Sonntag, 30. Mai 2010

was ich mag

Ich mag den Geruch meiner Wohnung, wenn ich den ganzen Tag die Fenster offen lassen kann.
Ich mag, dass mein Freund der Schriftsteller mir etwas zum Lesen schickt.
Ich mag, dass MM mir schreibt, dass ich allen fehle.
Ich mag mich, wenn ich mich im Spiegel sehe.
Ich bin froh, dass die Wäsche, die sich rot verfärbt hat, sich im Entfärberbad wieder zu Weiß entwickelt.
Ich bin froh, dass es noch einen Sonntag vor dem neuen Arbeitsbeginn gibt. Libertà.
Ich mag es, wenn sich mir bei einem Buch in der Buchhandlung die Haare auf den Unterarmen aufstellen, denn dann weiß ich, dass ich "Paula Spencer" von Roddy Doyle kaufen muss, weil ich schon "Die Frau, die gegen Türen rannte" mochte und weil ich vier Heimaten habe: home is where my heart is, dort wo meine Familie und mein Haus ist, dort, von wo ich komme und wo meine Wohnung ist und dort wo Paula Spencer lebt.
In Roddy Doyles Buch spricht Leanne in den Kühlschrank und ich erinnere mich, dass jemand meinen großen Sohn einmal aufgefordert hat, nicht mit der Seife in seiner Hand, sondern mit mir zu sprechen. Es ist immer gut,wenn jemand die Situation überblickt und es ist nicht immer jemand da, der das tut.

Samstag, 29. Mai 2010

Iguacu

Die dattilografische Familie war nicht immer nur in Italien. Einmal waren wir bei den Wasserfällen von Iguacu im Süden Brasiliens im Länderdreieck Brasilien/Paraguay/Argentinien. Als wir dort waren, war ich von der Angst gepeinigt, meine Kinder könnten ins Wasser fallen und in den gigantischen Wassermassen verschwinden. Jede einzelne Sekunde unseres Aufenthalts hatte ich Angst. Wenn wir weit genug vom Wasser waren, befürchtete ich, die Kinder könnten aus dem offenen Stockautobus stürzen, wenn wir in irgendwelchen Schlangen anstanden, war ich davon überzeugt, die Kinder gingen verloren oder würden entführt. Selbst etwas von den größten Wasserfällen der Erde entfernt, in der kleinen Stadt Foz do Iguacu hatte ich keinen Moment Frieden, denn auch hier drohten mannigfaltige Gefahren, Kinder, die sich im Dunkel verlieren, Kinder, die in den Löchern im unregelmäßigen Pflaster straucheln und hinfallen, Kinder, die im schlimmsten Fall in diesen Löchern für immer verschwinden.
MM hat während meiner mehrtägigen Panikattacke tausende wunderbare Photos gemacht, von denen ich auf keinem einzigen zu sehen bin, die Angst scheint mich weggezaubert zu haben. Annulliert, annihiliert, falls es dieses Wort gibt.

Im Rückblick betrachtet, handelt es sich jedoch um einige der schönsten Tage meines Lebens.

Ich denke nicht: ach, hätte ich mich doch nicht so gefürchtet, ich kann im Nachhinein diese Gefühle wegdenken, sie wie in computergesteuerter Postproduktion bereinigen. Ich denke nicht, ich hätte diese Reise mehr genießen sollen, im Hinterherdenken genieße ich sie. Meine Ängste von damals sind reale Ängste und wertvolle Ängste. Heute wache ich in einem nassgeschwitzten Pyjama auf und habe Ängste wegen meiner Arbeit. Komischerweise habe ich keinen nassgeschwitzten Pyjama, weil ich den Rest meines Lebens Schulden wegen dem Haus haben werde. Ich möchte das Haus umarmen mit langen, sehr langen Armen. Ich möchte den Garten umarmen.

Jeden Tag versuche ich, meine Arbeit zu lieben. Jeden Tag passiert etwas, das mir wie ein Knüppel in die Kniekehlen schlägt und all meine kunstfertig gepflegte kleine Liebe springt davon. Weil ich nicht weiß, wie ich ich sein kann.

