Samstag, 15. März 2014

Mein Weisheitszahn

Natürlich bäumt sich der Weisheitszahn nicht mehr auf, seit im Gespräch ist, ihn aus meinem Kiefer herauszuoperieren. Dort schlummert er seit ewigen Zeiten wie ein Vulkan. Über ihm hat man mir einen Zahn gerissen, als ich 17 war. Vielleicht hätte man damals schon an den Dicken denken sollen, der möglicherweise darunter rumorte. Vor zwei Jahren nun den nächsten Zahn dahinter und jetzt reicht's, jetzt muss dort eine Eisenstange rein und ein Keramikzahn und vorher muss der Dente del giudizio raus, das haben jetzt die Experten nach Betrachtung und Auswertung aller futuristischen Panoramabilder meines Gebisses einstimmig beschlossen. "Sind sie nun vorbereitet, ich meine psychologisch?" fragt mich die Assistentin in der Klinik, in der auch das Gebiss des Kindes mit Metallfäden in die richtige Form gebracht wird. "Nein." sage ich und sie lacht (etwas gequält). Sie kennt mich nun schon lange und sie würde wahrscheinlich sagen: Die Signora ist sehr gewissenhaft, um nicht zu sagen: die Signora ist hysterisch. Nein, ich bin nicht vorbereitet, zumindest nicht psychologisch, aber heute habe ich viele Untersuchungen gemacht und dabei wirklich interessante Menschen kennengelernt.
In dieser Klinik lächeln alle immer. Anfänglich denkt man, die Menschen finden einen sympathisch, eventuell vielleicht sogar witzig, aber dann merkt man, dass sie diesen heiteren Ausdruck nie verlieren. Meglio così, besser so, wie viele Kalabresen auf Vieles sagen. Unverhofft wird mir ein Elektrokardiogramm gemacht und ich darf mich auf eine Liege legen, worauf ich fast einschlafe, dennoch scheinen meine Herzwerte nicht erschreckend ruhig. Dann wird mir der Blutdruck gemessen und ich weiß, dass mir später noch Blut abgenommen werden soll.
Ein Mann ruft mich mit meinem Vornamen, weil er meinen Nachnamen nicht aussprechen kann. Der Mann ist riesig und seine Haarpracht ist so weiß wie seine Arbeitskleidung. Er lächelt milde. Mit einem Auge schaut er mich an, mit dem anderen auf die Wand links neben mir. Ich hoffe, er will mir nicht Blut abnehmen. Nein, er will mit mir sprechen. Er hat einen großen Ordner mit Papier vor sich und beginnt bedächtig meinen, für ihn seltsamen Nachnamen zu schreiben. Dabei lächelt er dieses beruhigende Lächeln, als hätte er mich lieb. Er wirkt wie ein zufriedenes riesiges blondes Baby. Ein paar Minuten, nachdem er mein Geburtsdatum aufschreibt, vertraut er mir an, dass er ein Jahr älter ist als ich, aber er fühle sich nicht alt. Er gehe tanzen. "Sehr gut!" sage ich. Nein, ich frage nicht, wann und wo, ich will auch nicht aufspringen und einen wilden Discodance beginnen. Ich habe noch nicht gefrühstückt und bin seit zwei Stunden unterwegs. Er freut sich, aber er wirkt ein wenig beunruhigt, vielleicht bin ich doch nicht enthusiastisch genug. Er wiederholt, dass er sich jung fühlt und dass er auch mit einer 30-jährigen Freundin gut auskommen würde. Unwillkürlich schaue ich auf seine Hände. Abgebissene Fingernägel, kein Ring. "In letzter Zeit habe ich mich ein wenig gehen lassen", sagt er und streicht sich über das Haar, als ginge es darum, dass er schon länger nicht beim Frisör war. Er macht eine Geste, als wäre er ein Frosch, der sich aufbläht. Er will wohl sagen, dass er zugenommen hat, ich sage: "Eh va be." und das kann man nun interpretieren wie man will: das ist doch nicht schlimm, es gibt viel dickere Leute als sie, oder: mich stört das nicht, oder: nehmen wir nicht alle irgendwann zu usw. Eigentlich würde ich gerne sagen: sie können ja laufen gehen, aber ich weiß, das ist mein eigener Wahn im Moment und ich kann nicht wie ein Zeuge Jehovas des Laufens die Leute bekehren. Zumal meine neu gestartete Laufkarriere nicht einmal zwei Wochen alt ist, aber offenbar so viele Endorphine frei gesetzt hat, dass ich glaube, ICH bin die 30-jährige potenzielle Freundin. Er sagt mir auch, wo er wohnt. Ich sage: "Da haben sie aber einen langen Weg zur Arbeit." Daraufhin erklärt er mir, dass er diesen Job allein bekommen hat, ohne Protektion, er habe nämlich etwas studiert (möglicherweise Arzt?) und dann die Krankenpflegerausbildung gemacht und dann hier vorgesprochen und sei angestellt worden. In einer anderen Gesellschaft wäre das irgendwie klar, aber möglicherweise ist seine Situation wirklich einzigartig. "Sono un uomo libero." Ich bin ein freier Mann, sagt er. Was mich aufrichtig ergreift. "Das ist ein Wert" sage ich.
