Donnerstag, 6. Dezember 2012

A christmas carol

Das Kind und ich warten darauf, dass die großen Jungs ihre Proben für die Weihnachtsaufführung absolvieren. Wir stehen in der Aula der Schule. Auf dem Boden wälzen sich zwanzig bis dreißig Mädchen ohne Musik, erst am Ende ihrer ungelenk wirkenden Bewegungen wird kurz die Musik eingespielt. Ein Musical , „Canto di natale“, „A Christmas Tale“ von Charles Dickens, das ich letztes Jahr nach Weihnachten mit großem Vergnügen gelesen habe. Das Kind schwitzt in der Hand, in der es seine nicht fertig gegessenen, ekelhaft schmeckenden, aber süchtig machenden Käseflips oder -flops verkrampft hält. Wir leiden. Ich starre die Verlobte aus dem Vorjahr an. Nie hat man erfahren, warum diese wunderbare pathetische und sehr theoretische Liebesgeschichte zwischen ihr und dem Rallyefahrer geendet hat, und er wird sehr unwirsch, wenn man darüber sprechen möchte. In Wirklichkeit ist es auch ganz egal, mir zumindest, ich denke nur manchmal, man müsste sich am Seelenleben seiner Kinder interessiert zeigen, was ganz und gar nicht zutrifft. Die großen Jungs sind in einem Zimmer versteckt und ab und zu kommt einer von ihnen extrem lässig und doch unlocker durch die Aula auf mich zugestapft, um Fluchtpläne zu besprechen. Erst der Rallyefahrer, der zum Fußball muss, dann der große Sohn, den die Panik befällt, ich könne ihn vergessen, während ich den Rallyefahrer zum Fußball bringe. Ich gebe ihnen das Kind mit. Der Rallyefahrer öffnet die Tür des Zimmers und schaut heraus, als wäre er der Direktor dieser Schule und ich eine wartende Bittstellerin. „Eine Minute!“ deutet er mir. Ich habe also die Freundlichkeit, zu warten. Das Kind hoffe ich, amüsiert sich in dem Zimmerchen bei den geheimen Proben mehr, als bei der Ansicht dieser traurigen stummen Ballettaufführung.

Die Musiklehrerin kommt an mir vorbei und sie sagt: „Complimenti!“ Einen Moment lang finde ich das ganz normal. Ich nehme an, sie macht mir Komplimente für mein Leben, dafür, dass ich Managerin dieser drei wunderbar aktiven Kinder bin und meine Nachmittage im Auto verbringe, ohne dabei zu schreien, dafür, dass ich einen Ofen beheize, weil uns das Geld für die Heizung ausgegangen ist, dafür, dass ich es in neun von zehn Fällen schaffe, die Kinder mit einem gewaschenen Dress zu ihrem Sport schicke, auch wenn sie dieses vorher föhnen mussten. Dafür, dass meine Kinder in neun von zehn Fällen ihre Hausübungen machen, also sagen wir mal, beim Rallyefahrer in fünf von zehn Fällen, aber dafür hat er andere Qualitäten. Seine Italienischprofessorin findet ihn sympathisch, zum Beispiel. Mir kommt das also nicht komisch vor, dass die Musikprofessorin mir „Complimenti!“ zuraunt und ich lächle freundlich. „Ihre Kinder singen wirklich gut!“ „Aber dann gilt das Kompliment ihnen!“ sage ich. Ich bin enttäuscht, aber ich muss ehrlich zugeben, dass wenn meine Kinder gut tanzen, singen und zeichnen, dann hat das ganz und gar nichts mit mir zu tun, wenn man von meiner Güte absieht, sie das machen zu lassen und wenn es sein muss, ausgiebig, denn ich selbst kann weder das eine noch das andere und zeichnen schon gar nicht. Außerdem muss man ihr überhaupt Komplimente machen, dass sie diese beiden Jungs dazu gebracht hat, den Mund aufzuklappen, und in ein Mikrofon zu röhren, denn sie sind ja dem Leben gegenüber verpflichtet, aus ihrem Mund ausschließlich das Wort „Nichts“ herauszuquetschen. Zumindest zu Hause, auswärts bereichern sie ihren Wortschatz eventuell mit Schimpfwörtern. Manchmal vergessen sie auch kurzzeitig, dass sie pubertieren und sind ganz nett. Diese Musikprofessorin also, hat bereits letztes Jahr den Rallyefahrer zu ekstatischem Flötespiel animiert, was mich lange Zeit denken ließ, sie müsse die Doppelgängerin der wohlgeformten Blonden aus CSI Miami, die mit dem milden Blick und dem ironischen Lächeln, sein. Weit gefehlt. Die Musiklehrerin schaut aus wie die Hexe aus dem Märchenbuch, sie hat zwar keinen Buckel, aber eine Warze auf der Nase. Ok, die Zähne sind ein wenig besser erhalten. Man muss aber gar nicht an eine Hexe denken, denn sie strahlt Energie und etwas aus, das man schwer benennen kann, vielleicht ist es Präsenz, vielleicht Engagement, Interesse, hm, möglichweise sogar Liebe. Sie lacht viel und hat dabei etwas verschwörerisches. Irgendwie hat sie es geschafft, sich mit meinen Kindern zu verbrüdern, die ihr zuliebe jetzt das Gespenst aus der Zukunft und aus der Vergangenheit singen. „Attento Scrooge!“

„Wir haben sie so bearbeiten müssen!“ sagt sie lachend und legt dem großen Sohn die Hand auf den Arm. „Das denk ich mir!“ sage ich, und frag mich, was hier vor sich geht. Eine andere energische Musiklehrerin mischt sich ein und erklärt mir, dass es ihnen vor allem darum ginge, die Jugendlichen, die besonders reserviert seien, dazu zu bringen, sich zu öffnen. Ohje, ich dachte, sie können singen? Offenbar hätten die Knaben dann eine Kommission (ich will jetzt aber nicht wissen, ob die Schulwarte in der Kommission waren, oder kompetentes Personal) beeindruckt. Was mich beeindruckt, ist, dass mein großer Sohn, der wirklich nicht für seine spontane Art bekannt ist, ein bezauberndes Lächeln im Gesicht hat, während die Hand der Lehrerin auf seinem Arm ruht. Und da beginne ich das Geheimnis der als Hexe verkleideten Fee zu erkennen. Sie hat die Kinder einfach ernst genommen. Nicht mehr und nicht weniger. Tutto qua.

Freitag, 30. November 2012

Licht am Horizont?

 Vor dem Supermarkt sitzt ein Bettler, vielleicht ein Rom, ein älterer Mann mit einem Organetto, mit dem er aber nur ein paar Töne und kein Melodie erzeugt. "Giovane Signora!" sagt er zu mir, "Geben sie mir auch nur 10 Cent, per la santa morte di Dio." 10 Cent für den heiligen Tod Gottes? "Gott ist doch gar nicht tot!" will ich zu ihm sagen und dann besinne ich mich eines Besseren. Ausgerechnet ich will mich da theologisch ins Zeug legen? Ein paar Mal muss ich an ihm vorbeigehen, immer bin ich sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt und ich will auch nicht für das Begräbnis von Gott zahlen, obwohl er seine Forderung jetzt auf 5 Cent reduziert hat. Jetzt, wo die Kaufkraft erlahmt ist, wird alles billiger, ihr werdet schon sehen!

Montag, 19. November 2012

Der Abschied der Dancing Queen

Jetzt, Houston, haben wir ein echtes Problem, eines nämlich, bei dem man nicht einfach fleißig sein kann, oder vertrauensvoll, sondern eines, das man so leicht nicht lösen kann, und ich glaube, es ist das Alter und sein angemessenes Verhalten diesbezüglich. Ich habe mich schon vor ein paar Monaten von meiner inneren Dancing queen verabschiedet, als ich irgendwo im Vorbeigehen Frauen in meinem Alter ausgelassen tanzen gesehen habe. Das schaut einfach nicht gut aus, I can't help it. Das letzte Mal, als ich mich anschickte, das Tanzbein zu schwingen, auf Ritas Hochzeit, als ich gute Gelegenheit hatte, da sich einige unserer Nachbarn als wirklich coole Discotänzer der 80ies outeten, protestierte das Kind, angeblich, weil ich mir einen Muskelriss zuziehen könne, was mir kurz vorher anlässlich eines Federballspiels passiert war. Ich fand ihn einen großen Spielverderber und dachte, dass mein Moment schon noch kommen wird, aber ich glaube, mein Moment ist vorbei. Zu "I will survive" von Gloria Gaynor sollen sich jetzt junge Frauen zwischen 12 und 28 verrenken. Und was mach ich? In meinem Auto plärrt Eminem und fuckt so around und meine Kinder, die den Sound aus ihren Handies holen, wissen glaub ich, hoffentlich, nicht was da genau los ist und ich weiß auch nicht genau, wie ich das Wort auf italienisch übersetzen soll und ob ich als Mutter das wirklich machen soll. Immerhin sind wir dann ja auch gleich bei den Motherfuckern. Das Auto schaut aus, wie ein Lastwagen der Konzerttournee einer boysgroup mit Schlagzeug und Congas und vor allem den entsprechenden boys. Wenn ich ihre Breakdanceschritte mache, dann kugeln sie auf dem Boden vor Lachen und wenn sie mich dann imitieren, sieht es tatsächlich so aus, als hätte sich ein verkappter Schuhplattler in eine Streetgang verirrt.

Was mach ich jetzt? Das ist wichtig! Als ich ein Mädchen war, wollte ich nicht wachsen, weil ich dachte, ich müsste dann Erwachsenenliteratur lesen, oh Graus. Und jetzt? Jetzt will ich nicht alt werden, weil ich dann nicht mehr in der Disco tanzen kann. Und jetzt soll mir keiner daher kommen und erzählen, ich soll mit dem Ehemann einen Tanzkurs machen, nein, das ist sicher lustig, aber kein Substitut.

So you think you can tell, heaven from hell, blue sky from grey.

Soll man dann bei Gelegenheit am Rand der Tanzfläche stehen und wohlwollend nicken? In der Hand nicht einmal mehr eine Zigarette, sondern maximal ein Glas und das sicher nicht mit interessanten harten Getränken gefüllt. Und wen man soll man anschauen? Menschen, die 20 bis 30 Jahre jünger sind? Help! Soll man über Politik und Wirtschaft sprechen, derweilen getanzt wird? Ich will sterben.
Es ist ein Graus und es kommt mir vor, als könnte man niemandes Hand mehr halten, jetzt, wo man dauernd die schwitzigen Kinderhände gehalten hat. Und immer dann, wenn man auf das glitzernde Wasser schauen könnte, liegt man in Wirklichkeit total erledigt im Bett.

 I've been through the desert on a horse with no name, but it felt good to be out of the rain. Haben America einmal gesungen, aber Entschuldigung, so super ist das im Trockenen auch wieder nicht.

Mittwoch, 14. November 2012

siamo arrivati alla frutta

Das ist typisch für die Italiener, dass sie alles mit dem Essen in Verbindung bringen. Wenn sie sagen, dass sie jetzt wirklich dem Ende entgegen gehen, dann sagen sie, dass sie beim Obst angelangt sind, also am Ende eines Mahls. Dessert gibt es dann keines, aber immerhin bis zum Obst reicht es. Jetzt kann man sich fragen, ob das wirklich so gesund ist, sich nach der Pasta und dem Secondo noch einen Apfel reinzuhauen, aber es ist so, sie essen nach dem Mittagessen und nach dem Abendessen ein Stück Obst und bei dem sind sie jetzt wieder mal angelangt und ich auch, weil ich ja auch da lebe, was mir täglich komischer vorkommt.

Die Provinzen, also diese vielen Flächen, die die Regionen, die unsere geliebte Toskana, Veneto und Umbrien und was weiß ich bis zum unbekannten Kalabrien sind, segmentieren, haben ein Oberhaupt, sein Name spielt glaub ich keine Rolle, und der hat gesagt, dass die Provinzen kein Geld mehr haben und dass sie deshalb die Schulen im Winter nicht mehr heizen werden.

Eine meiner ehemaligen Studentinnen, heute Freundin auf facebook, schreibt was das für ein Scheißland ist, und was das in Europa verloren hat oder so ähnlich, und damit hat sie natürlich völlig recht. Jemand anders postet, dass man auch im Parlament die Heizung abschalten könne, was auch keine schlechte Idee ist. Dass es heute Ausschreitungen bei den Demos gegeben hat wundert nicht.

Die Italiener delekieren sich jetzt also an ihrer letzten Erdbeere und lassen anschließend ihre Kinder mit Mütze und Schal und rotgefroreren Nasen in der Klasse sitzen. Wo Frau Professor mit Pelzmantel und Rauhreif vor dem Mund über die Flächen und die Umfänge von Dreiecken spricht. Und hier zeigt sich wieder, dass es in Wirklichkeit zwei Italien gibt, denn in einem, dem im reichen Norden, sind die Kinder erstens wirklich vom Kältetod bedroht und zweitens ist es dort sehr ungewöhnlich, dass so drastische Reaktionen gezeigt werden und man wird sehen, ob das geht, dass die Kinder nicht schön temperiert werden. Im anderen, das unterhalb von Rom beginnt und ganz bestimmt in Neapel stattfindet und bei uns seine höchste Ausformung erlebt, holt diese Drohung eigentlich niemandem hinter dem Ofen (wie passend) hervor. Öfen werden zum Glück nur in kurzen Zeiten des Jahres gebraucht und dass die Kinder unter erbärmlichen Umständen lernen, ist an der Tagesordnung. Die Eltern geben den Kindern Klopapier, Wasser und Seife mit. Und über den von einem Satiriker ironisch verbrämten Spruch der ehemaligen Unterrichtsministerin Gelmini: "Der Staat hat kein Geld für Toilettenpapier, wir bitten, die Kinder bereits defäkiert in die Schule zu schicken!" können wir nicht herzlich lachen, sondern nur die Stirn runzeln. Ja eh.

