Ich stehe unter einem Olivenbaum und reiße an ein paar abgeschnittenen
Eichenästen herum, mit den kleinen Ästchen will ich den Ofen
anheizen. Es ist regnerisch, windig, es ist Faschingsdienstag, die
Kinder sind zu Hause. An diesen Tagen, an denen kein richtiger Feiertag
ist, aber viele Kinder beschließen, nicht in die Schule zu gehen, müssen
auch meine Kinder nicht in die Schule gehen, weil die Gefahr groß ist,
dass sie a) anrufen und heimgehen wollen, b) anrufen und sagen, die
Mensa kocht nicht für so wenige Kinder, c) nicht anrufen, aber nur zu
viert mit der Frau Professor sind und anschließend übel gelaunt für einen
ganzen Abend. Ein Mann und eine Frau kommen des Wegs, die Frau ist die
Mutter einer Nachbarin, einer, die MM verehrt, weil sie so gut Traktor
fahren kann, der Mann könnte der Bruder sein. Er wirkt ein wenig, als wäre
er auf Freigang aus einem Irrenhaus, er trägt eine Wollmütze, eine
Boxerjacke und eine Trainingshose. Leider schaue ich etwa genauso
aus wie er, außer der Boxerjacke, so schick bin ich nicht, ich trage eine ausgeleierte Strickjacke von MM. Er sagt: "Signora, was machen
sie da?" "Ich sage, ich mache Kleinholz, um den Ofen einzuheizen." Mir
kommt das nicht komisch vor, ich antworte ihm wie einem Kind. Die Mutter
der Nachbarin sagt peinlich berührt zu dem Mann, von dem ich meine, er
sei ihr Sohn: "Die Signora wohnt da." Oh, das freut ihn und er stellt
mir noch einige Fragen, die ich diplomatisch beantworte. Dann frage ich:
"Und sie? Machen einen Besuch?" " Er ist gestorben." sagt die Mutter
der Traktorfahrerin. Sie deutet mit dem Kinn auf das Nachbarhaus unter
mir. Er, der mit dem Kinn angedeutete, ist der Opa. Ohje. Ich weiß, dass
er krank war. Der Opa ist ein Herr, der gar nicht alt wirkte, obwohl er
jetzt 82 war. Ich würde sagen, er hatte keine Falten. Ich würde sagen,
er sah jünger aus, als seine Kinder. Als wir in unser Haus zogen und viel
im Garten arbeiteten, ging er mit einem Stock aus seinem Haus und setzte
sich auf einen Sessel vor die Garage. Ich denke, wir haben ihm viel
Unterhaltung geboten, aber auch die Natur anzuschauen war nicht
schlecht. Olivenbäume, Gras, unsere ungeschickten Tomaten- und
Bohnenpflanzunzen. Schilfrohr, Feigenbäume. Hunde, die durchs Gras laufen,
Wasser, das in unseren Brunnen rinnt. Orangenbäume, Mandarinenbäume und
ganz oben Zitronenbäume. So weit konnte er vielleicht nicht sehen. Wir
grüßten einander, plauderten miteinander und er war da, wie das Haus da
war. Später kam er nicht mehr aus dem Haus, vielleicht taten ihm die
Beine zu sehr weh, er saß in einem Sessel vor dem Fernseher im Haus.