Nun beginnt er aber über Ärzte zu schimpfen, die nämlich alle nur durch Protektion zu dem gekommen seien, was sie machen und mein Herz sinkt. Alle guten Ärzte aus Kalabrien seien in den Norden gegangen, alles was hier ist, na reden wir lieber nicht darüber. Oh mein Gott. Und von so einem, über den man lieber nichts redet, soll ich mir meinen Weisheitszahn aus dem Kiefer stemmen lassen? Das Riesenbaby ereifert sich: "Die Leute glauben, wenn einer einen Hochschulabschluss hat, ist er Arzt, aber ein Hochschulabschluss sagt noch gar nichts." Einiges von dem, was er sagt, verstehe ich kaum, ich glaube, es ist der Eifer, der ihn zum Übersprudeln bringt. Ich bin froh, als er sagt: "Ich muss sie das fragen: Gehen sie regelmäßig aufs Klo, oder leiden sie unter Verstopfung?" "Regelmäßig", sage ich trocken und bin sehr stolz auf mich. "Auch was die Diurese betrifft?" Gut, dass wir nun über die essenziellen Dinge des Lebens reden und dann sagt er zu mir: "Sie können gehen."
Die Krankenschwester, die mir Blut abnehmen soll, ist auch sehr freundlich und lächelt. "Jetzt sagen sie mir einmal: woher kommen sie?" Ich gebe ihr eine Antwort und sie sagt: "Aber zwischen hier und dort liegen doch Untiefen." Mir ist das immer peinlich, wenn jemand meine Heimat lobt. Und sagt, dass alle dorthin wollen. Das gibt mir das Gefühl, erstens bescheuert zu sein und zweitens ein Versager, eine Art ins Exil geschobener Mensch. "Sie sind wegen der Liebe hier, stimmt's?" Das klingt auch wieder komisch. "Sagen wir ja." sage ich, was mich gleich noch verdächtiger macht. Freundlich lächelnd schreibt sie sorgfältig meinen Namen auf drei Phiolen und dann jagt sie eine Nadel in meine Vene und fragt mich, ob es weh tut, was anfänglich nicht der Fall ist. Ich schaue aus dem Fenster auf diesen wunderbaren Teil der Küste des Tyrrhenischen Meers, auf die Insel, die heute pastellfarben erscheint, wie alles. Ich sage: "Viele Leute in meiner Heimat würden sie um die Lage ihres Arbeitsplatzes beneiden." Sie sagt: "Es ist das Panorama, das wir hier in Kalabrien haben. Sonst kann Kalabrien nicht viel bieten. Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich Arbeit habe, aber es gibt so viele Menschen, die ihre Arbeit verloren haben." Das und die Nadel in meinem Arm geben mir den Rest, ich finde die Frau nicht mehr nett. Bevor ich meinen vermeintlich letzten Atemzug tue, befreit sie mich und sagt, ich kann jetzt frühstücken. Ich glaube, ich will gar nicht mehr frühstücken.