Und bei uns, wo jetzt die Carabinieri und die Nas, diese Hygienepolizei, die ich bei mir daheim auch immer fürchte, in die Schule gekommen, in die zusammengelegte, von der wir glauben, dass sie nie mehr geteilt wird, und haben festgestellt, dass man so nicht essen kann. Dann war ein paar Tage Feuer auf dem Dach und nun isst man so wie früher. In der Klasse. Auf den Schulbänken. Wenn dann nicht geheizt wird, dann wird halt nicht geheizt, das haben wir an vielen Tagen auch gehabt, ohne dass das im Radio gesagt wurde und es jemand öffentlich verkündet hätte. Die Eltern werden sich nicht zusammen tun, um die Heizungsrechnung der Schule zu begleichen, weil viele nicht mal ihre eigenen Rechungen zahlen können, ich nehme an, wir werden uns am Samstag morgen auf dem Markt begegnen, wo wir Mützen und Anoraks einkaufen.Und am besten fingerlose Handschuhe, mit denen können die Kinder besser schreiben. Und als Jause geben wir ihnen Tee im Thermos mit, oder einfach Mandarinen, denn wir sind ja "arrivati alla frutta".

Montag, 12. November 2012

Sind so kleine Hände

lautet der Titel eines Lieds von Bettina Wegener, das mir immer schon auf die Nerven gegangen ist. Musste man damals aber hören. Und jetzt musste ich das ganze Wochenende an dieses Lied denken, denn ich war wieder mal gefangen in der Tanzschule vom Kind. Ja, dort, wo ich immer so leide, wenn ich so lange warten muss und die Mütter reden höre. Der Mann, der mit mir in die Schule gegangen ist und der auf facebook immer die guten Sachen veröffentlicht, hat an diesem Wochenende ein schönes Foto gepostet und geschrieben: Komm wir lassen uns erschießen. Wie üblich hat er damit voll den Nerv (den ohnehin blankliegenden) getroffen und ich möchte mich viel lieber erschießen lassen als mit den kleinen Händen in der Tanzschule zu sein, aber: zu spät. Im Dezember wird es eine Tanzaufführung an der Universität geben, deren Reinerlös kranken Kindern zu Gute kommt (nein ich weiß nicht welche Krankheiten diese Kinder haben, und ob der erste Verdienst des Kindes nicht in die Hände der Mafia fällt, aber ich gehe jetzt mal davon aus, dass das in Ordnung ist). Nun muss das Kind viel mit vielen Mädchen tanzen und Frau Direktorin sagt, die Kinder müssten bei der Aufführung ein T-Shirt tragen, welches bedruckt wird und zwar mit den lieben kleinen Kinderhänden. Die Mütter machen das mit ihren Kindern, sagt sie, und ich versuche, außer die Augen weit aufzureißen, keine Reaktion zu zeigen. Meine Reaktion wäre nämlich, ihr an die Gurgel zu springen und zu schreien: "Hören Sie, mir geht das dermaßen auf den Arsch, dass alle glauben, die Eltern wissen nicht, was sie mit ihren Kindern machen sollen, und dass dauernd für ein kreatives Freizeitprogramm gesorgt wird und dass ich eh weiß, dass man mit Kindern basteln und backen soll, aber ich bin total unkreativ und will mit meinen Kindern vor dem Fernseher sitzen und mit ihnen Criminal Minds anschauen, das ist nämlich der gemeinsame Nenner des Fernsehgeschmacks und wenn wir schon beim gemeinsamen Nenner sind: Sie haben keine Ahnung, was ich alles tue den ganzen Tag und wieviele Recherchen ich für meine Kinder anstelle und ich habe keine Zeit, ihnen die Knöpfe an die Hosen zu nähen, deshalb fallen ihnen die Hosen in die Knie und nicht nur, weil es modern ist und sie wollen von mir, dass ich mit dem Kind Leiberln bedrucke? Wenn, wird das Kind das allein machen, es ist nämlich viel begabter und geschickter als ich in diesen Dingen." Ich bin sehr stolz auf mich, dass ich in all diesen Jahren Gratwanderung gelernt habe, nur meine Familienmitglieder anschzureien, die können mich nämlich nicht in eine Zwangsjacke stecken.

Ich denke, das wird man alles noch sehen, denn der Termin der Tanzaufführung ist weit entfernt, aber Frau Direktorin macht Druck und es stellt sich heraus, dass eine Mutter organisiert, dass die Mütter gemeinsam mit den Kindern die Leiberln bedrucken, und mit gemeinsam ist gemeint: alle gemeinsam. Die Frau, die das organisiert, ist die, die letztes Mal, als wir so lange warten mussten, erzählt hat, sie hätten ein Kind getauft. Heimlich, weil die Eltern das nicht wollten. Ob das so stimmt, weiß ich nicht, aber so hat sie es erzählt. Ein weiteres Mal reiße ich einfach die Augen auf: "Nein, das Kind möchte das selber machen." Und wieder vergesse ich das Ganze gleich, ich habe nämlich noch zwei andere Kinder, die zwar keine Leiberln bedrucken müssen, aber Comix für eine Veranstaltung mit einem leibhaftigen Autor zeichnen, Urinproben für den Fußballklub abgeben und meterlange Listen an Hausübungen abarbeiten. Abgesehen davon werden sie von Hormonräuschen geschüttelt und sind extrem anstrengend.

Dann treffe ich die Täuferin zufällig im Vorzimmer der Tanzschule, und sie rechnet mir vor, dass ich allein für die vier Farben, in denen die Hände auf das weiße Leiberl geklatscht werden sollen, neun Euro ausgebe, während es nur zwei Euro sind, wenn wir uns alle zusammentun. Na gut, ich kann jetzt nicht sagen: "Ich zahle lieber sieben Euro mehr, anstatt mit ihnen etwas zu tun zu haben." Ich versuche mir noch eine Hintertür offen zu halten und sage, ich weiß nicht, ob ich das T-Shirt dann schon gekauft haben werde, wenn sich die Mütter treffen, aber es klingt absurd. Für keine dieser Mütter ist es ein Problem, ein weißes T-Shirt zu kaufen, in Gegenteil, sie warten Monate untätig darauf, dass ihnen die Dirketorin der Tanzschule sagt, dass sie JETZT ein T-Shrt kaufen dürfen und dann preschen sie los. Ich weiß, dass klingt ungerecht, wenn ich das so schreibe, es ist aber nicht ungerecht, es ist wahr.

Der Samstag kommt, ich habe das T-Shirt, die Mütter treffen sich eine halbe Stunde vor dem Beginn der Tanzstunde, ich habe die zwei Euro schon gezahlt und ich habe vor, in der zwei Stunden dauernden Tanzprobe meinen wöchentlichen Einkauf an Lebensmitteln zu absolvieren. Ich habe zwar noch kurz den Gedanken, dass man in einer halben Stunde kein T-Shirt bedrucken kann, bin aber zu naiv, zu zerstreut, zu bescheuert, mir darüber im Klaren zu sein, was da auf mich zu kommt. Natürlich will keiner in einer halben Stunde das tun und während unsere lieben Kinder tanzen, knien wir in der Garderobe auf dem Boden und drucken. Da ich schnell wieder weg will, beginne ich gleich, mit einem Schneebesen die Farben anzurühren. Das Leiberl vom Kind ist das erste, ein Prototyp sozusagen, denn das Kind ist das einzige männliche Mitglied dieser Truppe und wird deshalb immer bevorzugt behandelt. Ok, die Farben sind angrührt, die Zeitung auf dem Boden ausgebreitet, im Leiberl steckt auch eine Zeitung, es sind etwa 12 Mütter im Raum, alle reden, die Täuferin und ich führen das Ganze an, es wird heiß, das Kind kommt, alles geht erschreckend langsam, denn vier Farben, und dazwischen die Hände abwaschen mit dem Kind, das sagt: "Mama, das ist das Damenklo, ich hab ein anderes." Ich reduziere innerlich die Einkaufsliste aufs Essenzielle und fahre in Gedanken bereits mit überhöhter Geschwindigkeit, während jetzt erst die Kreativität ausbricht. "Der Gedanke ist der des freien Spiels der Kinder mit den Farben!" sagt die Täuferin. Die Mutter der Direktorin kommt und sieht das halbfertige Leiberl und sagt: "Hier muss noch eine blaue Hand hin! Er ist doch der einzige Junge, hier muss er noch eine blaue Hand machen." "Willst du das nicht machen?" frage ich sie. Nein, das Kind, bereits auf dem Weg zurück zur Probe, wird noch einmal zurückgepfiffen, blaue Hand, das Kind ist sehr freundlich und zeigt gerne die teure Zahnspange, die sein grauenhaftes Gebiss hollywoodlike macht und zwar in echt, danke Dottoressa Francesca. Ich gehe mit ihm die Hände waschen, na gut halt aufs Herrenklo und sehe die Spritzer in der Farbe "Fuchsia", ein Wort, das mir schon die Schweissperlen auf die Strin treibt auf seiner Tanzuniform und schaue so, dass er sagt: "Mama, dass war die Dame, die mir die Farbe auf die Hand gestrichen hat." Später sagt mir eine Frau, dass die Farbe beim Waschen rausgeht, aber wozu bedrucken wir dann die T-Shirts? "Mono-Uso?" frage ich. Natürlich geht die Farbe nicht aus dem Tanzdress, das weiß ich jetzt. Andere Kinder kommen, andere Mütter reden. Die Mädchen dürfen nur eine Farbe auf die Hände streichen, sonst geht ja bei der Probe nichts weiter. Eh klar. Ab und zu will ich der Täuferin sagen, dass wir das Ganze ein wenig industrialisieren müssen. Dass ich noch zum Einkaufen komme, glaube ich ohnehin nicht mehr, aber langsam bekomme ich Angst, ich verbringe die halbe Nacht in der brütend heißen Garderobe, in der ich jetzt auch noch das Leiberl des Kindes föhne und ein paar andere auch. Es ist nämlich nicht klar, ob man das T-Shirt seines ureigenen Kindes macht oder alle und die meisten machen das eigene und alle, aber ein paar Mütter machen vor allem das eigene, was ja auch ok ist, zumal andere Mütter nur kritisch schauen. Auch das kann ich verstehen, kritisch schauen ist das, was ich am allerbesten kann auf der Welt, aber wenn ich sehe, dass die ehemalige Englischlehrerin des Kindes sehr besorgt schaut und sagt: "da werdet ihr nie fertig" und bei der Diskussion um die blaue Hand beiträgt: "da steht doch die Mutter, sie soll das entschieden!", dann denke ich nur, nein, nur kritisch dreinschauen ist auch zu wenig. Ich müsste ihr sagen: "Hören sie, sie dumme Kuh, ich habe keine Worte, um auszudrücken, wie wurscht mir diese blaue Hand ist, weder in italienischm noch in deutsch oder englisch!" Ich sage kurz, dass ich glaube, dass man das auf der Bühne beim Tanzen unter 20 Kindern nicht so genau nachvollziehen wird können, aber ich komme mir dabei ein wenig wie eine Spielverderberin vor.


Eine Mutter, die die nie was redet, was mir eigentlich sympathisch ist, sitzt zweieinhalb Stunden auf einem Schemel und schaut dem immer hektischer werdenden Treiben zu. Wir reißen die Fenster auf. Bruchteile von Sekunden empfinde sogar ich so was wie gute Laune. Die Rückseite der T-Shirts kann sein, wie sie will, sagt die Mutter der Direktorin. Aber die blaue Hand musste millimetergenau sein, das versteh ich nicht, drehen sich die nie, die Kinder. Schschtt, keine neuen Probleme aufwerfen. Die Täuferin kriecht ohnehin schon auf den Knien zu einer anderen Frau und sagt: "Hier sind Mütter, die ihre zwei Euro nicht bezahlt haben, parliamoci chiaro!" Ich war's nicht. Damit das alles schneller geht, beginnen einige Mütter ihre Hände zur Verfügung zu stellen, die Täuferin ist ohnehin schon die ganze Zeit dran. Eine Mutter, die etwa zwei Meter groß ist und von der ich keine geschmiert bekommen möchte, legt los. Am Ende hat sie dann beide Hände voller Farbe und lässt sich von den anderen Müttern die Hose, die ihr über den Hintern rutscht wieder hochziehen und ihre in Schamhaargegend angebrachte Tätowierung verschwinden. Eine andere Mutter hat die Namen ihrer Kinder auf dem Unterarm tätowiert und föhnt eifrig das T-Shirt ihrer Tochter, unglücklicherweise ist es die, die dem Kind gerade am besten gefällt in dieser reichlichen Auswahl. Weil die Lange mit den großen Händen so viel Farbe verwendet, muss die am Unteram Tätowierte besonders lang föhnen. Manchmal sagt eine: "Wir sind kindischer als die Kinder!", das kann ich von mir nicht behaupten, ich bin todmüde und versuche mich irgendwie noch nützlich zu machen in diesem Chaos, in dem dann doch auf wundersame Weise ein paar T-Shirts fertig werden und zum Trocknen aufgehängt. Besondere Freude bereitet den Müttern, dass sie auch das T-Shirt der Tanzschuldirektorin bedrucken können und mit ihren riesigen Pranken druckt die Lange zwei orange Hände dorthin, wo vielleicht einmal der Busen der Frau Direktorin untergebracht sein wird. Ein paar andere Mütter kommen, die der Täuferin zwei Euro in die Hand drücken wollen, was aber nicht geht, weil die Hand ja voller Farbe ist. So ist das nämlich. Manchen gelingt es, sich auszuklinken. Aber die Täuferin ist immerhin eiskalt: "Ihren Nachnamen und Vornamen!" Diesen Müttern nützt es jetzt auch nichts, wenn ihre Töchter den Katechismus besuchen. Am Ende, als die Kinder fertig mit der Probe sind, und über ihre Mütter steigen, die auf dem Boden herumrutschen, machen die Töchter dann Fotos von den Müttern mit den bunten Händen.