Jahrelang. Ab und zu kamen wir auf Besuch, er sah immer faltenfrei aus
und schaute ein wenig gelangweilt auf den Fernseher. Auf Befragen
erzählte er, wie es ihm ging und zeigte violette Stellen an seinen
Beinen. Mir tat es leid, dass er nicht mehr vor der Garage saß. Das habe
ich ihm aber nicht gesagt, so wie man mit alten kranken Menschen
eigentlich nicht redet, sondern nur deutlich sichtbar nickt oder den
Kopf schüttelt, um ihnen zu verstehen zu geben, dass man sie versteht,
auch wenn das zum Teil nicht wahr ist, oder man es auf
dezentere Art ebenfalls mitteilen könnte. Das letzte Mal habe ich ihn im
Januar gesehen und ich habe vergessen, mich zu verabschieden. Das war
mir sehr peinlich. Ich habe ihn einfach übersehen, in seinem Stuhl vor
dem Fernseher, während ich mit seiner Schwiegertochter plauderte. Dabei
hat er noch einen Kaffee getrunken, einen starken, süßen Kaffee, den
auch ich serviert bekommen habe. Was er wohl gedacht hat? Er muss sich
als Möbelstück gefühlt haben. Ein Möbelstück, dass seiner Familie zur
Last fällt, weil es sich nicht alleine bewegt und weil es schmutzt.
Ein Möbelstück, dass die Nachbarn nicht grüßen, wenn sie das Haus
verlassen, weil sie ihm den Rücken zuwenden und man keine Möbelstücke
grüßt.
Ich gehe nach Hause und rufe MM an. Ich sage: "Was muss ich tun? Ich
gehe hin und küsse alle und dann gehe ich wieder." "Nein," ruft MM,
"küss nicht alle. Küss nur die Familie. Die anderen solltest du nicht
einmal grüßen." Ein bisschen Erfahrung habe ich ja, mit diesen
Totenwachen. Aber nur ein bisschen. Normalerweise steht mir meine
Schwiegermutter bei und sagt mir, was ich tun soll. Aber heute muss ich
alleine gehen. Ich wechsle die Kleidung und gehe. Das Haus steht offen,
an der Stelle an der normalerweise ein sehr langer Tisch steht, steht
der Sarg. Rundherum sind zur Zierde Ständer aufgestellt, aber es sind
keine Kerzenständer. Sie sind blank poliert. Hinter dem Sarg steht ein
Paravent mit einem riesigen Jesusbild. Jesus hat Augenbrauen in
perfekter Form und schaut mit blauen Augen milde und kühl auf die Leiche
unseres Nachbarn. Dieser wiederum liegt wie eine Puppe aus dem
Wachsfigurenkabinett in seinem Sarg, die Knie angezogen. Vielleicht sind
seine Beine vom vielen Sitzen so geworden. Er hat die Augen geschlossen
und schaut ernst. Ich kann nicht glauben, dass er tot ist, sicher wird
er gleich die Augen aufschlagen. Rechts und links vom Sarg sind Sofas
und Stühle aufgebaut, auf einer Seite sitzen Männer, auf der anderen die
Frauen, als erste die Oma, die Frau vom Nachbarn. Ich gehe auf den Sarg
zu. Ich stelle mich links vom Sarg, betrachte die Leiche und mache ein
Kreuzzeichen, weil mir das angebracht scheint. Ich drehe mich zur Witwe
und umarme sie und küsse sie. Sie weint, sie wirkt wie ein kleines
Mädchen. Sie ist sehr klein und sie wird immer kleiner. Sie hat schon
zwei Herzoperationen gehabt und schnauft beim Gehen und beim Reden, aber
sie hat ein herzliches Lachen, hat mir schon viele Eier geschenkt und
wartet im Sommer auf mich, damit ich die Maulbeeren unter ihrem Baum
einsammle, die dort im Überfluss vorhanden sind.
Die anderen alten Damen beachte ich, wie mit MM besprochen, nicht.