Auf dem Gang steht ein Kaffeeautomat und einer mit Snacks, aber die Schnitten und KitKat die sich in diesem Kasten befinden, kann ich aufgrund mangelnder Phantasie, Begabung oder Geschicklichkeit nicht aus dem Automaten holen und ich gebe mich mit einem sogenannten Capuciokk zufrieden, sehr zufrieden. Auf dem Gang wartet eine junge Frau, die eine Jacke mit Leopardenmuster trägt, eine Tasche mit Leopardenmuster und wie ich sehe, nachdem ich sie ausgiebig betrachtet habe, auch ein T-Shirt mit Leopardenmuster. Mit seinem milden Lächeln ruft sie mein Freund, das Riesenbaby in sein Zimmerchen mit Blick aufs Meer. Sicherlich wird er sich an dieser jungen Raubtierfrau erfreuen.
Anschließend unterhalte ich mich mit einer Zahnärztin, die sagt: "Na sie haben aber einen Weisheitszahn!", was mich denken lässt, dass mein Kiefer vielleicht zusammenbricht, wenn mir dieser offenbar überdimensionierte Zahn entfernt wird. Wir machen einen Termin aus und sie sagt, ich soll einen Trainingsanzug oder einen Pyjama mitbringen. Ich unterschreibe einen Zettel, dass ich über den Eingriff aufgeklärt wurde.
Dann wird mir noch ein Panoramaröntgen vom Kiefer gemacht. Hoffentlich passt mein riesiger Weisheitszahn auf dieses kleine Bild. Zwei andere Personen müssen auch ein Röntgenbild machen, einer ist ein Mann mit einem Piercing über der Augenbraue und in der Nase, die er allerdings nicht entfernen muss. Ich meine Ohrringe schon, das verstehe ich nicht. Es ist mir aber auch egal.
Danach habe ich ein kurzes Treffen mit einem praktischen Arzt. Da ich ja nun erfahren habe, dass alle Ärzte nur durch Protektion zu ihrem Arbeitsplatz gekommen sind bin ich sehr skeptisch und als er eine auffordernde Geste macht, rufe ich entsetzt: "Was wollen sie?" Er will meinen Puls fühlen.
Abschließend kontrolliert eine andere Krankenschwester freundlich all diese Papiere, all diese Unterschriften die ich geleistet habe. Ich hoffe, ich habe mich nirgends verpflichtet, in Zukunft auf meinen Weisheitszahn zu verzichten und der sofortigen Entnahme desselben zugestimmt, denn ich glaube, dass meine psychologische Vorbereitung für diesen "Interventino", wie die Dentistin verharmlosend sagt, für dieses Eingrifflein also, sehr zu wünschen übrig lässt.

Freitag, 7. März 2014

CSI Calabria, Folge 2: Hühner

Seit ein paar Tagen legen die Hennen keine Eier, eines oder maximal zwei. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich bereit, jedes erdenkliche Loblied auf die Hennen zu singen. Ja wirklich, oft hatte ich das uralte Lied: "Ich wollt ich wär ein Huhn" im Kopf, wenn ich ihnen ihren geschroteten Mais zum Fressen brachte. Oder die Salatabfälle. Oder die Kürbisschalen. "Meine Braven, ihr seid ja so brav!" rief ich ihnen zu, wenn ich die Eier aus dem zum Legen vorgesehen Teil des Hühnerhauses holte. MM und ich rühmten uns unserer psychologisch einwandfreien Hühnerbetreuung, die uns jeden Tag 5-6 Eier bescherte. "Unsere Hennen sind wirklich clever." sagte ich zu ihm und er meinte: "Ich glaube, das alle Tiere, wie ihre Besitzer sind." Stolz auf unsere Hühner, die nicht so blöd sind, wie die meiner Nachbarin und nur phasenweise Eier legen. Unsere Hennen haben Auslauf, sie werden geliebt, sie werden gepflegt. Sie werden sogar gestreichelt. Und nun das. Keine Eier mehr. Sollten unsere Hennen einfach so sein, wie alle anderen? "Al risposo"? In einer Phase des Ausruhens.