Ich wünsche mich ins rosa Zimmer zurück, mit schrecklichen Dingen, die ich dort schreiben muss, mit vier Maurern und drei Elektrikern und zwei Installateuren, die mich am Arbeiten hindern wollen. Lärm ist vergleichsweise harmlos gegen den Druck, unter dem wir bei unserer Arbeit stehen und wir sind wohlgemerkt kein Chirurgenteam. Der Druck hat zum Teil mit Ökonomie und zum anderen Teil mit Psychopathologie zu tun und es ist nicht weiter erstaunlich, dass viele in meinem Berufsbereich nach einiger Zeit Masseure werden wollen, Krankenschwestern oder Altenpfleger.

Während ich in Italien jeden Einkauf als Zeit- und Nervenverschwendung empfinde, gebärde ich mich in einer zweistündigen Phase vor Arbeitsbeginn als Impulskäuferin, kaufe die teuersten Schuhe meines Lebens (obwohl doch Frau Obermaurer mein Gehalt bekommen sollte), denke über den Begriff "feel good" nach und will lieber eine Massage als einen Liebhaber. Das bin nicht ich.

Aber heute hat jemand mit mir gemeinsam einen Kampf gefochten, den wir gewonnen haben und der mich nur an ein Sprichwort denken läßt, das sicher nicht zuvorderst in meinem Wortschatz steht: den wahren Freund erkennt man in der Not. Wow!

Hier beginnen die Vögel beeits wieder zu zwitschern und ich preise die Erfindung von Oropax. (Oder heißt es Ohropax?) Ich preise die Tatsache, in meinem eigenen Bett zu schlafen, auch wenn es sozusagen das Zweitbett ist. Ich preise das Wochenende und den morgigen/heutigen Tag, der mir die Aufnahme eines chinesischen Satzes und hopefully ein Treffen mit meinem ehemaligen Freund bescheren wird.

Ich denke, ich bin eine Schnecke, die ihr Haus auf dem Rücken mit sich führt, eine Schnecke, die eigentlich auf einem Hügel hoch über dem Meer lebt und sich in die Ebene verirrt hat.
Und ich denke an den gehenden Mann und ich komme wieder auf die Frage zurück, die mir meine welterfahrenen Freunde gestellt haben: bist du sicher, dass nicht nur du ihn siehst, hahahaha? Natürlich sehe nicht nur ich ihn, aber vielleicht sehe ich ihn deshalb so oft und so fest, weil ein Teil von ihm ich bin, weil wir beide immer auf dieser SS 18 auf und ab gehen und nachts (vermutlich) in einem Zelt schlafen.