Ich stelle mich zur Tür, wie in der Kirche, dort stehe ich auch gerne bei der Tür, damit ich unauffällig verschwinden kann, wenn es unerträglich wird. Aber seit ich Messen als beobachtende Forschungsperson besuche, sind sie nie unerträglich. Der Sohn des Opas kommt aus dem Inneren des Hauses durch eine Tür, ich nenne seinen Namen, sage, es tut mir leid, beuge mich zu ihm hinunter und küsse ihn. In dieser Familie sind alle Personen winzig. "Naja, was soll man machen." sagt er, irgendwie abwehrend, nicht mich, sondern die Trauer. Auf dem Sofa ist noch Platz, er zieht mich stark an. Ich setze mich, ach ist es schön, ein wenig auszuruhen, in der Stille, den Blick vom Toten zu den Lebenden schweifen zu lassen, getrost denken zu können, denn dies ist ein Moment der Andacht. Leute kommen. Eine Gruppe von Personen betritt den Raum mit dem Sarg, sie gehen auf die rechte Seite des Toten, berühren ihn an der Stirn, an den gefalteten Händen, murmeln, küssen ihre Hände. Das habe ich offenbar falsch gemacht: linke Seite, nicht berührt, kein Kuss auf die eigenen Finger. Aber diesen Brauch finde ich ohnehin nicht sonderlich nachahmenswert. Oft sehe ich, dass die Menschen, wenn sie an einer Kultstätte, einer Kirche oder einem Friedhof vorbeikommen, die Lippen bewegen, ein Kreuz schlagen und dann ihren Daumen küssen. Auch MM kann mir nicht erklären, weshalb sie das tun und ich finde es peinlich, jemand anders zu fragen, auf jeden Fall bin ich immer froh, wenn ich das sehe, dass meine Kinder aus dem Religionsunterricht ausgeschrieben sind (auch wenn sie ihn besuchen, aber das ist eine andere Geschichte), denn die Tatsache, dass man als gläubiger Mensch seine eigenen Hände küsst, kommt mir überheblich und unappetitlich vor. Eine relativ junge Frau ist unter den Neuankömmlingen und sie sagt etwas zur Leiche. Sie wiederholt ihre Worte dem Sohn gegenüber: "La sofferenza è finita." "Das Leiden ist zu Ende." Das finde ich gut, aber gleichzeitig auch unangemessen. Was weiß sie denn vom Leiden des Opas. Vielleicht hat er ja in Momenten auch Freude am Leben gehabt. Ich denke das, was ich immer denke, wenn ich an den Tod denke und an das Leben, an das Alter. Meine Gedanken sind äußerst einfach und es geht immer darum, dass es einen Tagesablauf gibt und dass die alten Menschen, die nicht mehr selbst gehen können, an die Sonne geschoben werden müssen. Ich schaue die Oma an und ein neuer Gedanke kommt mir in den Sinn, nämlich dass das die Ehe ist, dass wir uns das nicht so vorgestellt haben, aber am Ende kann es sein, dass der Geliebte wie ein Kind zu behandeln ist und dass man ihm die Windeln wechselt. Ich weiß das, denn die Oma hat es mir erzählt, sie hat gesagt, dass sie immer die Wäsche vom Opa wascht und sie hat auch immer seine Unterhosen auf einem Zaun aufgehängt. Das habe ich immer ein wenig komisch gefunden, denn sonst ist auf dem Zaun keine Wäsche aufgehängt, also der Rest der Wäsche der Familie scheint an einem Platz zu trocknen, der für die Nachbarn nicht zugänglich ist. Vielleicht meint die Frau ja, dass das Leiden der Familie ein Ende hat, das Leiden im Sinne der Mühe, die die Pflege eines alten, kranken Menschen bereitet. Ich schaue die Frau an, ich bemühe mich, sie nicht anzustarren. Ich glaube, dass das Leben als Ganzes für sie Leiden ist und dass es endet, wenn der Mensch seinen Weg nach oben antritt. Das meine ich aus ihren Gesten und Worten erkennen zu können. Sie setzt sich neben mich. Sie ist geruchsfrei. Etwas fällt ihr ein und sie fragt, ob etwas gelesen wurde. Man wiederholt die Frage für die Oma, sie