Meine Schwiegermutter hat eine Henne, die weiß ist. Sie hat auch einen Hahn. Über den grausamen Hahn hören wir immer schreckliche Geschichten und über die dumme weiße Henne auch. Die Henne fliegt immer weg und legt keine Eier. Mein Schwager hat ihr bereits die Flügel gestutzt, aber auch das hilft nichts. Sie scheint, wenn ich den Erzählung richtig folge, über eine Einzäunung zu fliegen, weil sie ihre Eier dann an unverdächtigen Orten ablegt. Also legt sie doch Eier. Ich glaube ja ein bisschen, dass all dieses Gejammer um die nicht eierlegenden Hennen dafür sorgen soll, dass ich großzügig und mitfühlend meine Eiervorräte teile. Was wirklich nicht besonders aufopfernd ist, denn wir haben viele Eier. Aber nun schrumpft unser Vorrat auf etwa 40 Eier und ich bekomme Angst, ich muss Eier kaufen, bei den Nachbarinnen einen Vorschuss verlangen, oder in jedem Fall sparen. Dabei esse ich eigentlich kaum Eier, um meine Gesundheit nicht zu sehr auf die Probe zu stellen, drei heranwachsende Knaben können allerdings große Mengen an Frittata verzehren. Und MM hat sich den Luxus gegönnt, eine Sachertorte nach einem der zahlreichen Originalrezepte zu backen und hat dafür 12 Eier verwendet. Die Torte war sehr gut, konnte aber nur in homöopathischen Dosen genossen werden. Meine Schwiegermutter spricht immer davon, dass sie das Huhn umbringen wird, tut es aber doch nie.

Und jetzt? Brauchen wir auch einen Hahn? Was ist passiert, warum werden von einem Tag auf den anderen keine Eier gelegt? Es gab keinen Wetterwechsel, das Wetter ist auch eher als mild zu bezeichnen. Da haben die Hühner schon mehr gefroren und dennoch Eier gelegt. Das Futter wurde nicht gewechselt, im Gegenteil, das Kind hat den Hühnern stundenlang Klee zugesteckt und sich daran ergötzt, wie schnell sie diesen verschlingen. Hat sie das verstört, die Hühner? Wollen sie keinen Klee? Wollen sie mehr Klee? Hat das Kind anschließend heimlich die Hühner gequält? Eine blonde Henne betreibt mobbing gegen eine schwarze Henne, eindeutig, das würde erklären, warum die schwarze Henne keine Eier legt? Aber die blonde? MM fragt mich, ob ich den Hennen Wasser gebe. Ich glaube, er verdächtigt mich, Tierquälerei zu betreiben, so wie das Kind verdächtige. MM geht an den Strand um weiße, längliche Steine zu suchen, die schönsten Exemplare legt er ihnen auf den Nistplatz. Nichts. Ein Steinei, wird verächtlich weggeschoben, das andere angeschissen. Wer oder was könnte den harmonischen Alltag unserer Hennen so stören? Sie sind psychologisch verstört, das ist klar, denn unsere wunderbaren Tiere sind nicht wie die anderen, sie sind sensibel, aber nicht in einer Ruhepause. "Wozu braucht ihr eine Ruhepause?" frage ich sie, während sie vergnügt im Hühnerhof herumstolpern. Ich bin enttäuscht, ich gebe es zu. Sie sind wie alle anderen. Ich kann meine Schwiegermutter verstehen. Diese Hennen taugen nichts.

Betrübt fügen wir uns in unser Schicksal. Auch wir haben Hennen, die keine Eier legen. Am Morgen, als das Wetter schön ist, grüße ich meine Nachbarin und wie immer beglückwünschen wir uns wegen dem schönen Wetter. Eigentlich will ich ihr zurufen: Es muss jetzt immer schön bleiben, denn meine armen Hühner haben aufgehört, Eier zu legen, aber ich halte mich zurück. Sie geht gerade selbst ihr Hühnerhaus öffnen, und ich möchte nicht, dass sie mir sagt, ihre Hühner würden aber sehr viele Eier legen und sich womöglich verpflichtet fühlte, mir Eier zu geben.