Ich rase nun mit dem Kind davon und kaufe immerhin noch zwei Liter Milch. Ich bin ein bisschen beleidigt, weil eine Mutter, eine Freundin der Täuferin, eine Dame mit birnenförmiger Figur zu mir gesagt hat, ich könne jetzt eh gehen, es sei besser, wenn weniger da seien. Hätte sie mir das zwei Stunden vorher gesagt, die Birne! Zu Hause rennen mir alle entgegen, weil sie mit den vollen Einkaufstaschen rechnen. Die Armen. Eine Stunde später habe ich geschafft, jeden einzelnen von ihnen zu verärgern, weil ich so frustriert bin. Am Ende hatte mich die Täuferin gefragt, ob ich mich amüsiert habe. Ja, so, dass ich meine Kinder um neun Uhr schlafen schicke, obwohl Samstag ist, damit ich lange sinnlos mit meinem Ehemann diskutieren kann. Das Kind hat aus lauter Ärger über mich mit seinen kleinen Händen an die Tafel im Kinderzimmer einen Gruß an mich gerichtet: "Brutta notte!" Schlechte Nacht, als hätte nicht schon der Nachmittag gereicht.

Samstag, 10. November 2012

LOOK!

Freund Smitt hat Fotos von seinem Aufhenthalt bei der Dattilografa gemacht:
http://p.log.smitt.at/
Wann und wie hat er das gemacht? Er saß doch nur sinnierend auf der Terrasse.

Freitag, 2. November 2012

Manchmal

wenn ich abends kurz vor neun mit MM in der Küche stehe, im Ofen ein Blätterteigkuchen mit Ricotta und Mangold, und ihm sage, dass ich Neuigkeiten über die Schule des Kindes habe, nämlich dass die Carabinieri und die NAS (Nucleo Antisofisticazione), die die Hygiene kontrollieren, in der Schule waren, weil die Mütter aus der einen Schule, die Mütter (?) der anderen Schule, die übergangsweise in der Schule A einquartiert wurden, weil die Schule B renoviert wird, geklagt haben, weil die Kinder aus der Schule B den Kindern aus der Schule A den Speisesaal der Mensa rauben, weil sie dort eine Klasse untergracht haben und also die Carabinieri und die NAS festgestellt haben, dass es in der Schule nicht möglich ist, unter hygienischen Umständen zu essen, worauf der Bürgermeister gemeint hat, dann gibt es also ab Montag keine Mensa und meine Freundin, die mir das erzählt hat, sagte, dann müssen die Eltern ihre Kinder mittags von der Schule holen, ihnen zu Hause was zu essen geben und sie dann wieder in die Schule bringen, die ja bis vier Uhr dauert, was sie aber sicher nicht machen würde und dass im übrigen die Lehrerin bei der Versammlung, bei der ich nicht war, weil ich von dieser Lehrerin bitte nichts mehr hören möchte, gesagt hätte, dass diese Klasse eine hervorragende sei und sie in der Mittelschule nicht getrennt werden würde, denn die Kinder würden sich gegenseitig positiv beeinflussen und ich sage zu MM, dass die Lehrerin im Land der Feen lebe, denn ob eine Klasse getrennt wird oder nicht, hängt nicht davon ab, ob sie das will oder nicht, sondern einzig und allein davon, welchen Stundenplan die Eltern wählen, nämlich 30 oder 40 Stunden und mir MM sagt, er verstehe meine Philosophie der Lehrerin gegenüber nicht und ich antworte, ich hätte gar keine Philosophie, ich würde nur Fakten aufzählen, und dann später, wenn wir den Blätterteigkuchen mit den beiden großen Kindern essen, denn das Kind ist beim Halloweenfest eben bei der Freundin, die mich mit diesen besorgniserregenden Neuigkeiten versorgt hat, der große Sohn sagt, er hätte nicht verstanden, ob er für das Treffen mit dem Autor eines politisch wertvollen Kinderbuches, das gegen die Mafia spricht, ein Haus zeichnen solle, ein großes, oder einen Comix, und ich sage, dann glaube ich, dass ich die Lehrerin anrufen muss und er sagt, danke, das glaube ich auch, dann wünsche ich mir, dass ich irgendwen anrufen und sagen kann: "Hol mich hier raus". Aber wer sollte das sein?

Samstag, 20. Oktober 2012

Kampf dem roten Rüsselkäfer

Dieser Titel klingt wie ein demagogisches Pamphlet aus den Anfängen des Kalten Kriegs, es geht aber um unsere Palme. Vor unserem Haus steht nämlich eine über hundertjährige Palme oder zumindest ca. hundertjährige, immerhin sagen alle, die hier schon lange wohnen, dass die Palme immer schon da gewesen wäre. Ich weiß nicht, ob wir das Haus gekauft hätten, wenn nicht diese große Palme davor gestanden hätte. Dann habe wir das Haus gekauft und danach hatte ich eine Zeit lang irrationale Ängste, jemand könne aus Bosheit die Palme umsägen. Ich war immer beruhigt, wenn sie noch da war.
Ab und zu habe ich dann in den letzten zwei Jahren, seit wir hier wohnen, gedacht, dass mein Leben leichter wäre, wenn die Palme nicht da stehen würde, denn die Palme hat kleine Datteln, die täglich auf den Boden fallen und die man irgendwann wegkehren muss. Entschuldigung liebe Palme.
Seit heute hat sie keine Äste mehr und sieht kahlgeschoren aus. Man kennt das. Man hofft, dass es vorbei geht.
Irgendwann vor ein paar Wochen hat die treue Pflanze ihre Wedel nicht mehr stolz in den Himmel gereckt, sondern leicht schlapp an sich herunter hängen lassen und sah aus wie der Kopf von Rod Stewart in den späten 1970er-Jahren, schlimmer noch, wie Tina Turner. Ich habe das schon bemerkt, aber ich dachte, dass nach drei Monaten ohne Regen auch eine Palme müde aussehen darf und habe freundlich das abgestandene Wasser in der Trinkschüssel vom Hund auf sie geleert.
In Wirklichkeit hat sie sich schon lange in den Fängen des roten Rüsselkäfers befunden, den ich echt nicht kannte, aber viele andere offenbar schon, denn man hört von ihm auch im Fernsehen und man kann viel im Internet lesen, was ich jetzt aber auch nicht machen werde, denn ich bin ihm heute leibhaftig begegnet.
MM hat das gleich gewusst, der ist nämlich informierter als ich und hat in die Wege geleitet, dass ich mich gestern vor acht Uhr morgens dem Obermaurer gegenüber sah, was meinen Gefühlshaushalt noch mehr durcheinander gebracht hat. Immer wenn es ums Krepieren geht, taucht der Mann auf, um irgendwie zu signalisieren, dass es auch Leben gibt, denn trotz seiner Herzprobleme, die er meines Wissens nach nicht zu lösen gedenkt, lebt er immer weiter mit ungebremster Energie und schonungslos.
Er zählt schon ab, wie viele Gerüstteile er braucht, um unsere Palme einzurüsten, zwei Jahre, nachdem er sein Gerüst am Haus abgebaut hat. Ich schaue ihn verärgert an, denn meine verhohlene Verehrung hat in diesen beiden Jahren mehrere Mutationen vollzogen. Nachdem ich die Phase überwunden hatte, in der ich wie Robert de Niro in Cape Fear vor seinem Haus mit einem Messer auftauchen wollte, nämlich als der Abfluss vor dem Haus nicht funktionierte und ich beim Betrachten der zahlreichen Fliesen in den zahlreichen Badezimmern dachte, dass ich selber besser verfliesen kann/könnte und bei allen anderen Problemen auch ihn verantwortlich machte, vor allem bei den Problemen mit der Bank, wurden er und die ganze Geschichte, die mit ihm verbunden ist, allmählich blässlich in meinen Gedanken, bis ich wieder die lebensrettende Funktion in seiner Existenz für mich entdeckte und dann fing alles wieder von vorne an.
Am selben Nachmittag hüpfen dann die Maurer auf ihrem in "quattro quattro otto" (bei uns würde man sagen: in null komma nichts) aufgestellten Gerüst herum und ich versuche, einen intelligenten Eindruck zu machen, und nicht händeringend neben dem Schauplatz zu stehen.
Insgeheim hoffe ich immer noch, dass MM einer Verschwörungstheorie zum Opfer gefallen ist und es keinen roten Rüsselkäfer, der Palmen aushöhlt, gibt. Ich denke, dass eine Beschneidung der Palme aber sicher nicht schaden wird. MM ist zwar ein Held, aber kein Superheld, und er ruft den Obermaurer an, um ihn zu bitten, noch ein paar Gerüstteile einzusetzen, denn er fühlt sich nicht gar so wohl in der Höh mit der Motorsäge in der Hand. Ja, am nächsten Morgen wird dafür gesorgt werden, obwohl es Sonntag morgen sein wird und ich noch verärgerter schauen werde.
Ein paar Palmwedel liegen schon auf dem Boden, das Kind wird dramatisch: "Meine Palme!"
Da mit dem Obermaurer immer ein paar Sachen einher gehen, betritt nun auch ein weiterer Mann mit einer Motorsäge die Bühne, nämlich Aldo, der Held des Baumschnitts, der hier schon eigentlich vor Wochen auftauchen sollte. In Wirlichkeit müsste man das alles filmisch festhalten, wie diese Männer auf unseren Bäumen herumspringen, denn anderswo wird das ans Fernsehen verkauft, aber ich sitze verbissen in meinem Arbeitszimmer UND WILL ES NICHT SEHEN, denn ich will nicht nachdenken, wer zahlen muss, wenn da einer abstürzt. Aldo schneidet zur Freude meiner Schwiegermutter unserer großen Eiche ein paar Äste ab, was uns angeblich heizungstechnisch durch den Winter bringen wird. Aldo ist mit Piero unterwegs und um es kurz zu machen: Piero kniet irgendwann auf der Palme und sägt ihr die Wedel ab. Aldo hält ihn an einem Fuß fest. Sie sind ganz nah bei mir, aber aus dem Augenwinkel sehe ich nur die Äste wackeln und ich schaue ganz fest in meinen Computer. Die Kinder schauen ganz fest in ihre neuen Nintendospiele und ab und zu höre ich MM: "Piero, Piero, warte!" rufen. Keine Frau schaut zu, Männer brauchen diesen Hormonrausch ganz alleine für sich. Angeblich hätte sich unsere brave alte Palme hin und herbewegt, mit Piero auf ihrer Krone.
Ok, die Männer haben es überlebt. Ob es die Palme überleben wird, werden wir sehen.

Der Hund hat ihn übrigens entdeckt, den roten Rüsselkäfer, und hat ihn schrecklich angebellt. Normalerweise bellt er Igel auf diese insistierende Art an, aber auch Hirschkäfer und so eine Art ist der rote Rüsselkäfer und sein Rüssel ist irgendwie eine Art Speerspitze und ich habe ihn mit Freuden zerquetscht. Er ist viel größer, als ich mir das vorgestellt habe, er ist mindestens drei Zentimeter groß und meine Schwiegermutter sagt am Telefon, ich soll vorsichtig sein. Die Palme ist ihr herzlich wurscht. Der Rallyefahrer, der jetzt Fussballer ist und mit Leidenschaft die ganzen Palmwedeln und die unreifen Datteln verbrennt, fragt sich auch, was er machen soll, wenn ihn der Rüsselkäfer beisst.
MM sagt, das nächste Exemplar, das mir unterkommt, soll ich in ein Glas tun, damit er ausprobieren kann, wie das Gift wirkt. Ehrlich gesagt würde ich jeden Rüsselkäfer am liebsten einzeln erschießen. Und dann möchte ich gerne alle erschießen, die mich mit dem Blick ansehen, der sagt: diese Frau hat es geschafft, eine hundertjährige Palme umzubringen. Nein, ihr Deppen, jemand hat den Rüsselkäfer aus Melanesien eingeschleppt und ich war das nicht, ich weiß nicht einmal wo das ist. Ich sage (weil mir das meine gebildete Freundin erzählt hat), dass ganz Sizilien mit dem Problem kämpft und die wohlwollendste Antwort, die ich bekomme, ist, dass nicht nur in Sizilien, dieser unwichtigen kleinen Insel, sondern auch in unserem extrem bekannten Ort zwei Palmen bereits ein der Rettung dienliches Häubchen verpasst bekommen haben.

Es ist sehr still draußen, weil keine Palmzweige rascheln. Ein bisschen erschrocken sieht sie aus, die Palme, so ganz ohne Bedeckung, und ein bisschen starr.

Sonntag, 29. Juli 2012

Telefonieren

"Nein, ich bin der Rallyefahrer, ja, es geht mir gut, sehr gut, wie geht es euch?" Wieso lügt der Rallyefahrer am Telefon? Sein Leben ist schwierig, da weder seine Mutter, noch sein Vater, noch seine Brüder seine neue Lebensphilosophie akzeptieren wollen, die da lautet: Die größte Folter für mich ist zu arbeiten und zu lernen. Er ist dreizehn. Menschen, die sich professionell mit dem Wachsen von Menschen befassen, sagen, das ist normal.
"Ja, Mamma ist da." Boing, wird mir ein Telefon ins Gesicht gedrückt. Am anderen Ende lächelt eine Männerstimme. Ich bin zwei Stunden versucht zu denken, das gelte mir. Mein Freund, der Vater der drei Töchter ist dran. Anfangs denke ich, er lacht, als hätte er in einem Hotelzimmer, abseits unserer sechs Kinder und zwei Angetrauten entdeckt, was das Leben sonst noch zu bieten hat und sei höchst erfreut darüber. Dann geht MM mit dem großen Sohn ein Feuerwerk anschauen und der Rallyefahrer plus das Kind können ihre geheimen Wünsche, nun bis drei Uhr morgens fernzusehen nicht verwirklichen und müssen ins Bett gehen. Ich wasche das Geschirr ab und dabei kommt mir eine Erkenntnis. Er denkt gar nicht an mich. Er denkt an sich. Er telefoniert gern mit mir, weil ich "Ja, ja!" sage und nicht versuche, selbst zu sprechen. Das habe ich mir verboten, weil unsere Telefonate sonst endlos dauern würden. Keine andere Frau in Italien würde das tun, ausgenommen eine Russin, aber da kennt er wahrscheinlich keine. Alle italienischen Frauen reden selbst. Russinnen sind (glaube ich) schlau, ich bin gut erzogen. Aber das ist noch nicht die Erkenntnis. Die Erkenntnis hat etwas mit meinen Lieben zu tun, die anfingen, als ich noch klein war und die Männer mir das Gefühl geben konnten, ich wisse nichts (von dem). Dann gab es die lange Zeit der Übereinkunft, in der sie wissen, also verstehen. Und jetzt bin ich es, die weiß und also versteht, das macht mich attraktiv.
Jahrzehnte, Jahrhunderte kommt mir vor, führen wir einen Kreuzzug, um verstanden zu werden. "Du musst dich nicht entschuldigen, ich will nur, dass du mich verstehst."
An einem sehr entlegenen Ort, an dem, wie ich glaube, wenig Menschen je waren, obwohl er schön ist und es einen See gibt, aber wer war schon in Makedonien, hat ein Mann, den ich dort kennengelernt habe, meine Hand ergriffen und mir erklärt, dass seine Frau ihn nicht verstehe. Was für eine Hypothek. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich ihn verstehen können.
Klar, selten sagt jemand: Ich liebe diese Frau, sie versteht mich nicht.
Nach der Erkenntnis, dass mein Freund mit den drei Töchtern nicht mich, mich, mich liebt, sondern einfach gern mit mir telefoniert, weil ich höre, was er sagt und weil ich lese was er schreibt (er ist nämlich nicht nur Vater von drei Töchtern und Geschichtelehrer, sondern auch Autor - nicht Schriftsteller, das ist ein anderer...), komme ich auch noch zu der Einsicht, dass das Interessanteste an jemand anders das ist, was man nicht schon kennt und versteht. So sagt er zum Beispiel abgesehen davon, dass er die Schulbücher von seinen Töchter verkauft hat, dass er gerne verreist, weil es ihm gefällt, von einem andern Ort auf das zu schauen , was er hier tut. Und das kommt mir beim Geschirrwaschen. Ich glaube, alle griechischen Philosophen haben ab und zu Geschirr abgewaschen, außer Diogenes, der hat gleich im Abwaschbecken Platz genommen.