Freitag, 28. Mai 2010

was mir fehlt

Mir fehlt mein Blick aufs Meer, verstellt vom Oleander im alten Haus, mir fehlt der Blick aufs Meer, verstellt von einer Eiche im neuen Haus.
Mir fehlen die Kinder, der Kleine, der verständnisvoll antwortet: Ich geb dir meine Brüder, wenn ich sage: ich wollte dich nur kurz grüßen, ich arbeite; der Mittlere, der sagt: Ciao Mamma, ciaociaociao; und der Große, der mit rauchiger Stimme sagt, "Ja, Mamma!", wenn ich sage: in einer Woche komm ich wieder.
Mir fehlt die theatralische Aufregung der Italiener, die mir keine Angst macht, im Gegensatz zu der manchmal beunruhigenden Aufregung der Menschen, mit denen ich meine Muttersprache teile.
Mir fehlt selbstverständlich der Mann, der geht, denn hier gibt es keine gehenden Männer, hier gibt es wenig interessante Männer, eigentlich überhaupt wenig Männer.
Mir fehlt, dass endlich einmal einer sagt: Mach dir keine Sorgen, das machen wir schon. Auch wenn das in Italien heißt: Machen sie sich keine Sorgen, rufen sie in zwei Wochen wieder an.
Mir fehlt MM, der sagt: Ich bitte dich, sag: Signorsi, mach es wie Terence Hill, der sich auch immer als Trottel ausgibt. Es geht vorbei. (Meine Freundin hier fragt, warum ich mich nicht besser abgrenzen kann...)
Mir fehlt mein Familienleben, mein Autoradio, mein rosa Zimmer, in dem ich schreibe, die Bar "Lo scoglio", in deren Nähe es einen echten Felsen im Meer gibt, mir fehlt unsere Babysitterin, die bald in einer Ferienkolonie am Meer arbeiten wird, in die man seine Kinder um acht Uhr morgens bringen kann und um drei wieder abholen, wenn sie nach einem Vormittag am Meer todmüde sind. Denn wie soll man sonst 13 Wochen Ferien hinter sich bringen? Während ich in deutschsprachiger Zone noch kein einziges kurzärmeliges Hemd gebraucht habe, muss MM sich fragen, ob er unseren kleinen Sohn nächste Woche überhaupt noch in die Schule schickt, da in der Woche vor den Ferien (ja, Ferien, Sommerferien), nur noch wenige Kinder (die mit den grauslichen berufstätigen Eltern) in die Schule gehen.
Mir fehlt die Gartenschere mit den blauen Griffen, mir fehlt der Küchenkasten mit der vielen De Cecco Pasta drin, mir fehlt das Basilikum, das MM bereits gepflanzt hat.
Mir fehlt der schwebende Friede im Haus, wenn alle Kinder schlafen.
Mir fehlt die Phantasie. Mir fehlt die Kraft.
Mir fehlt, dass ich auf der Terrasse die Augen zusammenkneifen muss, wenn ich die Wäsche aufhänge, oder eine Sonnenbrille aufsetzen muss. Mir fehlt der Platz mit der spektakulären Aussicht aufs Meer im Ort, in dem ich die Tickets für die Mensa meiner Kinder kaufe, und in dessen Bar ich mich regelmäßig ärgere, dass mein großer Sohn sich immer das teuerste Eis aussucht. Mir fehlt, mich über meinen großen Sohn zu ärgern. Ich hoffe, dass es meinem großen Sohn auch fehlt, sich über mich zu ärgern.
Mir fehlt die Abzweigung von der größeren Nebenstraße auf unsere kleinere Nebenstraße, im Schatten der Olivenbäume. Mir fehlen die Berge hinter dem Kopf. Mir fehlt der bunte Markt am Samstag vormittag in unserem neuen Ort, dort, wo ich eine Buchhandlung eröffnen will, mit meinen Kindern, die sich ernsthaft bereit erklärt haben: Wir helfen dir Mamma, wir ordnen die Bücher ein. MM fragt sich, warum ich nichts mehr verdienen will.
Mir fehlen die Bahnstationen mittags, wenn es heiß ist, und man auf Züge wartet, die schäbig sind, weil wir im Süden wohl nichts anderes verdienen.
Mir fehlt das Bedürfnis, mich mit der italienischen Regierung anlegen zu wollen, statt mit meinen Arbeitskollegen.

Sonntag, 16. Mai 2010

out italy

steht auf dem Plastikband auf meinem Koffer. Unglaublicherweise bin ich wieder in den deutschsprachigen Raum zurückgekehrt und meinen Koffer hab ich auch. Lust zu arbeiten habe ich keine.

Selten habe ich Italien so geliebt, wie bei diesem intensiven Kurzbesuch. Selten habe ich so wenig Zeit gehabt, mit MM zu sprechen, wie in diesen Tagen. Er hat die Zeit meiner Anwesenheit genutzt, um selbst zu arbeiten. Ich gestehe, dass ich von drei Mal Kinder abholen zwei Mal zu spät gekommen bin, einmal, weil ich die Zeitabläufe nicht mehr einschätzen konnte und zu spät aus dem rosa Zimmer geeilt bin, einmal weil vergessen hatte, dass die Schule am Samstag um 12:45 endet und nicht um 13 Uhr. Auweia. Da alle Lehrer noch versammelt waren und mich fragten, wie es mir gehe, während meine Kinder enthusiastisch endlich ins Auto springen konnten, fragte ich auch höflich, wie es der Schule gehe. "Wir verteidigen uns", sagte der Mathematiklehrer, Maestro Michele. Das hat mir gefallen. Die Mathematiklehrerin hat mein Sohn, der zukünftige Rallyefahrer, in einer der unzähligen von ihm getätigten Personenbschreibungen mit ebenso violetten Haaren wie Kleidern beschrieben, womit er völlig recht hatte, wie ich feststellen konnte. Eine attraktive Frau, ich neige dazu, sie zu bewundern. Aus der Ferne. Aus der Nähe betrachtet das alles MM und ist am Rande des Amoklaufs. Vater mit Pumpgun in Schule. Motiv: wiederholte Änderung des Stundenplans für den Nachmittagsunterricht ohne Vorankündigung.