Am Nachmittag putze ich das Hühnerhaus. Wie immer mache ich einen Rundgang in Gummstiefeln durch den Hühnerauslauf. "Hast du überall geschaut?" fragen MM und ich uns jeden Tag. "Jaja, nichts." Auf dem Grau der Erde liegen ein paar braune dornige Äste, die MM um den Hühnerauslauf abgeschnitten hat, sie sind trocken, grün ist es nur außerhalb der Umzäunung für die Hühner. Da sehe ich plötzlich unter diesen Ästen Eier liegen, perfekt harmonierend mit den graubraunen Farbtönen ihrer Umgebung. Etwas mit Schlamm besudelt, denn schließlich liegen diese Eier hier nicht seit einer Stunde. Es sind unglaublich viele Eier, die da ordentlich zusammenliegen. Eines liegt auf dem Weg.  Ich hebe es rasch auf, bevor ich es zertrete und schaue mich um, es ist als hätte es diese Eier vom Himmel geregnet, was schwer möglich ist. Ich habe Arbeitshandschuhe an und kann meine Hände in den schmalen Hohlraum zwischen den dornigen Ästen und der Erde schieben und hole 28 Eier darunter hervor, die ich in die Schüssel lege, in der der Gemüseabfall war, den ich den Hennen gebracht habe. Meine Laune hebt sich in Lichtgeschwindigkeit. "Ihr seid brave Hennen!" rufe ich ihnen zu und sie kämpfen vergnügt mit den Zichorienblättern, die ich ihnen auf den Boden geworfen habe. Was sie dazu bewogen hat, ihr Nest auszusiedeln, wissen wir nicht, aber ich nehme an, dass sie eigenwillig sind, wie alle Lebewesen und manchmal Abwechslung suchen. Wer weiß, was sie als nächstes vorhaben.

Donnerstag, 6. März 2014

La sofferenza è finita

Ich stehe unter einem Olivenbaum und reiße an ein paar abgeschnittenen Eichenästen herum, mit den kleinen Ästchen will ich den Ofen anheizen. Es ist regnerisch, windig, es ist Faschingsdienstag, die Kinder sind zu Hause. An diesen Tagen, an denen kein richtiger Feiertag ist, aber viele Kinder beschließen, nicht in die Schule zu gehen, müssen auch meine Kinder nicht in die Schule gehen, weil die Gefahr groß ist, dass sie a) anrufen und heimgehen wollen, b) anrufen und sagen, die Mensa kocht nicht für so wenige Kinder, c) nicht anrufen, aber nur zu viert mit der Frau Professor sind und anschließend übel gelaunt für einen ganzen Abend. Ein Mann und eine Frau kommen des Wegs, die Frau ist die Mutter einer Nachbarin, einer, die MM verehrt, weil sie so gut Traktor fahren kann, der Mann könnte der Bruder sein. Er wirkt ein wenig, als wäre er auf Freigang aus einem Irrenhaus, er trägt eine Wollmütze, eine Boxerjacke und eine Trainingshose. Leider schaue ich etwa genauso aus wie er, außer der Boxerjacke, so schick bin ich nicht, ich trage eine ausgeleierte Strickjacke von MM. Er sagt: "Signora, was machen sie da?" "Ich sage, ich mache Kleinholz, um den Ofen einzuheizen." Mir kommt das nicht komisch vor, ich antworte ihm wie einem Kind. Die Mutter der Nachbarin sagt peinlich berührt zu dem Mann, von dem ich meine, er sei ihr Sohn: "Die Signora wohnt da." Oh, das freut ihn und er stellt mir noch einige Fragen, die ich diplomatisch beantworte. Dann frage ich: "Und sie? Machen einen Besuch?" " Er ist gestorben." sagt die Mutter der Traktorfahrerin. Sie deutet mit dem Kinn auf das Nachbarhaus unter mir. Er, der mit dem Kinn angedeutete, ist der Opa. Ohje. Ich weiß, dass er krank war. Der Opa ist ein Herr, der gar nicht alt wirkte, obwohl er jetzt 82 war. Ich würde sagen, er hatte keine Falten. Ich würde sagen, er sah jünger aus, als seine Kinder. Als wir in unser Haus zogen und viel im Garten arbeiteten, ging er mit einem Stock aus seinem Haus und setzte sich auf einen Sessel vor die Garage. Ich denke, wir haben ihm viel Unterhaltung geboten, aber auch die Natur anzuschauen war nicht schlecht. Olivenbäume, Gras, unsere