Montag, 16. Juli 2012

Heimweh

"Was geht euch am meisten ab von Italien?" frage ich meine Kinder. 59.999.000 Menschen tun immer so, als würden sie mich irrsinnig um meine alte Heimat beneiden. "Dalle stelle alle stalle" sagte eine Frau in Sizilien kürzlich zu mir: Ich sei von den Sternen in die Ställe gekommen. Was geht meinen Kindern also von Italien ab? Zwei krähen: "Papi!", der dritte sagt: "Alles". Weil er ein extrem rationaler 14-jähriger Mensch ist, relativiert er dann: "Manches ist hier besser, manches in Italien."

Ich kann gar nicht sagen, was mir am meisten abgeht, denn ich krieche, wie man hier sagt, am Zahnfleisch. Wer sich nicht so weit herablässt, geht immer noch am Stock.

Während ich in der ersten Woche unseres Aufenthalts im siebten Himmel schwebte: Alte Bäume im Wind, die achso vertraute Sprache, die Bibliothek, die Buchhandlung, die vielen Freunde, das Früher, begann es in der zweiten Woche anstrengend zu werden: Die alten Bäume, die vom Regen gepeitscht werden, die allzu vertraute Sprache, die Verrückten, die auf der Straße loschreien, das Übermaß an Familie und Vergangenheit und zu wenig Zeit, alles zu verdauen. In der Buchhandlung bekomme ich Kopfschmerzen, wegen den Büchern und den Leuten, in der Nacht schlafe ich schlecht und weiß nicht warum und tagsüber hämmert ein Satz, den ich schon lange nicht mehr ausgesprochen habe: "Ich kann nicht mehr."

Ein Tanzfestival findet statt und ich zwinge meine Kinder, zu einer einleitenden Veranstaltung zu gehen. "Warum müssen wir das?" fragt der Rallyefahrer. "Weil ich glaube, dass das vielleicht interessant für euch sein könnte." Ich denke, dass wir in Italien einen Großteil unseres Lebens dem Tanzen/dem Tanzen dem Kinder, meinem ja nicht, widmen und dann kann man bitte gefälligst eine halbe Stunde sich in einen großen Saal mit tanzambitionierten Menschen setzen und schauen was passiert. Ein Video von tanzenden Menschen wird gezeigt und mir rollen gleich ein paar Tränen die Wangen hinunter, denn es sind normale Menschen, die tanzen und denen das Tanzen Spaß macht, kein Schwanensee. Ich will auch. "Mama weinst du?" Der Rallyefahrer will sterben, das Kind zeigt sich erstaunlich renitent, typisch. Tanzen gilt nur, wenn es um ihn geht. Mein Rettungsanker ist der große Sohn, der sich interessiert englische Vorträge anhört und angesichts einer Urban Dance Kostprobe genauso illuminiert ist wie ich. Der Rallyefahrer und das Kind sitzen bereits vor der Tür. Der Rallyefahrer hat entschieden: Er will ab Herbst Fußball spielen (eh schon spät, sagt mein Bruder). Ich habe auch entschieden: Der große Sohn darf Fußball spielen UND Breakdance machen, aber ich glaube er wird ohnehin nur letzteres wollen.

Aber abgesehen davon, dass Menschen wie ich in der großen Stadt tanzen könnten und dabei nicht einmal in den Golden Age Kurs gehen müssten, weiß ich nicht mehr, was ich hier tun soll. MM geht, wenn er hier ist, mit den Kindern in alle Museen und ich glaube nicht, dass sie ihn fragen, warum sie dorthin gehen müssen. Das Funkeln in seinen Augen treibt die Kinder an und seine absolute Ignoranz dem Jammern gegenüber. Ich erinnere mich nicht, dass ihre Beschwerden in ihm je eine andere Reaktion als herzliches Lachen hervorgerufen haben. Aber er ist nicht hier, sondern sitzt immer noch, wie annehme, im Gurkenbeet.

In der dritten Woche dürfen meine Kinder bei meiner Freundin und ihren Kindern die Ferien verbringen.
Und ich?
Ich könnte ins Kloster gehen.
Ich könnte nach Paris fahren.
Ich könnte in meiner Wohnung aufräumen.
Ich könnte wandern gehen.
Ich könnte lesen, lesen, lesen.
Ich könnte schreiben, schreiben, schreiben.
Ich könnte Freunde treffen.
Ich könnte ein Service für die Heizungstherme organisieren.
Ich könnte so viel in Coffeeshops gehen, dass ich bis Weihnachten voll davon bin.
Eines werde ich sicher tun: Ich gehe ins Kino und schaue mir den neuen Film von Agnes Varda an. Ja, möglichst schnell, ich nehme an, dass ich danach weiß, was ich zu tun habe. Bevor ich zurück zum Gurkenbeet fahre, zu den Fröschen und den Zikaden, zu den reifenden Trauben und den hoffentlich vorhandenen Feigen. Und dann wird mir Leid tun, dass ich nicht einen Koffer voller Bücher mit Horrorgeschichten gekauft habe und in der Bibliothek nicht zwischen den Pädagogik- und den Philosophiebänden in meiner langersehnten und kurz aufblitzenden Freiheit schnell einen fremden Mann geküsst habe.


Freitag, 13. Juli 2012

Die Dattilografa geht ins Kloster

In der großen Stadt hat die Dattilografa eine richtige Tante und die ist richtige Klosterschwester. Sie geht sie mit den Buben besuchen und weiß beim Betreten des Klosters gleich und ganz und gar, warum vieles so ist, wie es ist. Warum ich aus der Kirche ausgetreten bin und warum ich, wenn ich mich nach Ruhe und Klarheit sehne nur einen Ort vorstellen kann: ein Kloster. Wenn das nicht geht, hilft auch eine Kirche, aber bitte kein Dom, je kleiner und schrumpeliger die Kirche, desto größer die Einsicht, die zu gewinnen ist. Das hat also, ganz klar, etwas mit dem kleinen Mädchen zu tun, welches die später entartete Nichte der Klosterschwester einmal war. Jetzt ist die Frau wieder herzeigbar, denn sie hat drei Kinder zum Herzeigen und die sind stattlich und außerdem viel sozialer und belastbarer als ich es mir je gedacht habe. Ich weine gleich, als ich die nun 90-jährige Tante Klosterschwester sehe. Der Rallyefahrer grinst in einer Mischung aus verständnisvoll und betreten: "Mamma, sag nicht, dass du gerührt bist." Keiner weiß, dass ich so bewegt bin, weil ich die Tante das erste Mal ohne Schleier sehe und ich mich immer immer immer gefragt habe, wie sie ohne den aussieht. Die Mutter der Dattilografa ist auch mit, sie hat das alles ja inszeniert und dann sind da noch ein paar Klosterschwestern (ein paar machen um 3 Uhr nachmittags gerade in der riesigen Küche sauber - wie ich die Küchen in den Klostern liebe...) und ein paar Krankenpflegerinnen aus einem Nachbarland. Das ganze Kloster liebe ich. Da ist der Linoleumboden über den wir letztens auf dem Fest so viel geredet haben und er ist makellos geputzt. Stille, Sauberkeit, Schlichtheit. Wo sind die anderen Schwestern? Das ist die Frage.
Die Tante spricht seit ihrem 90. Geburstag nicht mehr, sie ist auch eigentlich bettlägrig, aber die tüchtigen Pflegerinnen habe sie uns zu Ehren in einen Rollstuhl gesetzt und wir sitzen in einem netten Zimmer. Die Kinder schauen sie freundlich an und sie schaut auf demselben Niveau zurück. Ehrlich gesagt wünsche ich mir, sie würde angesichts dieses Tatsache zu sprechen beginnen und das tut sie auch, aber man erwartet von ihr, sie spräche wie ein Wasserfall. Artig sagt sie "Danke", wenn man Grüße ausrichtet. Sie schaut beglückt auf die Kinder und die schauen beglückt zurück. Sie stellen fest, dass die Oma und die Tante sich voll ähnlich schauen und ich habe auch denselben Mund. Am nächsten Tag gehe ich zur Friseurin. Die kann zwar meinen Mund nicht verändern, aber von ihm ablenken. Die Schwestern haben eine riesigen Kuchenteller vorbereitet und sagen: "Wie haben uns gedacht, bei den Burschen geht was weg." Das haben sie ganz richtig eingeschätzt und die Buben lassen sich nicht bitten." "Sehr tüchtig, die Schwestern!" stellt das Kind nach dem dritten Stück Kuchen fest und die Schwester lacht (auch tüchtig), als ich es ihr kolportiere. Sie wird es der Küche ausrichten. Ich nehme an, die werden dann auch glücklich kichern.
Um halb vier Uhr kommt bereits das Abendessen, immerhin sind wir auf der Krankenstation. Eine wichtige Schwester fragt die Tante freundschaftlich, ob sie ihr Abendessen jetzt, oder später auf dem Zimmer wolle. Die Tante schaut lange sehr nachdenklich. Ich glaube, diese Entscheidungen sind sehr anstrengend. Die winzigen, sehr liebevoll belegten Brote werden gebracht und dazu ein Teller mit Broten für die Kinder. Das Kind greift auch hier wohlerzogen zu. Die Tante Klosterschwester bekommt auch einen Teller mit Nektarinen, die sie augenblicklich isst. Der Rallyefahrer reicht ihr ein Taschentuch, er hat bemerkt, dass sie sie sich gerne schnäuzt und anschließend ihr Taschentuch sehr ordentlich wieder zusammen legt. Als ich aufs Klo muss und meine Mutter mich begleitet, stelle ich fest, dass die Putzgeräte auf dem Klo mit einem nie gesehenen Sinn für das Praktische, Unausweichliche und Notwendige aufgehängt sind. Das Irdische einfach. Dann eile ich zurück, weil ich mich frage, was meine Kinder inzwischen ganz allein mit der schweigsamen Tante machen. Ich stürme ins Zimmer und sie sagen mit der Ruhe der Weltreisenden, die sie sind: "Sie hat uns ihre Brote gegeben."  Jedes Kind sitzt vor einem der liebevoll belegten winzigen Brötchen, die Tante schaut zufrieden. "Sie wollte teilen." sagt meine Mutter, ein wenig irritiert. Sicher ist es komisch, eine kindische große Schwester zu haben.
Als wir gehen, müssen wir eine Tür hinter uns lassen, auf der steht: "Tür bitte sanft schließen." Das Kind zieht die Tür mit einer Anmut zu, als ginge es darum, die ganze Welt vor Last und Störung zu schützen.
Am nächsten Tag reden wir wieder über die Schwestern. Ich sage, sie haben ihr Leben Gott gewidmet. "Gott gibt es nicht." sagt das Kind. "Das ist eine Frage des Glaubens." sage ich. "Nein, wie die Welt entstanden ist, kann ich dir sagen. Also: da gab es diese Explosion..." Das hat er jetzt aber nicht von mir. Und ich finde es auch ein bisschen traurig.

Sonntag, 8. Juli 2012

mein neuer/neues blog

Die große Stadt inspiriert die Dattilografa. Die Datti hat ja ihre Mission gefunden und die ist nicht, wie man vermuten könnte, das Belauschen fremder Leute, noch die Aufzucht von Tomaten und auch nicht das zu Fall Bringen des Bürgermeisters in ihrer Wohngemeinde in Süditalien, obwohl, das könnte noch kommen. Nein, so habe ich es aufgeschrieben, weil es in mir wurlt: Die Leute sollen lesen. Natürlich sollen sie lesen, was ich schreibe, aber auch sonst alles. Als wir übersiedelt sind, habe ich Kund getan, dass ich gedenke, im neuen Ort eine Buchhandlung zu eröffnen. Meine Kinder riefen: "Wir helfen dir die Bücher tragen!", MM hat, ohne mit der Wimper zu zucken, festgestellt: "Na wenn du nicht davon leben willst!". Dann haben wir ein Haus umgebaut und ich habe keine Kraft mehr für weitere Utopien. In Süditalien kann man nur Schulbücher verkaufen und auch die gehen nicht gut. Aber die Leute sollen dennoch lesen und daher sind meine Kinder die ersten Opfer meines neuen Sendungsbewusstseins. Eine harte Nuss. Mein ältester Sohn war zehn Jahre alt, als er Lesen und Schreiben lernen (musste) und er war nicht sonderlich begeistert davon. Der Rallyefahrer war acht und das Kind, das als einziges die Kurve hätte kratzen können, da es bereits mit fünf Jahren in eine vorschulische Institution kam, fand aus solidarischen Gründen, dass wer lesen muss, nicht überleben, sondern sterben wird. Das ist ihm zum Glück entfallen und manchmal passiert es ihm, dass er liest, einfach so, für sich selbst.

