu haben.

Sie geht die Treppe hinunter, bis zum Postkasten. Ich sage ihr, wo sie sich festhalten soll. Sie steht vor dem Briefkasten, dem eigentlichen Zielort. Ihr Postfach ist das oberste. Sie wird es nicht erreichen. Sie wirkt wie ein kleines Mädchen, das in ein Vogelnest schauen möchte. Sie zieht sich wieder am Geländer hoch. Gleichzeitig kommt der Lift von oben. Die Nachbarin steigt aus. Sie ist über 90.

Sie kann alleine gehen und sie geht jeden Tag einkaufen. Meine Mutter und die Nachbarin freuen sich, einander zu sehen. Sie denken jeden Tag aneinander. Sie schauen, ob das Licht in der Wohnung der anderen eingeschaltet ist.

Die Nachbarin hat eine tolle Frisur, sie hat ihre weißen Haare bis zum Kinn glatt geschnitten, dadurch wirkt sie eleganter als meine Mutter mit ihrer Kurzhaarfrisur. Und: Sie hat noch echte Zähne. Nicht mehr viele und in keinem guten Zustand. Aber: There they are.

Die Damen kommen sofort ans Eingemachte. Früher waren die Winter kälter. Der Beitrag meiner Mutter lautet: Sie ist an einem Freitag, dem 19. Dezember geboren worden und am Sonntag wurde sie getauft. Bei der Fahrt zur Kirche kippte der Schlitten um und meine Mutter fiel in den Schnee. In der Kirche, während der Taufe schrie sie. Kein Wunder, schließlich hatte sie Schnee im Wickelpolster. Meine Mutter ist sichtlich ergriffen wegen dem armen Baby, von dem man ihr erzählt hatte.
Der Beitrag der Nachbarin lautet: Ihr Vater war gestorben, als sie zwei Jahre alt war. Sie kann sich nicht mehr an ihren Vater erinnern, aber sie kann sich an sein Begräbnis erinnern. Sie erinnert sich, dass man sie auf den warmen Herd setzte. Es muss sehr kalt gewesen sein.

Die Geschichte meiner Mutter und jene der Nachbarin weisen neben der Käte im Winter erstaunliche Parallelen auf.  Meine Mutter war das letzte Kind von 12 Kindern. Ihr Vater war Witwer und hatte bereits ein Kind. Die Nachbarin war das letzte von 8 Kindern. Ihr Vater war Witwer und hatte bereits drei Kinder. Beide Väter waren 13 Jahre älter als die Mütter.

Aber die beiden Nachbarinnen bestehen nur auf dem einen Thema: Meine Mutter war aus dem Schlitten gefallen und die Nachbarin hat keine Erinnerungen an ihren Vater, außer jener, bei seinem Begräbnsi auf den Ofen gesetzt worden zu sein. Die Erzählung meiner Mutter ist wie ein Chor, der immer mehr anschwillt, eine Anklage an all die unfähigen Leute, die sie, 2-tägiges Baby, in den Schnee warfen UND sich anschließend ereiferten, dass sie bei der Taufe geweint hätte. Die Erzählung der Nachbarin ist ein stilles Wundern über die Tatsache, dass sie nichts von ihrem Vater erinnert, nur die Tatsache, auf einem Ofen gesessen zu sein.

Es muss sehr kalt gewesen sein.

Sie kommen ein drittes Mal darauf zurück. Meine Mutter lächelt jugendlich mit ihren dritten Zähnen. Aber sie ist stinksauer auf die Hebamme, die damals bereits 70-jährig, über meine Mutter gesagt hatte: Die lebt eh nicht lang. Zum Glück hat mir nie jemand Prophezeiungen berichtet. Die Nachbarin hät sich kichernd die Hand vor den Mund, sie weiß, dass ihre Zähne, die sie seit, naja, 86 Jahren hat, nicht schön anzusehen sind. Und sie spricht über den Ofen, auf den man sie am Tag des Begräbnisses ihres Vaters gesetzt hatte.