ungeschickten Tomaten- und Bohnenpflanzunzen. Schilfrohr, Feigenbäume. Hunde, die durchs Gras laufen, Wasser, das in unseren Brunnen rinnt. Orangenbäume, Mandarinenbäume und ganz oben Zitronenbäume. So weit konnte er vielleicht nicht sehen. Wir grüßten einander, plauderten miteinander und er war da, wie das Haus da war. Später kam er nicht mehr aus dem Haus, vielleicht taten ihm die Beine zu sehr weh, er saß in einem Sessel vor dem Fernseher im Haus. Jahrelang. Ab und zu kamen wir auf Besuch, er sah immer faltenfrei aus und schaute ein wenig gelangweilt auf den Fernseher. Auf Befragen erzählte er, wie es ihm ging und zeigte violette Stellen an seinen Beinen. Mir tat es leid, dass er nicht mehr vor der Garage saß. Das habe ich ihm aber nicht gesagt, so wie man mit alten kranken Menschen eigentlich nicht redet, sondern nur deutlich sichtbar nickt oder den Kopf schüttelt, um ihnen zu verstehen zu geben, dass man sie versteht, auch wenn das zum Teil nicht wahr ist, oder man es auf dezentere Art ebenfalls mitteilen könnte. Das letzte Mal habe ich ihn im Januar gesehen und ich habe vergessen, mich zu verabschieden. Das war mir sehr peinlich. Ich habe ihn einfach übersehen, in seinem Stuhl vor dem Fernseher, während ich mit seiner Schwiegertochter plauderte. Dabei hat er noch einen Kaffee getrunken, einen starken, süßen Kaffee, den auch ich serviert bekommen habe. Was er wohl gedacht hat? Er muss sich als Möbelstück gefühlt haben. Ein Möbelstück, dass seiner Familie zur Last fällt, weil es sich nicht alleine bewegt und weil es schmutzt. Ein Möbelstück, dass die Nachbarn nicht grüßen, wenn sie das Haus verlassen, weil sie ihm den Rücken zuwenden und man keine Möbelstücke grüßt.

Ich gehe nach Hause und rufe MM an. Ich sage: "Was muss ich tun? Ich gehe hin und küsse alle und dann gehe ich wieder." "Nein," ruft MM, "küss nicht alle. Küss nur die Familie. Die anderen solltest du nicht einmal grüßen." Ein bisschen Erfahrung habe ich ja, mit diesen Totenwachen. Aber nur ein bisschen. Normalerweise steht mir meine Schwiegermutter bei und sagt mir, was ich tun soll. Aber heute muss ich alleine gehen. Ich wechsle die Kleidung und gehe. Das Haus steht offen, an der Stelle an der normalerweise ein sehr langer Tisch steht, steht der Sarg. Rundherum sind zur Zierde Ständer aufgestellt, aber es sind keine Kerzenständer. Sie sind blank poliert. Hinter dem Sarg steht ein Paravent mit einem riesigen Jesusbild. Jesus hat Augenbrauen in perfekter Form und schaut mit blauen Augen milde und kühl auf die Leiche unseres Nachbarn. Dieser wiederum liegt wie eine Puppe aus dem Wachsfigurenkabinett in seinem Sarg, die Knie angezogen. Vielleicht sind seine Beine vom vielen Sitzen so geworden. Er hat die Augen geschlossen und schaut ernst. Ich kann nicht glauben, dass er tot ist, sicher wird er gleich die Augen aufschlagen. Rechts und links vom Sarg sind Sofas und Stühle aufgebaut, auf einer Seite sitzen Männer, auf der anderen die Frauen, als erste die Oma, die Frau vom Nachbarn. Ich gehe auf den Sarg zu. Ich stelle mich links vom Sarg, betrachte die Leiche und mache ein Kreuzzeichen, weil mir das angebracht scheint. Ich drehe mich zur Witwe und umarme sie und küsse sie. Sie weint, sie wirkt wie ein kleines Mädchen. Sie ist sehr klein und sie wird immer kleiner. Sie hat schon zwei Herzoperationen gehabt und schnauft beim Gehen und beim Reden, aber sie hat ein herzliches Lachen, hat mir schon viele Eier geschenkt und wartet im Sommer auf mich, damit ich die Maulbeeren unter ihrem Baum einsammle, die dort im Überfluss vorhanden sind. Die anderen alten Damen beachte ich, wie mit MM besprochen, nicht.