Und um meiner Mission gerecht zu werden will ich täglich oder zumindest häufig aufschreiben, welchen Beitrag ich zur Erhaltung der Buchstaben getan habe. Da ich zu viele amerikanische blogs lese, in denen es erstens um accountability geht und zweitens darum, dass jeder, der eine Marmelade kocht, das in seinem blog veröffentlicht (schön und mit Fotos, was mir nicht gelingen wird) ist es ganz nahe liegend, dass ich das auch tue.

Das Layout des neuen blogs ist abartig und verwirrend, ich würde das nie lesen, aber vielleicht werde ich im Lauf der Jahre von einer Leserin auch noch zu einer IT-Expertin und kann das ändern.

Der/das blog heißt: lesenschreibenarbeiten.blogspot.com

Samstag, 7. Juli 2012

Sex

Wer an zwei Plätzen auf dieser Welt zu Hause sein will, der muss mit einigen Verwirrungen rechnen. Die Frau in der Untergrundbahn der großen deutschsprachigen Stadt kann nicht Maestra Ornella, die erste Lehrerin des großen Sohns sein, sie schaut ihr nur komischerweise ähnlich. Genausowenig ist der Mann, der den Steinbruch am Ende unserer Hügelstraße in Süditalien betreut, ein Komparse aus einem Film über die Kaiserin von Östereich.
Kommen alle Menschen zwei Mal vor auf dieser Welt? Wo bin ich als Doppel?

Mein Hobby an diesem Ort ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren und den Menschen zuhören. Belauschen kann man es nicht nennen, sie schreien nämlich alle. Viele verstehe ich nicht, die sprechen in einer mir unbekannten Sprache, ganz nahe allerdings der Dialog zweier junger Frauen über einen Typen, der irgendwie schwer zu packen ist, man weiß nicht genau, ist er Feuerwehrmann oder was? Jedenfalls hatte er das Licht aufgedreht (das hat der Tommy auch gemacht) und dann haben sie zu knutschen begonnen und das Licht begann zu flackern, das war urarg. Dann hat er die Lampe abgeschaltet. Und das Licht hat weitergeflackert. Dann hat er den Stecker aus der Steckdose gezogen. Das Licht hat weiter geflackert. "Ich hab geglaubt, ich muss vom Fenster springen." Mein Körper versteift sich, auch ich finde es seltsam. Obwohl ich aus dem Fenster gesprungen wäre. Er hat den Hauptschalter ausgemacht, das Licht hat immer noch geflackert. Jetzt weiß ich die Lösung! Er hätte die Glühbirne aus der Fassung drehen sollen, ich kann mich in letzter Sekunde beherrschen, mich nicht umzudrehen und meine Erkenntnis loszuprusten. Zum Glück, denn nun gehen die beiden in ein anderes Zimmer. "Dann haben wir Sex gehabt." Wie bitte? Die Stimme senkt sich dabei nur ein klein wenig. Danach hätte der angebliche Feuerwehrmann sie, von der ich endlich wissen will, wie sie aussieht, gefragt, was sie jetzt tun wolle. Sie hätte gesagt: "Du hast ja jetzt gehabt, was du wolltest, da kann ich ja nach Hause gehen." "Meinst du das ernst?" "Ich weiß nicht."
Darüber muss ich jetzt noch länger nachdenken, als über die flackernde Lampe. Sie wusste nicht, ob sie das, was sie sagte, ernst meinte. 
Ich habe mich dann doch umgedreht. Sie sah aus wie vierzehn, sie konnte aber auch achtzehn sein, sie sah lieb aus. Sehr lieb. Und sie hatte mit dem vermutlichen Feuerwehrmann im flackernden Licht einer ausgeschalteten Lampe Sex gehabt und danach etwas gesagt, von dem sie angeblich nicht wusste, ob sie es ernst meinte. Ich kann nicht aufhören, das Leben schwierig zu finden.

Kurzfristig meinte auch ich, meinen Traummann gefunden zu haben, er hat aber mit der Feuerwehr  nichts zu tun, sondern arbeitet in einem Geschäft für Handys, in dem ich meinen Internetstick gekauft habe, der dann nicht funktioniert hat. Mit seinen zarten Händen hat er an meinem Computer rumgedrückt und mich dann in einen anderen Laden geschickt, wo mein Computer neu aufgesetzt wurde. Alle Daten sind nun verloren und ich fühle mich unendlich frei. Nichts ist schöner als ein weißes Blatt und der Mann, der es einem in die Hand gedrückt hat. In der Nacht ist es zu heiß zum Schlafen und ich denke an das junge Genie mit seinem gebügelten Hemd und seiner unglaublichen Ruhe. Am nächsten Tag sehe ich ihn wieder, als ich die viertägige Mission beende, mich in der großen Stadt mit dem Internet zu verbinden, denn wer alleine mit drei Halbwüchisgen unterwegs ist, kann von der Benützung von Coffeeshops mit Internet nur träumen. Eine hastig gesendete Mail in der städtischen Bücherei ist das höchste aller Gefühle und die Mail geht langweiliger Weise an den Ehemann. Wieder ein gebügeltes Hemd und die Ruhe, heute rasiert. Seit wann gefallen mir eigentliich Milchbubis?

Ich habe das Gefühl alles zu kennen, den Sex mit dem Feuerwehrmann, den genialen Nerd, die Straßenbahn, die U-Bahn, die gepflasterten Straßen, die Komparsen, die Hitze, die Sommerbäder, die Gewitter, die Presslufthämmer, die Müllabfuhr, die großen Bäume, deren Blätter im Wind wackeln, das Wasser am Stadtrand, die Leser und die Bücher und sogar die Schriftsteller. Am wenigsten kenne ich die Halbwüchsigen, deren Erziehungsberechtigte ich bin. Meinst du das ernst? Ich weiß nicht.

Sonntag, 24. Juni 2012

Weichseln



Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das besagt, dass wer immer glücklich in seinem Leben sein will, Gärtner werden soll. Damit sind bestimmt Gärtner im Stadtgartenamt einer wohlhabenden Stadt im nördlichen Teil Europas gemeint. Sie pflanzen im Sommer von 8 Uhr bis 16 Uhr (eine halbe Stunde Mittagspause bezahlt) Blumen. Im Winter trinken sie Tee und mulchen. Sie haben ein fixes Einkommen und sind im besten Fall unkündbar. Wenn sie Karriere machen, dürfen sie planen, welche Blumen im Park gesetzt werden.
Uns kann man vielleicht nicht als Gärtner bezeichnen, sondern eher als Opfer eines gewissen Landbesitzes. "Wir wollten ein bisschen Land haben", sage ich oft, um unseren Hauskauf zu rechtfertigen, der uns in the middle of nowhere geführt und uns eben ein bisschen Land, nämlich 5000 qm, was zu viel für einen Blumengarten und zu wenig für eine Landwirtschaft ist, beschert hat. Auf dem bisschen Land stehen ein paar Obstbäume. Nach der Heimsuchung der Pflaumen, die immer noch andauert, sind nun auch die Weichseln reif. Möglicherweise gehört der Weichselbaum sogar den Nachbarn, aber auf unserer kleinen Straße stellen wir die Leiter auf und zurren die Weichseln in den Korb. Ich erkläre mir meine extreme Unlust, die Weichseln ins Körbchen zu holen, damit, dass letztes Jahr an dem Tag, als wir die Weichseln ernteten, unsere Nachbarin Teresa unverhofft vor mir auf die Knie gegangen ist, aber nicht, weil sie mich so bewundernswert findet, sondern weil ihr plötzlich schwarz vor den Augen geworden ist. Was dann geschah und wie das Kind alle kräftigenden Getränke, die der armen Frau kredenzt wurden, zu sich genommen hat, habe ich in dem Blogeintrag "una domenica bestiale" beschrieben. Das muss jetzt ungefähr ein Jahr her sein und es ist erschreckend, wie wenig wir uns verändert haben. Diesmal ist es nicht so heiß, der läppische orange Hut des großen Sohns ist tief in einer Lade vergraben und der Rallyefahrer stellt sich erst hilfsbereit auf die Leiter und langweilt sich dann schnell. Er beschließt, dass mir die Leiter zu halten viel heldenhafter ist und erzählt mir dabei von allen elektronischen Spielen, die es gibt oder seiner Meinung nach geben müsste.
Teresa taucht nicht auf. Dafür wurde der Opa des Studenten ins Spital gebracht, weil er Schwierigkeiten mit dem Atmen hatte, was nicht weiter verwunderlich ist, weil er ja jeden Tag in der zum Aufenthaltsraum umgewidmeten Garage vor dem eingeschalteten Fernsehgerät sitzen muss. Ich glaube, man muss den Leuten nur zuhören um zu begreifen, was ihnen fehlt. MMs Kusine zum Beispiel, die Mutter der beiden schon halb aus der Kirche exkommunizierten (?) Töchter wurde auch letztens ins Spital gebracht, weil es ihr schlecht ging. Sie ist schwerhörig und trägt ein Hörgerät. Mir erzählt sie gleich, dass sie es nicht aushält, dass dauernd der Fernseher läuft und dass ihre Töchter zu laut reden, vor allem die kleinere (die Witwe, die den Streit mit dem Pfarrer hat). Mich wundert es nicht, dass im Spital festgestellt wird, dass sie keine pathologischen Erscheinungen hat, sondern Panikzustände. Dann muss sie wieder heim und ihre Töchter über sich ergehen lassen. Der Opa des Studenten muss sich vielleicht auch einfach vom übermäßigen Genuss des Fernsehens erholen, zumindest hoffe ich das.
Terasa sehen wir also am Tag der Weichselernte nicht, aber ich habe vor ein paar Tagen mit ihr Kaffee getrunken und ihr versucht, zu erklären, dass ich jetzt auch weiß, wie das ist, in Panik zu geraten, denn bei einem Konzert vor kurzem hatte ich Angst, über einer Tiefgarage zu stehen und einzubrechen, weil das Publikum so entfesselt hüpfte und tanzte und der Boden bebte. Was ich dabei gelernt habe, ist, zu sagen, was einen so bewegt bzw. so nicht bewegt, sondern so lähmt. MM hätte mir gleich gesagt, dass wir nicht über einer Tiefgarage stehen. Aber dieses Problem scheint Teresa mit ihren Panikanfällen ohnehin schon gelöst zu haben. Letztens war sie morgens aufgewacht, erzählt sie, sie verstand gar nicht, warum es ihr nicht gut ging, sie hatte gut geschlafen, aber nun hatte sie ein Gefühl der Leere, im Kopf, im Magen. Sie bat ihren Mann, zu Hause zu bleiben, oder ihren Sohn, wenn möglich. Ich finde das gut und tüchtig von ihr. Sie sagt: "Ich musste nämlich zum Friseur und ich dachte, was mach ich, wenn es mir im öffentlichen Autobus plötzlich schlecht geht". "Ja", sage ich und stelle mir vor, wie schrecklich es ist, wenn es einem in öffentlichen Verkehrsmitteln schlecht geht. Sie sagt, sie hätte eine Pille genommen. Ich sage: "Klar, dafür sind sie ja da." Dann hätte ihr Sohn sie mit dem Auto zum Friseur gebracht. Tatsächlich hat sie eine makellose jugendlich-sportliche Frisur und ich fühle mich alt und schlaff mit meinen Zotteln, da ich doch seit mehreren Jahren aus Gründen, die als Trauma zu bezeichnen sind, eine Friseurin an meinen Haaren nichts anderes habe machen lassen, als die Spitzen zu schneiden. Und dann - unter der Trockenhaube sei es ihr plötzlich wieder ganz anders geworden. "Es ist die Trockenhaube!" rufe ich aufgeregt. "Aber nein," sagt sie ruhig, "es kommt einfach so, man weiß nicht wann und wie."
Heute ist das Kind nicht bei mir, er hätte sicher eine abschließende Antwort gewusst, so verbleiben wir in der Gewissheit, dass wir beide nicht wissen, wann und wie es passiert, aber die Lösung in der Vermeidung von Trockenhauben zu suchen, ist auf jeden Fall zu kurz angelegt.
Mit einem Sack grüne Bohnen in einer Hand und einem Sack Zwiebeln in der anderen eile ich nach Hause, wo meine Kinder das neue Kajak ins Auto bugsieren und sich dabei mit allen Schimpfwörtern bedenken, die ich, wie bekannt ist, nicht mag. Wahrscheinlich dauert es deshalb ein paar Stunden, bis ich mich wieder mit Teresa und ihrem Wohlbefinden beschäftigen kann. Und dann denke ich, dass ich den Friseurbesuch abgesagt hätte.
Um aber wieder zum Garten und dem chinesischen Sprichwort zurückzukommen: Wenn man unter Glück versteht, dass MM im Gurkenbeet sitzt und langsam Unkraut ausrupft, während hinter ihm seine beiden großen Söhne mit Schilfrohrstäben selbst kreierte Martial Arts Kämpfe ausführen und ich in der Küche die weißen Wände mit den Weichseln so anspritze, dass sie blau werden und ich mir überlege, ob ich die Küche nun in diesem graublau streichen soll, dann ja, dann macht ein Garten wirklich glücklich.