Ich finde die Nachbarin jugendlicher als meine Mutter. Sie geht alleine einkaufen, sie hat noch Zähne.

Meine Mutter beginnt eine lange Geschichte zu erzählen, deren Protagonist ihr Vater ist (ein Mannn, dessen Frau 13 Jahre jünger war, aber 18 Jahre vor ihm starb, was ich persönlich eine Frechheit finde),  ein Pfeifenraucher, dem man zu Weihnachten Tabak schickte, bis in sein 88. Lebensjahr, in dem er beschloss, keinen Tabak zu brauchen. Nein, er hörte nicht zu rauchen auf, er verstarb. Eh klar. Meine Mutter, im 88. Lebensjahr, möchte nun auch keine Weihnachtsgeschenke mehr. Aber meine Mutter raucht keine Pfeife.

Die Nachbarin scheint die Geschichte nur einerseits zu verstehen. "Er hat gespürt, dass er sterben wird", sagt sie mit ehrlicher Bewunderung. Sie versteht nicht, dass meine Mutter damit sagen wolte, dass auch sie, im 88. Lebensjahr, sterben wird. MUSS.

Meine Mutter ist beleidigt. Ich spüre es. Man muss sich verabschieden.
Die Nachbarin sagt: Ich hätte Sie nicht erkannt. Du schaust so jung aus. Wie alt bist Du?
Ich muss nachdenken. 54.
Ich bin mit ihrem Sohn in die Parallelklasse gegangen. Ihre Tochter war meine kleine Freundin. Ihr großer Sohn ist der beste Freund meines großen Bruders. Sie sagt: Du schaust jung aus. Das ist, weil es dir gut geht.

Meine kleine Freundin, die Tochter der Nachbarin, ist ein Jahr jünger als ich. Sie ist 53. Ich sage: Damals war sie jünger als ich. Aber heute sind wir alle gleich alt. Ja, sagt sie. Wir sind alle jung.

Sonntag, 11. Februar 2018

Die Generation der neuen Empfindsamkeit und ihre Eltern

Zumindest in Italien ist es ein Gwirx.

Vielleicht ist in meinem Herkunftsland alles gleich geblieben. Wir wollten alles, als wir jung waren. Alles, außer unsere Eltern in irgendwas zu involvieren.

Hier ist alles ein Mischmasch. Zu beobachten begonnen habe ich dies, anlässlich der großen Liebe des Fußballers zur Mutter seiner Freundin, eine tolle Person, mehr eine Freundin der Tochter, als eine Mutter.
Schon muss ich innerlich stöhnen. Eine Mutter als Freundin? Wie ungustiös. Alles, nur nicht das. Fotos von ihm, der Freundin und der Mutter werden gemacht und aufgehängt. Ich versuche, möglichst abwesend zu bleiben. Irgendwann ist es unvermeidlich. Das Verhältnis zwischen mir und der Mutter der Freundin meines Sohns bleibt kalt. Wie könnte es auch anders sein, schließlich bin ich, im Gegensatz zu ihr, seine Mutter und alles andere als seine Freundin.

Später wird er sich von der Freundin trennen, weil er mit der Mutter nicht zurecht kommt und der Freundin vorwirft, immer mit der Mutter zusammenzustecken.

Der nächste Fall ist mein großer Sohn, der nach einem extremen Auf und Ab, eine Zeit lang im selben Haus wie die Eltern seiner Freundin lebt. Große Konflikte, absolute Präsenz der Eltern. In seinen Erzählungen geht es jetzt mehr um die Eltern, als um sie.

Meine Eltern haben meine Freunde oft gar nicht gekannt. Der einzige Fall, in dem sie das taten, war mir eine Lehre. Mein Freund aß für sein Leben gerne Firn-Bonbons und noch Jahre nachdem wir uns getrennt hatten, standen die Firn-Bonbons in einer Schüssel bei meinen Eltern herum und sahen mich vorwurfsvoll wir meine Mutter an.