Ich stelle mich zur Tür, wie in der Kirche, dort stehe ich auch gerne bei der Tür, damit ich unauffällig verschwinden kann, wenn es unerträglich wird. Aber seit ich Messen als beobachtende Forschungsperson besuche, sind sie nie unerträglich. Der Sohn des Opas kommt aus dem Inneren des Hauses durch eine Tür, ich nenne seinen Namen, sage, es tut mir leid, beuge mich zu ihm hinunter und küsse ihn. In dieser Familie sind alle Personen winzig. "Naja, was soll man machen." sagt er, irgendwie abwehrend, nicht mich, sondern die Trauer. Auf dem Sofa ist noch Platz, er zieht mich stark an. Ich setze mich, ach ist es schön, ein wenig auszuruhen, in der Stille, den Blick vom Toten zu den Lebenden schweifen zu lassen, getrost denken zu können, denn dies ist ein Moment der Andacht. Leute kommen. Eine Gruppe von Personen betritt den Raum mit dem Sarg, sie gehen auf die rechte Seite des Toten, berühren ihn an der Stirn, an den gefalteten Händen, murmeln, küssen ihre Hände. Das habe ich offenbar falsch gemacht: linke Seite, nicht berührt, kein Kuss auf die eigenen Finger. Aber diesen Brauch finde ich ohnehin nicht sonderlich nachahmenswert. Oft sehe ich, dass die Menschen, wenn sie an einer Kultstätte, einer Kirche oder einem Friedhof vorbeikommen, die Lippen bewegen, ein Kreuz schlagen und dann ihren Daumen küssen. Auch MM kann mir nicht erklären, weshalb sie das tun und ich finde es peinlich, jemand anders zu fragen, auf jeden Fall bin ich immer froh, wenn ich das sehe, dass meine Kinder aus dem Religionsunterricht ausgeschrieben sind (auch wenn sie ihn besuchen, aber das ist eine andere Geschichte), denn die Tatsache, dass man als gläubiger Mensch seine eigenen Hände küsst, kommt mir überheblich und unappetitlich vor. Eine relativ junge Frau ist unter den Neuankömmlingen und sie sagt etwas zur Leiche. Sie wiederholt ihre Worte dem Sohn gegenüber: "La sofferenza è finita." "Das Leiden ist zu Ende." Das finde ich gut, aber gleichzeitig auch unangemessen. Was weiß sie denn vom Leiden des Opas. Vielleicht hat er ja in Momenten auch Freude am Leben gehabt. Ich denke das, was ich immer denke, wenn ich an den Tod denke und an das Leben, an das Alter. Meine Gedanken sind äußerst einfach und es geht immer darum, dass es einen Tagesablauf gibt und dass die alten Menschen, die nicht mehr selbst gehen können, an die Sonne geschoben werden müssen. Ich schaue die Oma an und ein neuer Gedanke kommt mir in den Sinn, nämlich dass das die Ehe ist, dass wir uns das nicht so vorgestellt haben, aber am Ende kann es sein, dass der Geliebte wie ein Kind zu behandeln ist und dass man ihm die Windeln wechselt. Ich weiß das, denn die Oma hat es mir erzählt, sie hat gesagt, dass sie immer die Wäsche vom Opa wascht und sie hat auch immer seine Unterhosen auf einem Zaun aufgehängt. Das habe ich immer ein wenig komisch gefunden, denn sonst ist auf dem Zaun keine Wäsche aufgehängt, also der Rest der Wäsche der Familie scheint an einem Platz zu trocknen, der für die Nachbarn nicht zugänglich ist. Vielleicht meint die Frau ja, dass das Leiden der Familie ein Ende hat, das Leiden im Sinne der Mühe, die die Pflege eines alten, kranken Menschen bereitet. Ich schaue die Frau an, ich bemühe mich, sie nicht anzustarren. Ich glaube, dass das Leben als Ganzes für sie Leiden ist und dass es endet, wenn der Mensch seinen Weg nach oben antritt. Das meine ich aus ihren Gesten und Worten erkennen zu können. Sie setzt sich neben mich. Sie ist geruchsfrei. Etwas fällt ihr ein und sie fragt, ob etwas gelesen wurde. Man wiederholt