Dienstag, 19. Juni 2012

Maulbeeren


Die Pflaumen sind reif, mehr als das, es gibt eine Explosion an reifen Pflaumen. Wir haben drei Bäume und sie tun so, als wären sie zehn. Ich sage zu meinem großen Sohn: Mach mir in zehn Minuten einen Kaffee, ich gehe Pflaumen ernten. Nach 15 Minuten komme ich mit einem vollen Korb wieder und das mache ich mehrmals täglich. Der arme Heranwachsende muss sich dann mit seinen Kopfhörern und vorgebeugten Schultern in die Küche schleppen. Aber ich will meinen pubertierenden Kindern nicht Unrecht tun, denn für mehr Minuten Computerspiel pro Tag sind sie auch bereit, ihre Seele zu verkaufen und im Garten zu arbeiten. Sie schneiden alleine das Gras auf einem unbebauten Stück im Garten, während das Kind seine letzten Tanzstunden absolviert (bereits mit reduziertem Personal und zusammengestückelten Gruppen, das bringt ihn in den Genuss des Zusammenseins mit zwei wunderbaren grazilen Tänzerinnen, die ein paar Jahre älter sind als er und die Beine ein bisschen höher heben können als er, was ihn illuminiert).
Die Pflaumen muss ich an die Nachbarn verteilen, nachdem ich bereits einmal Marmelade eingekocht habe, meine Schwiegermutter beglückt habe und meine Familie täglich ein Kilo Pflaumen essen muss. Teresa ist nicht zu Hause, also gehe ich zu den unteren Nachbarn und freue mich, den Sohn, den Studenten anzutreffen. Der Opa sitzt auch vor dem Fernseher, er hat geschwollene Beine und ist vor dem Fernseher geparkt, seine sehr schwerhörige und mit mehreren Bypässen ausgestattete Frau darf noch im Garten herumgraben. Der Sohn des Opas, der Vater des Studenten, steht mit den Ziegen im letzten Sonnenschein.
Der Student beeilt sich, mir einen Kaffee zu kochen und das Kind mit Süßigkeiten abzufüllen. Die Mutter des Studenten arbeitet als Haushälterin bei den Eltern von Schulkollegen aller meine Kinder, was mir sehr unangenehm ist, ihnen aber glaub ich noch mehr. Ich weiß, dass die Signora, Mutter der Schulkollegen, nie, aber wirklich nie, nicht einmal eine Waschmaschine anwirft, aber die Signora behandelt mich so säuerlich als wüßte ich noch viel mehr. Die Mutter des Studenten ist noch nicht zu Hause, obwohl es schon sieben ist und sie wird so schnell auch nicht kommen, denn nach ihrer Arbeit bei der Signora (von acht bis sechs) geht sie zu ihrer Schwägerin ins Spital. Die Schwägerin hat eine Risikoschwangerschaft und die Mutter des Studenten gibt der Schwägerin zu essen. Ich glaube zwar, dass selbst Risikoschwangere alleine essen könne, aber da ich auch erlebt habe, dass im Spital immer ein Teil der Familie beim Essen anwesend sein muss und eine Flasche Wein kredenzt wird, nehme ich an, dass die Schwangere nicht gefüttert, aber doch aufgepäppelt wird. Außerdem ist der Vater des Arbeitgebers gestürzt und hat sich die Hüfte gebrochen und ja, der Sohn geht ihn zwar besuchen, aber naja, alles in allem ist es besser, wenn sie, die Haushälterin ihn besucht. Der Arbeitgeber ist ein Rechtsanwalt mit dicken Lippen, die aussehen, als hätte er Botox gespritzt, der Arme. Möglicherweise verteidigt er gratis Mittellose, seine verschiedenen Autos deuten auf anderes hin. Mein Freund ist er nicht und es ist unwahrscheinlich, dass er es je wird. Ich verstehe, dass sein Vater den Besuch meiner netten Nachbarin dem seines Sohnes vorzieht.
"Ich leer die Schüssel mit den Pflaumen aus und du nimmst dir dafür ein paar Maulbeeren mit." sagt der Student und ergänzt, dass sie mich schon lange einladen wollten, die Maulbeeren aufzuklauben, die unter dem Haus in das aufgelegte Olivennetz fallen. Man geht an den Hühnern vorbei, an den Ziegen, an den Schweinen. Die Schweine sind ganz schwarz, denn es ist so heiß, dass sie mit dem Schlauch abgespritzt werden und dann wälzen sie sich glücklich im Schlamm. Glücklich wirkt auch der Maulbeerbaum, unter dessen Krone man jede Art von Liebeserklärung tun könnte, angemessen weit von den zufrieden vor sich hin stinkenden Schweinen entfernt. Gelsi, wie die Maulbeerbäume hier heißen, wurden eigentlich wegen den Seidenraupen gezüchtet und die an Engerlinge erinnernden weißen Früchte mag man entweder gar nicht oder man entwickelt ein Suchtverhalten nach ihnen. Der Student mag sie gar nicht, mein kaffeekochender Heranwachsender kann an ihnen sein Bedürfnis zur Maßlosigkeit zum Ausdruck bringen. Beim Sammeln der kleinen dicken Würmer fragt der Student den kleinen Sohn nach seinem Zeugnis, das Kind denkt aber nur an Schweine und Kaninchen und freut sich über die herabfallenden Früchte. Die Oma des Studenten ist angeblich gar nicht zur Schule gegangen, bzw. hat sie ein paar Mal die zweite Volksschulklasse gemacht. Die Mutter des Studenten hat dann fünf Volksschulklassen absolviert, mehr nicht, denn Mädchen sollten danach nicht mehr zur Schule gehen. Das Mädchen Mutter hätte mit dem Autobus fahren müssen und sie hatte zwei kleine Brüder zu versorgen. Sie ist aber keine Überlebende aus dem vorletzten Jahrhundert, sondern eine Frau in meinem Alter. Sie hat auf der anderen Seite des Hügels gewohnt und sie hat ihren Kusin geheiratet. Ihre Schwiegermutter ist die Schwester ihrer Mutter. Vor längerer Zeit, als wir hier eingezogen waren, vertraute sie mir an, dass ihr Cholesterinspiegel zu hoch sei und das sei wohl auf Stress zurückzuführen, denn "man hat einfach immer diese Gedanken, immer Gedanken." Ich habe das damals nicht verstanden. Heute verstehe ich es ein bisschen besser.

Sonntag, 17. Juni 2012

Die Großkusine und der Landpfarrer


Meine angeheiratete italienische Familie taugt immer zur Unterhaltung, so wie alle angeheirateten italienischen Familien, sonst könnten deutsche Autoren, die mit Italienerinnen verheiratet sind, keine Bestseller schreiben.

Im Dorf, aus dem MM stammt, wohnt unter anderem auch seine Kusine, deren Töchter in unserem Alter sind oder ein wenig jünger. Die jüngere ist ein bisschen skandalös, zumindest in den Augen der älteren Tanten und ich habe nie herausgefunden, worin der Skandal besteht, außer dass sie extrem laut und energisch spricht und dazu sehr klein und sehr zart ist, was aber irgendwie nur fragen läßt, wo diese Energie ihr Heim hat und noch nicht den Skandal wittern läßt. Außerdem ist sie mit nicht einmal vierzig Jahren Witwe und auch wenn die bösen alten Tanten sagen, sie hätte ihren Ehemann umgebracht, glaube ich das nicht. Sie hat zwei Kinder im Alter von zehn und sechs Jahren und ihre große Tochter ist die einzige, die in ihrer Klasse kein Telefon mit Touchscreen besitzt, sie besitzt nämlich, wie unser gleichaltriger Sohn, gar kein Mobiltelefon, was eigentlich schon Grund wäre, die Großkusine sympathisch zu finden. Die Großkusine kündigt nach einigen Erzählungen, bei denen alle schreien und ich mich bemühe, mitzuschreien, eine echt skandalöse Geschichte an. Her damit. Also paßt auf.

Der Priester. Ja, ich erinnere mich. Ein sehr junger Typ, der beim letzten kirchlichen Fest im Februar an dem wir teilgenommen haben (die alten Damen haben auf absolut aufnehmenswerte Weise einen halbstündigen a capella Gesang San Rocco zu Ehren geliefert, den meine Kinder jederzeit perfekt rekonstruieren können, denn er ist dem Motherfucker-Damn it-HipHop-Rhythmus nicht unähnlich), gesagt hat, die Leute sollen sich zurückhalten beim Torten backen, denn er könne nicht so viel essen. He Alter, gib uns den Kuchen, hätte ich gerne gerufen, habe aber schüchtern auf meine pflichtbewusst gefalteten Hände gestarrt.

In the meantime hat die Großkusine irgendwie versucht, die Messe für ihren verstorbenen Ehemann von einem anderen Priester lesen zu lassen, was ihr nicht gelungen ist und außerdem hat sie sich für den Chor eingesetzt, der vom Jungpriester abgesetzt worden war, da er von einer getrennt lebenden Frau geleitet wird. Menschen wie ich müssen da ihr grundsätzliches "So what, ich hab's euch ja schon immer gesagt," zur Seite stellen und begreifen, dass Chorsingen und kirchliche Feste für Menschen in kleinen Gemeinden im Hinterland wesentlich sein können. Der Priester teilt der Großkusine geduldig mit, dass die katholische Kirche so was wie eine Diktatur ist und dass da eben nicht alle mitreden können und wenn ihr was nicht passt, braucht sie nicht zu kommen.
Die Messe für den verstorbenen Ehemann wird vom Priester himself gelesen, der Chor aber darf singen und nach der Messe präsentiert sich die Großkusine mit dem Briefumschlag mit der Spende (Spende erbeten für Messe für Verstorbenen: 25 Euro bitte danke, Spende erbeten für Hochzeit: 500 Euro bitte danke, für alle 10 Minuten Verzögerungen weitere 50 Euro, bitte danke mit freundlichen Grüßen Ihre katholische Kirche). Der Priester bittet eine Klosterschwester als Zeugin hinzu, denn jetzt wird er der Großkusine sagen, dass sie und ihre Familie in dieser Kirche kein gern gesehener Gast ist. An diesem Punkt spüre ich eine heftige Bewegung in meiner Brust. Er sei es jetzt Leid, dass sie ihn immer kritisiere. Sagt er mit dem Umschlag in der Jacke. Bitte danke. Und ihre Schwester hätte bitte auch schon was Böses gesagt. Da müssen alle lang nachdenken, bis ihnen einfällt, was. (Und zwar etwas, was ich kaum verstehe, weil es mir kulturell sehr fremd ist: Es geht um einen Toten, der in der Kirche aufgebahrt ist. Die zweite Großkusine geht hin und findet den Toten im Finstern und sagt zur Kirchenaufseherin: Wann hat man denn je einen aufgebahrten Toten ohne Kerzen gesehen? Von Aufgebahrten und ihren Kerzen verstehe ich eben nicht so viel, was ein anderes Thema ist, aber die zweite Großkusine war sich nicht bewusst, dass diese, wie sie meinte, harmlose Frage, bald gegen sie verwendet werden würde, denn die Kirchenaufseherin musste dem jungen Priester diesen neuen Kritikpunkt gleich erzählen, worauf sie zur nicht willkommenen Familie gehörte. Hier kommt auch nun meine Schwägerin ins Spiel, die Theologin ist und sagt: Das war in der Karwoche und da gibt es eben kein Licht in der Kirche und die Großkusinen haben die Regeln nicht kapiert). Ja nun, wenn einer irgendwo willkommen sein muss, dann, so stelle ich mir das vor, in der katholischen Kirche, bitte danke.
Die als Zeugin bestellte Klosterschwester weint nach dem Konflikt und möchte sich versetzen lassen. Der Bruder der beiden Großkusinen trifft seine kleine verwitwete Schwester weinend vor der Kirche an und heißt den Priester alles Mögliche, unter anderem pädophil. Dazu sagt meine Schwiegermutter (kein Fan der skandalösen Großkusine): Sie hätte ihren Bruder fast ins Gefängnis gebracht! Zum Glück ist der Priester nicht zu den Carabinieri gegangen.

NATÜRLICH steht auch hier, wie hinter allen grauenhaften Konflikten, ein verletztes Ego. Die Großkusine, eine arme junge Witwe, die ihre Kinder in die katholische Schule und den Kindergarten bei den Klosterschwestern schickt, muss für die Schule nichts bezahlen, da sie ab und zu deren Räume putzt. Als sie auch das Pfarrhaus putzen musste, wollte der Priester sie statt einer Bezahlung zu einer Pizza mit ihm einladen. Danke schön, hätte sie gesagt, da gäbe es genug andere, die nur danach lechzen würden.

ABER die Großkusine weiß, dass der Priester eine Berloni (heißt die so?)- Küche hat und ein tolles Sofa von Divani und Co (von dem wir alle träumen). Eh klar, weil wir zu unserer ohnehin bezahlten Arbeit nicht zusätzlich die Spende bitte danke einnehmen können.
Die Großkusine wartet nun auf ihren Termin beim Bischof, um Bericht über den diktatorischen Priester zu erstatten.
Wir hoffen auf rasche Entwicklungen in diesem Fall.
MM verabschiedet sich versöhnlich: "Wie ihr wisst, können von mir aus alle Priester krepieren, aber da du das Bedürfnis hast, gläubig zu sein...bin ich ganz auf deiner Seite."