Der aktuelle Fall ist der des Kindes. Mein jüngster Sohn verkündet, er hätte jetzt eine Freundin. Eine wunderschöne junge Frau, die außer schön zu sein, offenbar zurückhaltend ist, was er erwähnenswert findet. Die Gelegenheit, zusammenzukommen, hat, so erzählt er, die Mutter des Mädchens gegeben. Sie nennt ihn auch "Schwiegersöhnchen".

So wie ihn die Freundin des Fußballers "mein Lieblings-Schwager" genannt hat.

Könnte ich Comix zeichnen, würde ich mich unter eine Bettdecke zeichnen, in der ich eine kleine Bombe nach der anderen anfertige. Ich habe nichts gegen die Freundinnen und Exfreundinnen meiner Söhne. A priori. Mir gehen ihre Mütter auf die Nerven.

Später wird alles auf der großen Bühne von Facebook dargestellt. Zuerst die Liebe, dann die Trennung. 5000 Freunde sind dabei. Die Mütter haben als Status ihres Whatsapp-Accounts Sprüche wie: "Ich bleibe immer an deiner Seite." Arme Töchter.

Meine Schwiegermutter (die immerhin nie versucht hat, irgendjemandes Freundin zu sein) sagt zu meinen Söhnen, dass sie noch viele Freundinnen haben werden. Aber meine Söhne wollen nur sie, die eine, die erste oder zweite, jedenfalls die große Liebe. Dann trennen sie sich und schreiben sich gefühlt 3 Nachrichten pro Minute.

Oder sie trennen sich für immer, das heißt, dass die Tochter der Mutter, die immer an ihrer Seite stehen wird, meinen Söhnen, den Brüdern des Trennungsfalls, schreibt, sie wird ihre Nummern löschen, denn sie wolle nicht mehr erinnert werden. Ist ja gut. Auch in meiner Jugend hat man Nummern ausgestrichen, Seiten aus Telefonbüchern gefetzt, ohne es irgendjemand anzukündigen. Die Vorstellung, ich stehe in einer Telefonzelle und sage zu den Geschwistern meines Exfreundes: "Ich streiche deine Nummer aus meinem Telefonbuch", erscheint mir sehr lustig.

Klar, auch vor 30 Jahren fand nicht jede Trennung ohne anschließende allgemeine Verhandlung statt. Aber die Mütter waren keine Freundinnen. Sie mischten sich ein, aber wir ließen es nicht zu. Sie dachten von einem 16-Jährigen nicht, es sei ihr kleiner oder großer Schwiegersohn.

Ich merke zusehends, dass ich etwas, was vergangen ist, positiver sehe, als die Gegenwart. Ich habe eine nostalgische Haltung, wie man sie den republikanischen Amerikanern gegenwärtig nachsagt. Ich beklage den Mangel an Privatheit, die mangelnde Robustheit in Gefühlsdingen in der Generation meiner Söhne. Die Abwesenheit eines ureigenen Lebensprojekts abseits einer bestimmten Person.

Ich glaube, dass die Freundinnen meiner Söhne, aktuell, ehemals und zukünftig, unter meiner Nonchalance leiden. Es ist ein ehrliches Desinteresse. Ich will es lieber nicht wissen. Wenn ich erfahre, welchen Blödsinn sie verzapfen - und davon ist mir einiger zu Ohren gekommen - möchte ich nicht sagen, wie dumm ich sie finde. Ich möchte nicht mit meinen Söhnen streiten müssen. Ich weiß, dass sie von mir nicht hören wollen, dass ich die Aussagen ihrer Freundinnen nicht tolerieren kann. Also will ich sie einfach nicht hören.

Die Beziehungen meiner Söhne sind, wie sie sich bis jetzt gezeigt haben, keine aufregenden, inspirierenden Begegnungen, die mit Kraft für die Zukunft aufladen, sondern mit Eifersucht und Besitzgedanken erfüllte, fieberhafte Zustände, die sich in tage- und nächtelangem Schreiben von Nachrichten entladen.
Vielleicht darf es nicht verwundern, dass meine Söhne dankbare Gefühle für die häkelnden und Lasagne-kochenden Mütter der Freundinnen hegen, welche stets um eine Schlichtung in jedem Konflikt bemüht sind.