Unser Haus, unsere Baustelle hat immer noch einen erotischen Effekt auf mich. Ich stehe vor den riesigen Fensterflächen und alles ist ganz still. Keine Maurer hämmern, man hört nur die Vögel zwitschern, den Fluss rauschen und meinen Atem. Ich höre mich schnaufen, so unglaublich finde ich diese Neuigkeit. Ich bin zutiefst zufrieden darüber, dass ich das alles noch so mag. Im rosa Zimmer ist es fast dampfig heiß und es scheint schon ganz lange her, dass ich dort in der Winterjacke mit der Mütze auf dem Kopf schrieb, der Obermaurer an der Tür klopfte und irgendwelche Auskünfte bezüglich Badewannen wollte.

Mit Stefanos Hilfe ist ein respektabler Gemüsegarten entstanden, ich knipse etwa zehn Kürbisblüten ab und denke, das habe ich doch eben erst getan, mit den letzten, im November, und jetzt sind die ersten Blüten schon wieder da, ist der Winter wirklich vorbei?

Am Donnerstag fahre ich viel mit dem Auto hin und her und meine Nervosität wächst, denn einer fehlt zum Appell - wo ist der gehende Mann? Ich fühle mich verlassen, so als hätte man den halben Ort, den ich so mag, weggesprengt, als würde es nun für immer regnen auf meiner Straße. Es ist klar, dass er nicht ein Jahr lang gehen kann, rede ich mir ein, es wird etwas anderes kommen.
Am Freitag nachmittag, als ich (zu spät) mit dem Kind auf dem Rücksitz von einer Schule zur anderen fahre, sehe ich ihn schon von weitem, wie eine bekannte Fata Morgana: er setzt sich eben an einen Tisch einer Bar am Straßenrand. Nicht der schönste aller Orte, aber es scheint sich um seine Stammkneipe zu handeln, denn dort habe ich ihn schon öfter gesehen. Er ist ganz in schwarz gekleidet und auf eine Art privat, ohne Jacke und ohne Rucksack. Tiefe Zufriedenheit breitet sich in meiner Brust aus, wie eine warme Flüssigkeit. Ich bin beruhigt, die Grundfesten meines Lebens sind vorhanden. Meine Kinder sind gesund und lachen viel, mein Auto funktioniert, unser Haus steht noch und im Garten wachsen etwa hundert Pflanzen Lattugasalat. Der Schnittlauch ist wieder aufgetaucht. Und am Tag meiner Abreise leisten MM und ich uns den Luxus, beim Frühstück miteinander zu sprechen. Seine Arbeit zu kennen, meint MM, sei etwas anderes, als sie zu können. Wer gut arbeite, erneuere die Arbeit ständig. Schön formuliert. Eine halbe Stunde später schreie ich ihn aber bereits an, denn ich schaffe es nicht, ein Dokument auszudrucken, weil mein Computer anders (für die Arbeit, grrr!) eingestellt wurde und MM findet, ich soll das lassen und ich finde, er soll mich nicht schlecht behandeln. Ich habe drei Minuten Zeit zu duschen, weil meine Kinder sich freundlicherweise in der Küche die Zähne putzen. Das alles wird in unserem neuen Haus mit den drei Badezimmern nicht passieren. Auch wenn wir nach einem Kostenstand einsehen müssen, dass wir das begehrteste Element aller Erneuerungen weiterhin entbehren werden: wenn wir im nächsten halben Jahr auch essen wollen, werden wir auf den Holzboden verzichten. Ich sehe mich heldinnenhaft überall Fleckerteppiche auflegen. Es ist mir egal, dann muss ich mich wenigstens nicht vor Housewarmingpartys und Kinderfesten fürchten, bei denen Chips in den nagelneuen Boden eingetreten werden. Und wenn wir uns dann den Holzboden leisten können, machen wir das Holzbodeneinweihungsfest und rutschen alle mit Filzpatschen herum.