Dienstag, 12. Juni 2012

Manifesto # 1

Auch wenn es meine Freundin nicht gerne hört: in einem meiner favourite american blogs steht zu lesen: "want what you have." And yes, I do.
Am 9. Juni, Tag des offiziellen Schulschlusses, weihe ich hochfeierlich die Badesaison ein. Das Meer ist noch ein bisschen kalt, aber es lohnt sich. Ich sage: Was bekomme ich, wenn ich zehn Minuten schwimme? MM sagt: Das tust du nie. Der 14-Jährige sagt: Einen Tag Erholung. Ich sage: Wie geht das? Er sagt: Wir helfen dir. Ich denke: Hilfe. Ich stürze mich ins leicht bewegte Meer. Es geht. Ich schreie wie der russische Tennisstar Sharapova: "AAAHHHH!" Meine Kinder mussten sich gar nicht überwinden, aber MM liegt trocken wie ein Wurm am Strand.
Ich schaue auf die Häuser am Hügel, unseres sieht man nicht, es gibt nur einen Punkt, von dem aus man es sieht, an einem Rand des Hafens. Man sieht alle anderen Häuser und obwohl ich manchmal von Eifersucht verzehrt war, beneide ich sie alle nicht mehr: Die Frau, die in dem Haus mit der allerbesten Aussicht wohnt, hat seit 14 Jahren keinen Zeh mehr ins Meer gestreckt, wie sie mir vor kurzem mitgeteilt hat. Das regt mich sehr zum Nachdenken an.
Dann gibt es da das Haus des Obermaurers, ebenfalls mit genialem Ausblick. Und wo ist er? In den letzten Tagen habe ich ihn zwei Mal nach oben fahren sehen, ich glaube dort, ganz oben, besitzt er ein Stück Land, das er bebaut. Er winkt mit diesem verklärten Lächeln, wenn man genau schaut, kann man noch den Heiligenschein sehen. Seine Frau schaut finster. Wahrscheinlich würde sie auch lieber ins Meer springen, als die Tomaten zu häckeln.
Danach kommt das Haus, in dem die Eltern von einer Freundin von mir leben. Als ich sie dort einmal aufsuche, bin ich geschockt von dem Weitblick über die Küste, den man von dort aus genießt. Ihre Mutter ist zuckerkrank und vor einem halben Jahr wurde ihr das Bein amputiert. "Aber sie hat einen schönen Blick aus dem Fenster", sage ich zu meiner Freundin, die eine Mutter im Rollstuhl hat. "Ja, aber sie schaut nicht aus dem Fenster, sie schaut nur in den Fernseher, " antwortet meine Freundin.
Ein paar Häuser mit geilem Blick stehen leer. Voghera heißt der Ort, wo die meisten Ausgewanderten sind.
Die Kinder versuchen, im Sand einen Salto mortale rückwärts. Ich ziehe meinen Badeanzug aus und einen Bikini an, noch sind wenig Menschen am Strand und solche Aktionen sind nicht mit Muskelkrämpfen verbunden. "Mir fehlen die Felsen!" sage ich zu meinem großen Sohn, einem eigentlichen Schwimmer, so wie das Kind ein eigentlicher Tänzer ist. Der Strand, an dem wir bis jetzt immer waren, ist irgendwie abgesackt, aber wer will sich in Zeiten von Erdbeben schon über ein Stück  verschwundenen Strand beklagen?
Von hier aus sieht man ein schönes altes Haus mit zwei Palmen davor und nicht das hässliche Spital, das dahinter liegt.
Wir fahren nach Hause und dort, wo man vom Strand nicht hingesehen hat, stehen Compa' Mario und Vincenzo mit ihren Schafen und Ziegen. Compa' Mario hat irgendwie eine Art weibliche Brüste, ich denke das Wort Hermaphrodit, wenn ich ihn sehe und meine Kinder grinsen blöd. MM sagt zu Vincenzo, dass wir, nämlich ich und die Kinder, eine riesige Schlange gesehen haben, dort, wo er jetzt ist und Vincenzo sagt: "Jaja, das ist möglich." Eh klar ist das möglich, wir haben das Trumm ja gesehen, sie war so groß und so schwer, dass sie auf ihrem Rückzug über die Felsen fast wieder nach untern gekippt ist.

want what you have, oh yes. Ein verlockendes Meer, ein heiliger Obermaurer, ein paar Schlangen und all das, was die einen nicht sehen wollen und die anderen nicht sehen können.

Montag, 11. Juni 2012

Schulaufsatz

Diesen Eintrag veröffentliche ich sozusagen posthum, weil nämlich...eigentlich wollte ich nichts mehr schreiben, in dem ich als garstige Mutter, nicht verlegen um vulgären Wortschatz auftrete, aber...

In Italien endet die Schule bereits am 9. Juni und selbstverständlich meint nun das gesamte Lehrpersonal, man müsse noch mal kräftig aufs Gas steigen. Das ist auch in Ordnung, meine Söhne schleppen sich allerdings kraftlos durch diese Phase und bekommen nur angesichts eines Fußballs Energieanfälle. Kleine dumpfe Stimmchen, die verzagt englische Verben murmeln werden da zu großen Tonerzeugern. Die armen Füße, die über den Wohnzimmerboden langsam vom Tisch zum Schulrucksack schleifen, springen Staub aufwirbelnd dem Ball entgegen. Strahlend umarmt mich der 14-Jährige: "Mamma!" brüllt er in mein Ohr und drückt mich an seine verschwitzte Brust: "Entschuldige wegen vorhin." Ja, sage ich verlegen und schaue in den Sand. Vorhin hat er einen akuten Anfall des Tourette-Syndroms in mir ausgelöst. Vor ein paar Tagen hatte ich es geschafft - die freundliche Dattilografa in mir sagte:"Wenn es dir gelingt, diese Englischhausübung hinter dich zu bringen, ohne mit der Hand auf den Tisch zu schlagen, darfst du am Abend eine Flasche Prosecco öffnen." Nur - der Prosecco, den mir meine Schwägerin gebracht hat, schmeckte nach Tokaiwein, das mag ich nicht. Möglicherweise war es die Abwesenheit der Flasche Prosecco im Kühlschrank, die mich im entscheidenden Moment grob werden ließ. Zuvor war alles gut gegangen. Thema war: Beschreibe den Ort, in dem du wohnst. Seit Wochen wird dieser Aufsatz vor sich her geschoben, als würde es darum gehen, zu beschreiben, wie man sich fühlt, wenn man auf einem Klo sitzt und dann geht plötzlich die Tür auf.
"Mir fällt nichts ein."
"Ich weiß nichts."
"Ich kenne nichts."
Auch ich kenne (da) nichts und beginne, eine Struktur zu entwerfen: Einleitung, Hauptteil, Schluss schreibe ich auf ein Blatt und dazu ein paar Ideen, was man da reinpacken könnte. Ich sage: Eine Seite. Ich stelle den Timer auf 30 Minuten und gehe dem anderen Sohn helfen, der ein wenig eigenständiger beim Schreiben ist, was mich mehr interessiert. Der 14-Jährige kommt einmal vorbei, um mitzuteilen:
"Mir fällt nichts ein."
"Ich weiß nichts."
"Ich kenne nichts."
Dann geht er wieder. Dann kommt er wieder, um zu sagen, dass die 30 Minuten vorbei sind, er also fertig ist. Ich gehe zu ihm. Er hat fünf Zeilen geschrieben. In denen befinden sich Hauptteil, Mittelteil, Schluss in etwa vier Sätzen. Die Orthografie ist originell. Vom anderen Sohn wurde ich in Kenntnis gesetzt, dass es auch eine Fotokopie gibt, auf der historische Fakten zu unserem Ort stehen. Obwohl ich bei geschichtlichen Ereignissen in total unbedeutenden Orten immer ein wenig unruhig werde, scheint unser Ort doch nicht ganz so historienfrei gewesen zu sein und da war sogar der Normannenkönig Robert de Guiscard im Mittelalter und 1086 die Benediktinerpater. Die Mittelschülerin in mir verwebt die geschichtlichen Fakten mit dem, was heute ist und diktiert es dem Sohn.
"Und was fällt dir noch ein?"
"Nichts."
Ich diktiere weiter.
"Und was würdest du noch schreiben?"
"Nichts."
Ich diktiere weiter. Wir nähern uns dem Schluss. Die Lippen des 14-Jährigen hängen fast auf seiner Brust.
"Also was würdest du denn gerne sehen oder kennenlernen?"
"Nichts."
Tourette explodiert.
"Dann schreib doch bitte, sie sollen dich alle am Arsch lecken und du willst nichts wissen von diesem Scheißort."
Bei diesen Worten wird der Rallyefahrer, der sich gerade in breakdancetechnischen Verrenkungen auf dem Boden rollt, aufmerksam.
Mir wird etwas eng im Hals und ich fordere den 14-Jährigen auf, einfach in sein Zimmer zu gehen, wenn es ihn nicht interessiert, er habe meine Grenzen überschritten. Er streikt. Er nützt die Gelegenheit nicht. Das Kind kommt nach Hause. Es versucht sich bemerkbar zu machen. Der 14-Jährige beginnt zu schreiben. Irgendwie beruhigt sich die Situation wieder, aber ich atme immer noch schwer.
Nach kurzer Zeit sind dann alle sehr eifrig. Das Kind spielt eifrig im Bubenzimmer, was auch als Erfolg zu verbuchen ist, denn normalerweise schreit ER, während die anderen lernen. Er hat allerdings nichts mit Tourette zu tun.
Dann bringe ich das Kind in die Tanzstunde. Dann komme ich wieder nach Hause. Dann spielen die Jungs Fußball und sind bester Laune.
Dann, dann! Du sollst nicht immer dann am Anfang des Satzes schreiben hätten meine Lehrer damals mit rot in mein Heft geschrieben.
Was der 14-Jährige am Ende seines Aufsatzes geschrieben hat, weiß ich übrigens nicht. Ich hoffe, es war nicht der Satz, den Tourette angeregt hat.
Der Rallyefahrer gesteht mir, er hätte es toll gefunden, als ich gesagt habe: am Arsch lecken. Ich weiß schon, auf italienisch sagt man das anders.

Nach etwa einer Woche ist der 14-jährige Sohn nach Hause gekommen und hat gesagt, die Prof hätte "Bravo" unter seinen Aufsatz geschrieben. Und hier kommt bitte mein alles überragender Einsatz als Mutter, in dem ich sage: "Na schau, das war doch die Mühe wert." "Ja" sagt er. 

Samstag, 9. Juni 2012

Nett sein ist fad

Ich glaube, es ist, weil ich mich nicht mehr aufregen will. Weil ich beschlossen habe, ein freundlicher Mensch zu sein, der die Decke auf dem Sofa zurechtrückt und nicht gegen das Sofa treten will, weil keiner da ist, der die Ordnung auf dem Sofa zerstört und nicht wieder instand gesetzt hat, dem man mitteilen könnte, dass diese Destruktion System hat und das Ziel sei wohl die Zerstörung meiner geistigen Gesundheit oder wie?
So ist das, manchmal hat man Phasen, in denen man ganz lieb ist. Dann weiß man nicht mehr, was man schreiben soll. Ich bemühe mich redlich, irgendwie das Abgründige aus mir herauszuholen: Sex und Drugs und Rock'n'Roll. Oh mein Gott, da ist nichts. Seit Tagen denke ich nach, was ich über das Sexualverhalten der Italiener schreiben könnte, in der Hoffnung das würde eine verborgene Quelle an Adrenalin erschließen. Nichts. Es interessiert mich nicht. Die Vorstellung, dass, wenn ich beim Spaziergang mit dem Hund an unserem zur Zeit recht romantisch mit Wein überwachsenem Wasserbecken im Gemüsegarten vorbeikomme, dort ein Mann stehen würde, die maximale Mischung aus Virilität, Intelligenz und frischem Atem, erfüllt mich mit Sorge. Es könne zu lange dauern, ihm zu erklären, dass ich nach Hause muss, denn nach Wäsche aufhängen und Kinder aufwecken, muss ich dringend Kaffee trinken und wenn die Zeit reicht, ein paar Seiten in Margaret Atwoods Buch "Blind Assassin" lesen. (Ist es, weil die Ich-Erzählerin über 80 ist, dass ich mich auch so fühle?) Ich mache mir Sorgen um mich selbst.

Die Schule ist vorbei und sogar die Tanzaufführung und ich vergebe allen, die mir bis zu diesem Zeitpunkt unsäglich auf die Nerven gegangen sind. (Halt, der Frau, die heimlich Kinder taufen lässt, nicht!)

Der Eingangsbereich unseres Hauses, ein schöner alter Raum, der bis jetzt ein hoffnungsloses Wirrwarr aus Vorräten, Werkzeugen und Gummistiefeln war, wurde in internationaler Zusammenarbeit in das gelbe Zimmer verwandelt, das jederzeit vom Magazin "Schick im Landhaus" fotografiert werden kann. Ich werde beim Nachhausekommen endlich von der Klarheit empfangen, die ich mir immer gewünscht habe und das Kind wird von keinem Farbkübel mehr fallen, wenn es Äpfel aus dem Regal nimmt. Also kann ich mich jetzt unendlich befreit an den Computer setzen und geile stories schreiben? Nein.
Ich habe mich so bemüht, diese innere Ruhe zu erreichen und meine nähere Umgebung hat mich angefleht, die Zornesader auf meiner Stirn abschwellen zu lassen und jetzt? Hallo, Janis Joplin, where are you? Meine Freundin, die sagt, ich lese zu viele amerikanische blogs hat sicher recht. Das Mantra, das ich mir so oft vorgemurmelt habe, überwuchert nun mein Sein: Talk less. Es wächst über mich wie ein Rosenstrauch und wird erst zu "Talk nothing" und dann zu "Be totally mute". Auch traurig, oder?

Wenn ich das Wort "Monti" höre, schaue ich still auf meine im Schoß zusammengefalteten Hände und dann suchen meine Augen den Türrahmen, unter den ich mich stelle, wenn die Stärke der Erdbeben die zwei Komma irgendwas, die hier täglich in der Umgebung sind, überschreitet.

Das Kind möchte sein offenbar von Mäusen zerfressenes Plastikplanschbecken aufblasen. Ich klebe mit Gaffer-Tape. Der Rallyefahrer ist entzückt, denn mit diesem Klebeband wird den Leuten in den Filmen immer der Mund zugeklebt und wenn man es wegreißt, tut es weh. Ist das bei mir auch der Fall? Hab ich so was? Kann man es mir wegreißen, auch wenn es schmerzhaft ist?
Meine Versuche, die Löcher in dem billigen Klumpert zu flicken fruchten nicht viel, aber das Kind ist entschlossen und beruhigt mich: "Wir machen es wie die Philosophen, wir probieren es einfach so lang, bis es geht." Ich sag's ja immer, die Schule verwirrt die Kinder nur. Und mich verwirrt die Abwesenheit der Schule, denn auf wen lenke ich meine Hassattacken?

Also Sex holt mich nicht hinter dem Buch hervor, zumindest nicht der verbotene, Drugs sind schon lange keine Möglichkeit für mich, hemmungsloses Betrinken geht auch nicht, sonst würden die Kinder am nächsten Morgen die eiskalte Milch aus dem Kühlschrank trinken, sie warten nur darauf. Und Rock'n'Roll? Der hat am ehesten noch Zugang zu den verborgenen Teilen meiner Seele, jetzt in Form von Hip Hop. Und wenn die Worte "Shit" und "Fuck" vorkommen dann drehe ich das Autoradio gleich ganz laut, ich kann das nämlich auch, bis die Boxen zittern, ihr peinlichen 20-jährigen, kapiert? Und übrigens, Janis: Mir hat der Lord auch keinen Mercedes Benz gekauft und das Colour-TV hab ich selbst bezahlt. Wenn ich so denke, dann komme ich schon noch zu dem Räudigen in mir hinunter und wenn ich noch ein wenig daran arbeite, beginne ich auch wieder zu bellen.