Was ich neuerdings auch verstehe, ist, warum die Leute an Gott glauben. Es erlaubt ihnen, zu beten. Ich möchte das auch, ich möchte stundenlang beten. So intensiv, wie meine Söhne Nachrichten schreiben. Ich möchte den lieben Gott darum bitten, ihnen ein Buch zu geben. Nein, die Bücher habe ich ihnen ohnehin schon gegeben. Ich möchte den lieben Gott bitten, dass sie die Bücher lesen. Dann würden sie erkennen, dass sie nicht alleine sind. Dass viele Männer und Frauen vor ihnen gelebt haben. Dass sie aufgeschrieben haben, wie sie ihre Probleme überlebt und mitunter sogar gemeistert haben. Dass man beim Lesen eines Buchs als geringst mögliche positive Auswirkung einfach von seinem quälenden Nichtwissen abgelenkt wird.

Ich möchte vor meinem Bett knien und die Hände falten und bitten: "Lieber Gott, gib meinen Kindern Verstand und schicke ihnen, wenn es leicht geht, bitte, eine Freundin, die ihnen Mut und Selbstvertrauen gibt, die ihnen Freiheit läßt und die keine Freundin zur Mutter hat, oder zumindest eine erwachsene Frau als Mutter, die sich um ihr eigenes Leben kümmert und sich nicht in das ihrer Tochter einmischt." Oder weniger fordernd, etwas zu leisten, was mir als Mutter offenbar nicht gelungen ist: "Schick ihnen eine Freundin, die mutig ist, Selbstvertrauen hat und die nicht meint, dass man einen anderen Menschen besitzen muss, um glücklich zu sein. Mach bitte außerdem, dass auf Facebook nicht mehr öffentliche Liebeserklärungen geteilt werden, die später zurückgenommen werden müssen, sondern spannende Fortsetzungsromane, möglichst in der wilden und unberührten Natur, danke."





Dienstag, 19. Dezember 2017

Ti regalo una rosa

Mein Titel hier ist der Titel eines Liedes von Simone Cristicchi, das 2007 beim italienischen Liederfestival in San Remo gewonnen hat. Es erzählt von einem Brief, den ein alter Mann, der 54 Jahre in einem Irrenhaus lebte, an seine Geliebte geschrieben hat. Schreiben würde, geschrieben hätte, ich weiß es nicht. Eigentlich heißt es: Ti regelerò una rosa. Ich werde dir eine Rose schenken. Ich muss seit gestern dauernd an das Lied denken, es schwirrt durch meinen Kopf.

In der nun folgenden kleinen Geschichte geht es um einen Jungen, der meinem Sohn eine Rose schenkt. Mein Sohn ist der einzige Beweis für mich, dass sich die Gesellschaft in den letzten 35 Jahren weiter entwickelt hat, denn mein Sohn wusste mit 15 Jahren, wen er begehrte und was er machen wollte. Hätte ich das in seinem Alter gewusst, dann hätte ich es garantiert nicht meiner Mutter erzählt. Aber mein wunderbares Kind, Ex-Tänzer, Ex-Harfespieler, Ex-Reluctant-Fußballer ist zu einem langbeinigen Herzensbrecher mit perfekt reguliertem Gebiss (dessen Geschichte hier in zahlreichen Einträgen, die nach endlosen Fahrten in die Zahnklinik entstanden sind, nachzulesen ist) und Bartanflug geworden.

Am Sonntag fragt er mich, was ich antworten würde, wenn mir jemand ein Geschenk machen wolle und ich wolle das nicht und der andere würde wissen wollen, warum nicht. Perchè? Ich schaue lange aus dem Fenster. Ich antworte: Du könntest sagen, es bedarf keiner Geschenke.
Er gibt einen Laut zurück, der mir signalsiert, dass ich nicht den Punkt getroffen habe.
Ich versuche es noch einmal: Du könntest sagen, es gibt keinen Grund, es gibt kein Perchè, du möchtest es einfach nicht.
Komischerweise wird das akzeptiert.