Dienstag, 11. Mai 2010

nach Hause telefonieren

Wenn ich das Mobiltelefon von MM anwähle, dann kann es passieren, dass gleich mein kleiner Sohn dran ist. "Mamma!" sagt er weinerlich mild, "mi manchi tanto!" "Du mir auch, mein Schatz, aber in 9,7,6,5, je nachdem Tagen komme ich. " Dann muss er Tage zählen, was lange dauert, zu lange, also sagt er: "Kann ich dir was vorsingen?" "Klar!" sage ich. Er beginnt, hält inne. "Kannst du am Ende applaudieren?" "Ja, sicher." Dann singt der achtjährige Knabe mit Inbrunst ein Lied, bei dem es um Eifersucht und Einsicht geht. Dazwischen gibt es eine Pause (in der man bitte nicht fälschlich klatschen soll) und dann kommt: esplode il cuore, distante anni luce fuori da me. Diesen Teil hab ich immer schon merkwürdig gefunden, die Vorstellung, dass ein Herz explodiert - das finde ich nicht schön. Aber das Kind singt schön und dann applaudiere ich. Das Telefon wird augenblicklich an einen großen Bruder weitergegeben. Aber der eine kann nicht, der wäscht ein Auto, also der Rallyefahrer (außer Atem): Ciao Mammina!
D: Ciao Amore, was machst du?
R: Ich spiele Samurai!
D: Mit wem?
R: Alleine.
D: Womit?
R: Mit dem Schwert von Zorro, das du mir gekauft hast.
D: denkt: armes Kind, er bräuchte ein Samuraischwert, mit dem Plastikzeug kann er doch kein Samurai sein. Sagt: Aha.

Dattilografa und der Rallyefahrer sprechen über das nicht angekommene Geschenk der Großmutter und die Pasta al forno, die der Papa kocht (in den Ofen schiebt, die hat nämlich Nonna gebracht), in aufzuckender Eifersucht stelle ich mir vor, wie MM ALLEINE Teigmuscheln mit Ricotta und Spinat füllt, unser gemeinsames Sonntagsvergnügen, bei dem wir uns in Gleichklang bringen und uns wie Marathonläufer fühlen, wenn wir zwei riesige Pfannen vollfüllen. Ich glaube, am besten gefällt MM an unserer üppigen Familie, dass man immer viel kochen kann.

Dann kommt der Autowäscher, der sich ein bisschen wie Jesus vorkommt und beide Autos vom Wüstensand befreit hat. Kurz angebunden am Telefon wie immer. Mir schwant Böses. Sicher Pubertätsschübe. Hoffentlich reg ich mich nicht gleich nach meiner Ankunft auf.

Meine vorübergehende Heimkehr steht unmittelbar bevor, das merke ich daran, dass meine Aufmerksamkeit wieder normale Dimensionen annimmt und ich nicht ausschließlich mit dem Überleben beschäftigt bin.
Heute morgen beim Frühstück konnte ich im Hotel dem Gespräch einer Damenrunde lauschen. Sie sprechen italienisch, aber ich glaube nicht alle Damen sind echte Italienerinnen. Eine laute Stimme fragt: Hast du die Menstruation? Meine Teetasse bleibt in der Luft stehen. Wie bitte? Ich meine, ob du noch menstruierst oder ob du Hormontabletten nehmen musst. Mauschel mauschel mauschel, dann wieder die laute Stimme: Aber die machen doch Krebs! Mir sinkt der Mut.
Ich will ja nicht neugierig sein, sagt die mit der lauten Stimme, aber...in diesem Moment kommt der wichtigste Mann meiner Arbeit und stört meine Tätigkeit als Belauscherin. Beim Rausgehen werfe ich einen raschen Blick auf die Damen. Vielleicht besuchen sie ja einen Konversationskurs zu aktuellen Themen. Ich würde nie einen Satz sagen, wie: ich will ja nicht neugierig sein. Ich bin wahnsinnig neugierig und es fällt mir schwer, keine Fragen in belauschte Gespräche einzuwerfen.

