Sonntag, 1. November 2009

L'uomo che cammina

Seit dem Sommer fahren wir täglich zu unserem neuen Haus. Täglich sehen wir einen Mann an der Staatsstraße gehen. Der Mann passt nicht an die Staatsstraße, er passt nicht nach Kalabrien, er ist blond und er geht auf der richtigen Straßenseite. Manchmal sieht man ein wackliges Männchen am Straßenrand, manchmal einen Wallfahrer gehen, aber nie einen Mann, der systematisch, täglich zur mehr oder weniger gleichen Zeit geht. Es ist zu unserer Gewohnheit geworden, nach ihm Ausschau zu halten, ihn in dem Moment des Vorbeifahrens zu analysieren und dann lang darüber zu philosophieren, warum er da geht.
Er trägt einen Rucksack auf den Schultern und hat etwas leichtVerkommenes, aber er ist nicht genug verkommen, um ihn als Strotter abzutun. Er geht auch jeden Tag den gleichen Weg und durchquert nicht Europa. Manchmal wird er auch auf der anderen Seite gesehen, auf dem Rückweg.
Die Kinder winken ihm zu, aber er schaut nie auf uns, er schaut nie auf die Autos. Er ist immer ganz bei sich, die Finger unter die Rucksackgurten geklemmt.

Der Sommer ist vorbei. Er war lang und schwierig.

Es ist Herbst und wir fahren immer noch. Ich bringe ein Kind in die Schule, das ist nicht seine Uhrzeit. Wir haben ihn immer am späteren Vormittag gesehen, in Richtung Wallfahrtskirche gehen. Aber geht er wirklich zu dieser Kirche? Hat er ein Gelübde abgelegt, wird jemand gesund, weil er sein Leben auf der Staatsstraße riskiert? Wird ihn seine Geliebte erhören, wenn er lang genug auf und ab gegangen ist?

Schon zwei Mal habe ich abends gemeint, sein Gesicht in einem Hollywoodfilm zu sehen.
Und dann habe ich ihn wirklich wieder gesehen, eine kleine Abzweigung vom normalen Nachhauseweg von der Schule zu einem Supermarkt in der Nähe der Wallfahrtskirche nehmend.
Da geht er, schon von weitem sichtbar, juchhu! Neues Outfit, neuer Ausdruck, er kaut! Er isst!
Er geht. Das Kauen verleiht ihm einen zufriedenen Ausdruck.

In den nächsten Tagen erfüllt mich rund um die Abzweigung zum Supermarkt immer Zufriedenheit. In meiner Phantasie wohnt er auf einem Campingplatz, etwa 10 km vom Wallfahrtsort entfernt. In meiner Phantasie betrachtet er täglich die Wetterlage und begibt sich auf den Weg. Wenn ich ihm begegne, ist er auf dem Nachhauseweg. Jetzt sind die Tage kürzer, er muss seinen Tagesablauf anders anlegen.

Vor zwei Tagen hatte ich wieder einen Grund und vor allem genug Zeit, die Abzweigung zum Supermarkt zu nehmen und da war er, in einem blau-weiß gestreiften Hemd, den Blick auf den Boden geheftet und er tat etwas, was ich noch nie gesehen habe, in keinem Land der Welt. Er näherte sich einer am Sraßenrand stehenden Mülltonne, hob einen kleinen Müllsack auf, der am Boden lag und warf ihn in die Tonne. Er blickte kurz in die Tonne und ging wieder weiter. Den Blick geradeaus, nie auf die Autos schauend, immer bei sich. Er ist dünner geworden, stelle ich fest und das Kind und ich beschließen, ihm das nächste Mal ein Brötchen zu geben. Aber ich beschließe immer etwas, nachdem ich ihn gesehen habe und glaube nicht, dass ich ihn je ansprechen werde.

Ich glaube nicht, dass ich je das Gefühl haben werde, nicht banal zu sein, angesichts des Mannes, der geht. Ein Mann geht täglich vielleicht 25 Kilometer, vielleicht mehr. Er geht während des Tages, er trägt einen Rucksack. Er geht täglich dieselben 25 Kilometer. Wovon lebt er, was tut er? Niemand geht hier zu Fuß, auch wenn es kein besonders gutes öffentliches Verkehrsnetz gibt. Er will auch nicht mitgenommen werden, denn er geht immer gegen die Autos (links gehen, Gefahr sehen!).

Seit ich ihn den Müll aufheben sehen habe, denke ich, er schreibt ein Buch. Er macht einen Selbstversuch.

Meine welterfahrenen Freunde frage ich, wie sie sich den Mann, der geht, erklären, aber sie lachen nur und fragen, ob ich sicher bin, dass auch andere den Mann gehen sehen.

Mich erfüllt er auf jeden Fall mit tiefster, insgeheimster und brodelndster Freude.
Auch wenn ich ihn nicht sehe. Während dieser langen Autofahrten, bei denen das Kind einschläft oder seinen eigenen Gedanken nachhängt, schreibe ich innerlich Gedichte, die alle mit den Worten enden: Und das Herz schlug ihnen zum Hals, ach.
Und ich überlege mir, mit welchen Worten ich den Mann, der geht, ansprechen kann, denn im Grunde genommen geht er mich überhaupt nichts an und ich habe Angst, alles zu verpatzen.