Ich denke nicht weiter über diese Episode nach, ich habe mich in den letzten 2 Jahren so ausgiebig mit Ringen und Geburtstagen und stundenlangen monotonen nächtlichen Telefonaten aufhalten müssen, dass ich über jede Beziehungskrise meiner Söhne, über die ich nicht informiert werde, dankbar bin.

Aber dann steigt das Kind gestern mit einer Rose aus dem Autobus, er hält sie in der Hand und schaut unangenehm berührt. Aber er hat sie nicht weggeworfen.
Ein Junge aus seiner Schule ist zu ihm in die Klasse gekommen und hat ihm, vor allen anderen, diese riesige rote Rose geschenkt. Aber mein Sohn empfindet nichts für ihn.
Der Junge hat meinen Sohn gefragt, ob er ihn umarmen wolle. Mein Sohn antwortete, dass er ihn nur wie einen Freund umarmen könne. Daraufhin hat der Junge gesagt, dann wolle er keine Umarmung und er hatte Tränen in den Augen. Ein paar Mädels aus der Klasse haben ihn dann umarmt. Zum Trost.

Ganz abgesehen davon, dass ich mich frage, was das für öffentliche Umarmungen zwischen zwei Jungs sein sollen, die über die Freundschaft hinausgehen, rührt mich die Vorstellung, dass ein Junge, der vielleicht auch 15 oder 16 ist, einem anderen eine Rose gibt. Er muss entweder verrückt sein, oder mutig. Vielleicht hat das eine mit dem anderen zu tun.

Ich sage: Ist aber mutig von ihm, oder ist er dumm?
Nein, er ist nicht dumm, antwortet mein zerknirschter Sohn. "Was soll ich tun, wenn ich nichts spüre, wenn ich an ihn denke?"
Der Junge hat ihn am Vortag gefragt, welche CD von Taylor Swift mein Sohn nicht besitzt, um ihm diese zu kaufen. Vor meinem inneren Auge eilt ein Junge in einen Multimediastore, wie ich annehme dass die Läden heute heißen, die zu meiner Zeit Plattengeschäfte waren. Dort gibt er sein Taschengeld für eine CD von Taylor Swift aus, um meinem Sohn eine Freude zu bereiten. Warum bewegt mich dieses Vorhaben so?

Als ich noch ein Vorschulkind war, sang mir meine Mutter manchmal ein Lied vor, in dem ein junger Mann seiner Geliebten ein Edelweiß pflücken wollte, auf einen Berg stieg, abstürzte und tot war. Ich war dabei sehr ergriffen und schluchzte in die Kleiderschürze meiner Mutter. Manchmal bat ich sie sogar, mir das Lied vorzusingen, weil ich Rotz und Wasser heulen wollte.

Ich habe aber noch nie über jemand anders weinen müssen, der bei einem Bergunfall ums Leben gekommen war. Es geht um die Liebe, die uns dazu bringt, unfassbare Dinge zu tun, auf Berge zu steigen, in Plattengeschäfte zu gehen, Playlists zu gestalten, Briefe zu schreiben, Rosen zu kaufen. Sich auszuliefern, Geständnisse zu machen, sich öffentlich zu blamieren. Die Liebe macht uns mutig, anders kann es nicht sein.

P.S.: Ich habe mir überlegt, ob diese Episode aus dem Leben meines Sohns zu privat ist, um so zugänglich gemacht zu werden, aber erstens hat mich das sowieso noch nie gekümmert, weil das Private ja eh politisch ist, zumindest war das einmal so, und zweitens kennt eh niemanden die Beteiligten, und wer meinen Sohn kennt, dem hätte ich die Geschichte auch persönlich erzählt.