Samstag, 8. Mai 2010

Famous blue raincoat

Nach zehn Stunden Schlaf und erfreulich entspannten Träumen, in denen ich endlich genug Zeit zum Arbeiten habe und meine Nase an der Wange des einzigen Kollegen, den ich bewundere reibe, betrachte ich im Spiegel, während ich meine Fingernägel feile, meine Zähne. Ich denke, dass ich nach dieser Arbeit zur Zahnhygiene gehen werde. Ich denke an die Zahnklinik mit dem Blick aufs Meer und die Insel aus dem Behandlungsstuhl. Ich denke an die Bar, in der ich auf dem Rückweg aus der Zahnklinik einen Aperitif einnehmen werde. Alles ist sonnenbeschienen, fast klebt das Hemd schon auf der Haut, aber eine leichte Brise vom Meer bringt Kühlung. Vielleicht nehme ich die Kinder mit, denn es werden Ferien sein und ich spüre, wie meine Finger ein wenig zusammenkleben vom mit dem Taschentuch aus dem Gesicht gewischten Eis. Ich sehe blau wie Meer und weiß, wie von der Sonne beschienenes Hemd und grün wie das T-shirt meines Sohns. "Deep in the south" steht über meinen Gedanken. Da fällt mir Leonard Cohens Lied "Famous blue raincoat" ein: I hear that you're building your little house - deep in the desert. Früher habe ich dieses Lied immer in der Version von Jennifer Warnes gehört und ich war sie, die mit Pathos Frieden mit einem ihm schließt: I'm glad, that you stood in my way. Wenn Leonard Cohen singt, kenn ich mich nicht mehr ganz aus. Ein Mann ist weggegangen und baut sich ein Haus in der Wüste, hinter sich hat er einen Haufen Chaos hinterlassen (Jane, die Frau vom Sänger, hat er nämlich allein, nur mit einer Haarlocke von sich zurückgelassen, that night when he planned to go clear - ein Mann, der weggeht, um sich über etwas klar zu werden und nie mehr wieder kommt). Jetzt schließt Leonard Cohen mit dem weggegangenen Mann Frieden (my killer, my brother) und die einen wohnen in Clinton Street, New York, der andere eben in der Wüste. Heute morgen, mit dem Blick auf meinen zahnhygienebedürftigen Unterkiefer kommt mir die Erleuchtung, dass ich ER bin, keineswegs die verlassene Frau, die sich aussöhnt, ich bin der mit dem berühmten blauen Regenmantel über der Schulter, der in die Wüste gegangen ist. Wow! Seine Reputation ist zwar nicht gerade nicht die beste (you treated some woman like a flake of your life), aber dass er so bedürfnislos in die Wüste geht, mit einer Rose zwischen den Zähnen und Locken von sich herschenkt... Es macht auch nichts, dass Leonard oder Jennifer singt: "The last time we saw you, you looked so much older." Wen wundert's?

Meine Kinder werden heute von ihrer Tante von der Schule abgeholt, der Kleine, der samstags keine Schule hat, durfte mit ihr in die Schule gehen. Meine Schwägerin ist Religionslehrerin. Die Kluft zwischen uns und ihrem vatikantreuen Stil ist unüberwindbar, breiter als der Stretto di Messina, da könnte nicht mal Berlusconi eine Brücke drüber bauen, auch keine Fähren fahren langsam von einem Ufer zum anderen. Aber MM kann unbehelligt auf unserer Baustelle arbeiten, in unserem Haus, das - und das ist ein Grund, eine Flasche Prosecco zu entkorken - seit gestern Fenster hat!