hört schlecht. Sie fährt wie aus dem Schlaf hoch und zuckt die Achseln. Sie wirkt sehr allein. Kann sein, dass sie ihrem Mann gesagt hat, was er zu tun hat, aber ich glaube, dass sie jetzt verlassen ist. Die Frau neben mir zieht einen Rosenkranz aus der Tasche und beginnt. "Ave Maria, piena di grazie..." Sie wird gebeten, sich neben die Oma zu setzen, weil die ja nichts hört. Eine ältere Dame setzt sich neben mich. Anfangs ist es ganz lustig, dem Rosenkranz zuzuhören, irgendwann stellt sich ein Moment der Leere im Kopf ein, keine Gedanken mehr, es ist eine Meditation, ich weiß, warum sie das machen, aber sie müssen auch wieder damit aufhören, irgendwann wird ihnen die Luft ausgehen. Ich frage mich, wie oft man bei einem Rosenkranz ein Ave Maria beten muss und versuche den Rhythmus in dem Singsang zu erkennen, aber es gelingt mir nicht. Ich möchte mich im Sofa zurücklehnen, aber es kommt mir unhöflich vor. Mir tut das Kreuz weh. Ich starre auf den Teppich. Das Beten hört nicht auf. Ich höre es rauschen, ich höre das Nichts in meinem Kopf. Die Frau neben mir bittet Jesus, er möge sie vom Feuer des Winters befreien. Wieso? Ist es nicht angenehm im Winter ein Feuer zu haben? Beim vierten oder fünften Mal, als diese Bitte ausgesprochen wird, komme ich zu dem Schluss, dass es das Feuer der Hölle sein muss, Inferno, nicht Inverno. Ich denke an die Kinder, die alleine zu Hause sind und sicher Spiele auf ihren Mobiltelefonen spielen. Ich wünsche mir, sie mögen kommen, damit ich gehen kann. Während des Beten kann ich nicht gehen, also wünsche ich dringend ein Ende herbei. Ich bemerke, dass die Frau mit dem Rosenkranz die Gebete zäsiert, in dem sie eine Anzahl der Mysterien von Jesus Christus erwähnt. Sie ist beim vierten. Wenn ich nur wüsste, wieviele es gibt. Nun sieht die Rosenkranz-Dramaturgie vor, dass man aufsteht, das mache ich nur allzu gerne, denn so kann ich meine schmerzenden Glieder strecken. Nichts und niemand wird mich dazu bringen, mich noch einmal auf dieses unbequeme Sofa zu setzen. Die Traktorfahrerin wird gebeten, etwas zu lesen, damit die Frau mit dem Rosenkranz darauf sagen kann: "Prega per noi." Also scheint es sich um Fürbitten zu handeln. "Prega per noi!" stößt sie immer wieder ungeduldig hervor. "Muss ich weiterlesen?" fragt die Traktorfahrerin an einer Stelle, es ist eine normale Frage, aber dennoch erinnert sie mich an meine Kinder, wenn sie nicht mehr lernen wollen. Ja, sie muss weiterlesen. Ich verliere langsam die Geduld, aber da kommt es: das fünfte Mysterium, der Tod Jesu. Danach kann es doch wohl nichts mehr geben. Zum Glück fällt mir in diesem Moment die Auferstehung nicht ein. Und es ist wirklich vorbei. Man macht ein Kreuzzeichen. Ich auch. Ich stehe noch ein wenig herum und tue so, also wäre ich unschlüssig. In Wirklichkeit weiß ich genau, dass ich gehen werde. Ich hätte gerne gesehen, wie die anderen sich beim Verlassen des Hauses benehmen, aber keiner geht, also gehe ich grußlos, was glaube ich ok ist, also was soll ich auch sagen: "Wir sehen uns dann auf dem Friedhof, Leute"? Ich grüße auch nicht mehr den Toten und es ist mir egal, ob die Leute über mich reden. Ich rede nämlich auch über sie und zu Hause verrate ich, dass die Frau neben mir Winter statt Hölle gesagt hat. Der Fußballer fragt, ob ein Sarg teuer ist und ich erzähle ihm alles über Särge, was ich weiß und setze hinzu, dass ich verbrannt werden möchte. Bevor ich ihm einen konkreten Auftrag geben kann, bittet er mich, nicht mehr über den Tod zu sprechen.
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