die Frage für die Oma, sie hört schlecht. Sie fährt wie aus dem Schlaf hoch und zuckt die Achseln. Sie wirkt sehr allein. Kann sein, dass sie ihrem Mann gesagt hat, was er zu tun hat, aber ich glaube, dass sie jetzt verlassen ist. Die Frau neben mir zieht einen Rosenkranz aus der Tasche und beginnt. "Ave Maria, piena di grazie..." Sie wird gebeten, sich neben die Oma zu setzen, weil die ja nichts hört. Eine ältere Dame setzt sich neben mich. Anfangs ist es ganz lustig, dem Rosenkranz zuzuhören, irgendwann stellt sich ein Moment der Leere im Kopf ein, keine Gedanken mehr, es ist eine Meditation, ich weiß, warum sie das machen, aber sie müssen auch wieder damit aufhören, irgendwann wird ihnen die Luft ausgehen. Ich frage mich, wie oft man bei einem Rosenkranz ein Ave Maria beten muss und versuche den Rhythmus in dem Singsang zu erkennen, aber es gelingt mir nicht. Ich möchte mich im Sofa zurücklehnen, aber es kommt mir unhöflich vor. Mir tut das Kreuz weh. Ich starre auf den Teppich. Das Beten hört nicht auf. Ich höre es rauschen, ich höre das Nichts in meinem Kopf. Die Frau neben mir bittet Jesus, er möge sie vom Feuer des Winters befreien. Wieso? Ist es nicht angenehm im Winter ein Feuer zu haben? Beim vierten oder fünften Mal, als diese Bitte ausgesprochen wird, komme ich zu dem Schluss, dass es das Feuer der Hölle sein muss, Inferno, nicht Inverno. Ich denke an die Kinder, die alleine zu Hause sind und sicher Spiele auf ihren Mobiltelefonen spielen. Ich wünsche mir, sie mögen kommen, damit ich gehen kann. Während des Beten kann ich nicht gehen, also wünsche ich dringend ein Ende herbei. Ich bemerke, dass die Frau mit dem Rosenkranz die Gebete zäsiert, in dem sie eine Anzahl der Mysterien von Jesus Christus erwähnt. Sie ist beim vierten. Wenn ich nur wüsste, wieviele es gibt. Nun sieht die Rosenkranz-Dramaturgie vor, dass man aufsteht, das mache ich nur allzu gerne, denn so kann ich meine schmerzenden Glieder strecken. Nichts und niemand wird mich dazu bringen, mich noch einmal auf dieses unbequeme Sofa zu setzen. Die Traktorfahrerin wird gebeten, etwas zu lesen, damit die Frau mit dem Rosenkranz darauf sagen kann: "Prega per noi." Also scheint es sich um Fürbitten zu handeln. "Prega per noi!" stößt sie immer wieder ungeduldig hervor. "Muss ich weiterlesen?" fragt die Traktorfahrerin an einer Stelle, es ist eine normale Frage, aber dennoch erinnert sie mich an meine Kinder, wenn sie nicht mehr lernen wollen. Ja, sie muss weiterlesen. Ich verliere langsam die Geduld, aber da kommt es: das fünfte Mysterium, der Tod Jesu. Danach kann es doch wohl nichts mehr geben. Zum Glück fällt mir in diesem Moment die Auferstehung nicht ein. Und es ist wirklich vorbei. Man macht ein Kreuzzeichen. Ich auch. Ich stehe noch ein wenig herum und tue so, also wäre ich unschlüssig. In Wirklichkeit weiß ich genau, dass ich gehen werde. Ich hätte gerne gesehen, wie die anderen sich beim Verlassen des Hauses benehmen, aber keiner geht, also gehe ich grußlos, was glaube ich ok ist, also was soll ich auch sagen: "Wir sehen uns dann auf dem Friedhof, Leute"? Ich grüße auch nicht mehr den Toten und es ist mir egal, ob die Leute über mich reden. Ich rede nämlich auch über sie und zu Hause verrate ich, dass die Frau neben mir Winter statt Hölle gesagt hat. Der Fußballer fragt, ob ein Sarg teuer ist und ich erzähle ihm alles über Särge, was ich weiß und setze hinzu, dass ich verbrannt werden möchte. Bevor ich ihm einen konkreten Auftrag geben kann, bittet er mich, nicht mehr über den Tod zu sprechen.