Mittwoch, 5. Mai 2010

Stille Post

Am Ende dieses zur Hälfte allein verbrachten Tages - wie schön, endlich allein sein! - habe ich Lust, jemandem etwas ins Ohr zu flüstern. Das erstaunt mich sehr, denn ich habe nämlich gar nichts zu sagen. Ich würde also einfach meine Lippen nahe an das Ohr eines anderen Menschen bringen und leise machen: schwschwschwschwschwschww. Ich würde seine Haare an meiner Nase kitzeln spüren und ich würde mir vorstellen, wie mein warmer Atem an sein Ohr dringt und ihm der Kitzel am Hals den Kopf gegen die Schulter drücken lässt. Und er kichern muss. Vielleicht würde er meinem wortlosen Flüstern einen Sinn abringen, so wie beim Stille-Post-Spiel. Er würde eine lange Geschichte hören, die keiner erzählen kann, und die wir alle gerne hören würden. Erst auf einer Holzbank sitzend, an die Wand gelehnt, ein Bein hochgestellt und lachend, dann schlafend und die Geschichte geht weiter, sein/mein/ihr/dein Kopf in meinem/seinem/deinem/ihrem Schoß. Und ein Teil der Geschichte spielt im nächtlichen Wald, damit wir ein wenig erschauern und froh sind, im Warmem und im Licht zu sein.

Dienstag, 4. Mai 2010

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Wie lange ist es her, seit mir mein Freund, der Schriftsteller, dieses Buch ans Herz gelegt hat? Zwanzig Jahre? Gelesen habe ich es vor vier Jahren mit Inbrunst und einem Gips am Unterschenkel. Ein Achillessehnenriss, zwei Monate Gips, 70 Antithrombosespritzen und anschließend zwei Monate Physiotherapie - dann schon mit hundert Jahre Einsamkeit in der Tasche. Schuld war ein ausgelassener Sprung bei "Help me Rhonda" von den Beach Boys. Zwischen der Liebe in den Zeiten der Cholera und den hundert Jahre Einsamkeit lagen ehrlicherweise ein paar Wallandergeschichten. Den kurz danach entstandenen Film "Die Liebe in den Zeiten der Cholera" habe ich mir nicht angeschaut und ich hoffe, es wird mir nie zufällig passieren.

Warum fällt mir das ein? Weil ich einen Moment normales Leben lebe, das heißt, Zeit habe, zu erkennen. Nach 17 Arbeitstagen ohne Unterbrechung mit wenigen Stunden Schlaf liegt ein Tag abseits der Routine vor mir, eingeleitet von der Fahrt im Regen mit einem sportlichen BMW, den meine Kinder lieben würden. Ich denke an die Liebe in den Zeiten der Cholera, weil es darum geht, auszuhalten und weil es um die Libido geht, die Kraft, die es uns erlaubt, auszuhalten. In meiner Arbeit bin ich on the edge. Heute morgen stehe ich nach dem zweiten Mal vier Stunden Schlaf vor dem Spiegel und ich möchte heulen. Wozu das alles? Ich rette hier kein Menschenleben. Und ich liebe meine Arbeit nicht und auch keinen Menschen, der damit verbunden ist. Aber etwas Anarchisches schleicht sich ein, ich tue, was ich tun muss und es ist okay. Eine Frau, mit der ich ein paar Tage gearbeitet habe, schreibt: Danke für deine Freundlichkeit und deine Engelsgeduld. Ist das die Geduld von Florentino Ariza, während derer ihm langsam die Zähne ausfallen?

Als ich im geborgten Sport-BMW durch den Regen fahre kommt die Lösung wie so oft aus dem Autoradio. Heute von Tina Turner: I'm your private dancer, I dance all for money, I do what you want me to do.

Der Rallyefahrer ist heute elf Jahre geworden und es ist mir erst um halb neun Uhr abends eingefallen. Gerade noch rechtzeitig. MM hat es geschafft, 1600km entfernt, eine Torte zu backen. MM is a star, er zeigt den Kindern lustige Videos auf youtube und der kleine Sohn singt schon seit längerer Zeit nur noch ins Telefon. Er singt meine Lieblingslieder (Noemi, per tutta la vita zum Beispiel)von Anfang bis Ende und perfekt. Dann sagt er: Ich geb dir Papa.