Sonntag, 13. Mai 2012

Extremly loud and hard to bear


Das ist kein Buchtitel von Jonathan Safran Foer, sondern mein Sonntagvormittag. Extremly loud sind die Mütter, die auf ihre tanzenden Kinder warten, also die auf ihre tanzenden Töchter warten, ich bin die einzige, die einen tanzenden Sohn hat, und schwer auszuhalten sind sie auch. An diesem Sonntagvormittag, noch dazu Muttertag, wow, müssen diese unsere tanzenden Kinder proben, denn der Herr Ballerino von der Opera di Roma schaut sich das an und macht den Supervisor. Eh gut. Wir bekommen einen offiziellen Brief von Lehrerin und Direktorin der Schule, Maria Assunta, in dem sie uns ihren Wunsch mitteilt, eben dieses Ereignis bekanntzugeben, das von 9:30-10:30 dauert. Schon das ist mir zu lang und ich tu mich mit der Mutter von Luigia zusammen. Sie bringt die Kinder hin, ich hole sie ab. Ich habe dabei aber die sogenannte Arschkarte gezogen, denn um 10:30 stehen ein paar Mütter vor dem Tor der Tanzschule und sagen, man höre noch Musik, sicher dauert es noch ein wenig. Ich sage: "Gut, ich fahre tanken". Ich komme vom Tanken wieder. Immer noch Musik. Ich gehe zum Bankomat. Als ich wieder komme, steht dort eine Freundin, die auch auf ihre Tochter wartet, wir besprechen die Zukunft, die hart für uns Mütter der tanzenden Kinder werden wird, vor allem, wenn dies nicht unser Hauptberuf ist. Am 3. Juni ist die große Aufführung. Wir werden uns organisieren. Die Musik verstummt, wir gehen in den ersten Stock hinauf. Der Ballerino von der Opera di Roma kommt mit seinen schmächtigen Hüften die Treppe heruntergeschwebt und sagt: "Sie kommen gleich". Ich möchte sagen: "Erinnern Sie sich, Ballerino, ich bin die Mutter von dem begabten Kind, normalerweise habe ich einen anderen look, aber ich habe mir keine Zeit genommen, die Haare zu föhnen, sonst schaue ich nicht so aus, als käme ich vom Schwimmen." Weg ist er. Lehrerin und Direktorin der Tanzschule Maria Asssunta kommt und sagt, dass das Kind und Luigia noch ein wenig bleiben müssen, sie müssen auch Modern Dance vorführen. Ich rufe Luigias Mutter an. "Ganz ruhig!" sagt sie, offenbar Veteranin auf dem Gebiet. Ich gehe in eine Bar und bestelle einen wohlgemerkt alkoholfreien Aperitif. Als ich bezahle, sagt der Besitzer der Bar wohl so etwas, wie "Schönen Sonntag noch", aber ich verstehe: "Sie sind auch am Sonntag hier!" und fühle mich bemüßigt, ihm zu sagen: "Mein Kind ist in der Tanzschule und so kann ich mir diesen Luxus gönnen." Er ist zwar sichtlich über meine unpassende Antwort überrascht, gibt sich aber keine Blöße und glaubt auch nicht, ich würde mit Luxus den hohen Preis seines Aperitifs meinen, sondern scherzt: "Und Sie tanzen nicht?" Dazu macht er ein paar Tanzschritte, möglicherweise meint er Samba." "Nein!" sage ich und lache. Als ich hinausgehe, finde ich mich unoriginell. Im Nachhinein bin ich froh, dass ich nicht so originell bin, zu sagen, "Aber sicher!", und auf die Theke springe.
Ich gehe wieder zur Tanzschule. Es ist jetzt 11:40, ich weiß echt nicht mehr, was ich tun soll. Ich setze mich in den Warteraum. Dort sitzen 8 Personen. 6 von ihnen sprechen. Die siebte ist eine sehr bescheiden wirkende Frau mit einer extrem hübschen Tochter. Vielleicht ist die bescheidene Frau stumm. Die achte Person ist ein junger Mann, vielleicht ein großer Bruder, der extrem gequält dreinschaut. Ich gebe mir Mühe, ihn nicht zu toppen. Eine von den Frauen ist des Kindes ehemalige Englischlehrerin, die ich bei der Zeugnisverteilung letztes Jahr das erste Mal zu Gesicht bekommen habe, als sie sagte: "Wir haben gesehen, dass das Kind beim Tanzen eine Bombe ist, in Englisch ja nicht so." Eine mögliche Rache an dieser Frau wäre, wenn das Kind in Hollywood auftreten würde. "Hello teacher! Here I am."
Ich rufe Luigias Mutter an, sie hat noch immer kein Problem.
Ich rufe meine großen Kinder an, sie schwören, sie werde auch ohne mich wissenschaftlich arbeiten und eine Chronologie zu Frierdich II erstellen. Ich schwöre im Gegenzug, dass sie nach dem Mittagessen auf dem Computer grausame Spiele spielen dürfen.
Im Vorzimmer der Tanzschule sind die Gesprächsthemen:
1) Wahnsinn, dass wir hier so lange warten müssen.
2a) Wahnsinn, was beim Schulausflug alles passiert ist.
2b) Wahnsinn, das stimmt alles nicht, was beim Schulausflug alles passiert sein soll.
3) Der unvermeidliche Katechismus. "Am Samstag soll meine Tochter zehn Euro mitbringen, denn ein Kind soll getauft werden. Ein armes Kind aus einem armen Land."
3 Variante) Ausgehend vom Katechismus. "Wahnsinn", sagt eine Frau, die mir bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht unsympathisch war. "Wahnsinn, wir mussten ein Kind taufen lassen, heimlich. Könnt ihr euch das vorstellen? Die Eltern... naja. Der Priester hat uns Fotos gezeigt. So schön."
Den Bruchteil einer Sekunde befürchte ich, es handelt sich um eines meiner Kinder. "Che tristezza!" sagt die Frau neben mir, wie traurig.
Jetzt kommen endlich die großteils übergewichtigen Töchter der Damen. Dann Luigia. "Ich fahr mit dir!" sagt sie bestimmt. "Ja!" rufe ich begeistert. Das Kind, welches mein Sohn ist, kommt auch. Ich sehe, er ist in Laune, jetzt mit Maria Assuntas Mutter über die Schönheit der Kostüme zu quasseln, die sie da probiert haben, weswegen das alles so lang gedauert hat. "Kinder, wir gehen!" schreie ich mit überkippender Stimme. Alle sind erschrocken. Nichts wie weg, sonst wird da noch wer getauft in der Tanzschule. Heimlich.

Mittwoch, 9. Mai 2012

Jugend und Mode


Wer einen Blog schreibt, hat es gut, denn sie kann all ihre Gefühle, angemessen oder nicht, in die Welt hinausschreien und die Welt schreit weder zurück, dass sie das nicht interessiert, noch, dass die Schreiberin sich eventuell einer Selbsthilfegruppe anschließen soll. Und so kann ich nun öffentlich kundtun, wie sehr mich der Kleidungsstil meiner Kinder ärgert, was daran liegt, dass mich alles ärgert, vor allem die Schule ärgert mich, aber das ist ja nichts Neues. Es ist Montag Morgen und der Tag verspricht nichts Gutes. Am Nachmittag findet eine Geburtstagsfeier für ein Mädchen in der Klasse statt, das mit einigen Probleme zu kämpfen hat und die Frau Prof Klassenvorstand, Koordinatorin der Klasse, wie man das hier nennt, hat bei sich zu Hause ein Fest für das Kind organisiert und alle Kinder sind dort zum Mittagessen eingeladen. Das heißt, dass mein großer Sohn sich schon mal in seine beste Hose wirft, nämlich seine Breakdancehose, die zu meiner Verbitterung am Knie ohnehin sofort dünn geworden ist. Ich habe ihn aber zuvor gefragt, ob seine kurze Hose noch ok ist und er hat dies positiv beantwortet. Ich sehe also die Breakdancehose an seinen Beinen und sage: "Nein, das will ich nicht. Wieso nimmst du die Breakdancehose, um Fußball zu spielen und dich auf der Erde zu wälzen?" Falscher Ansatz, denn die Antwort lautet: "Ich wälze mich nicht auf der Erde." Weitere Reaktion ist eine Mischung aus Enttäuschung und Wut, die angemessen gewesen wäre, wenn ich verkündet hätte, dass es diesen Sommer keine Ferien gibt und man auch im Juli und August in die Schule gehen muss. Die Hose wird jedenfalls getauscht, jetzt sehe ich die Schuhe. Aha, auch die besten Schuhe zum Fußballspielen. Selber Dialog, diesmal ohne Erde und Wälzen. Die Kinder verlassen das Haus, ich nehme den Hund an die Leine, man sieht sich an der Haltestelle des Schulbus. Jetzt ist der Rallyefahrer dran, über dessen Hosen ich schon lange kein Wort mehr verliere. Ich habe auch nie erwähnt, dass ich ihn vor 10 Jahren noch als Mann auf der Suche nach seinem Arsch bezeichnet hätte, aber er ist mein Sohn und ich soll ihn nicht beleidigen. Er hat sich vor ein paar Wochen einen dicken Ring, auf dem das Gebet "Vaterunser" eingraviert ist, an einem Kettchen, das einmal an einer Jeans baumelte, um den Hals gehängt und dieses mittels einer Büroklammer geschlossen. Ich habe nicht mein wahre Meinung über diese Kombination ausgedrückt, sondern nur leise gesagt: "Gute Idee." Aber warum um Gottes Willen hat er heute zwei Paar Socken angezogen? Gestern hat er mich noch gequält, dass er unbedingt kurze Hosen anziehen muss. Bei einem Paar handelt es sich um Kniestrümpfe und diese sind kunstvoll nach unten gerutscht und werden dort von einem zweiten Paar Wollsocken gestützt. Ich bekomme Wallungen bei der Vorstellung, ich hätte so viel Material an den Füßen. Auf mein ersticktes "Warum?", antwortet der Rallyefahrer, das sei, falls ihm kalt werde. Da ich nichts mehr ändern kann, sage ich nur, das wäre ein Fall für eine lange Hose und dann bin ich still. Ich überlege, ob ich die Kniestrümpfe in Zukunft verstecken soll. Doch dann kommt das Kind an die Reihe. Der ohnehin ergonomisch wertlose Rucksack hängt mit ungleichen Riemen schief an den Schultern und zieht mit seinem Gewicht das ganze Kind in Schieflage. Ich sage:"Warte, wir richten mal diese Riemen." Er schreit: "Neinneinnein!" und ich begreife blitzschnell, dass es sich auch hier um eine Mode zu handeln scheint. Gleichzeitig mit meinem Schrei: "Mir reicht's!" biegt der gelbe Schulbus um die Kurve. Meine Kinder sind mich los. Dass ich selbst bei einem Schikurs am ersten Abend mit den Schischuhen ausgegangen bin, weil ich sie so schick fand und dass ich mir dabei die Schienbeine so aufgeschürft habe, dass ich die ganze Woche Schmerzen hatte, fällt mir erst später ein.
Dafür gibt mir das Fest neuen Anlass zu schlechter Laune, denn meine geplante Abholung wird durch einen Anruf des 14-Jährigen vereitelt, der mich um 17 Uhr vor das Haus der Lehrerin zitiert. Und genau zu diesem Zeitpunkt kann ich eigentlich nicht, muss aber dann doch, also Chaos. Und warum? Weil Marilena beschlossen hat, das Fest endet um 17 Uhr, da sie offenbar danach einen Termin hatte. Und meine Kinder bekommen in solchen Situationen die Panik, sie könnten als einzige mit der Prof übrig bleiben. Und warum diese Panik? Weil die Prof ihnen auch beim Mittagessen Fragen stellt. Was eine Gemeinde ist oder wie die Staaten Europas heißen. Außerdem kommt der Prof ein strenger Geruch aus dem Mund. Ich finde, meine Söhne könnten da ein bisschen weniger zimperlich sein, aber auch sie haben das Recht, ihre Mutter anzurufen und mal zu schauen, was geht. Leider bemerke ich immer zu spät, dass Marilena Drahtzieherin dieser dringenden Abholaktionen ist.
Am nächsten Tag kritisiert die Prof die Klasse, weil diese sich nicht an die Regeln gehalten hätte. Es seien Spiele vorbereitet gewesen, aber die Jungs hätten Fußball gespielt. Ich glaube, ich sollte mal die Version meiner Kinder wiedergeben: Es seien Spiele vorbereitet gewesen, aber der Computer, aus dem die Musik für diese Spiele kommen sollte, sei von Marilena für die Konsultation von facebook okkupiert worden. War nicht Fußballspielen vor kurzem noch ok? Für mich ist es das immer noch, allerdings bitte nicht in der Breakdancehose.

Donnerstag, 3. Mai 2012

Das Jogurt in meinem Kühlschrank


Vor ein paar Jahren erzählte mir ein Freund, der immer sehr komplizierte Liebesgeschichten hat, von den aktuellen Entwicklungen in eben so einer Geschichte.
"Ja, wir haben uns geküsst."
"Und dann?"
"Dann musste ich plötzlich daran denken, dass ich noch ein Jogurt in meinem Kühlschrank habe."
"Oh."
Ja, er ist wieder nach Hause gegangen, vielleicht nicht gleich, aber so grundsätzlich. Ich bin ihm noch heute dankbar für diese Geschichte, denn sie gibt mir den Code, ein plötzlich auftretendes Gefühl zu benennen, das mit Peinlichkeit zu tun hat und vor allem, zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort zu sein (und möglicherweise der falschen Person die Zunge in den Mund gesteckt zu haben). Das Jogurt lockt. In der Brust trommelt das eingeschlossene Kind: "Ich möchte nach Hause!"
Vor ein paar Tagen habe ich meine Freunde besucht, die drei Töchter haben. Mein Freund ist vor kurzem fünfzig geworden und fühlt sich müde. Meine Freundin arbeitet an ihrer Karriere und behauptet, das letzte Jahr würde an ihr hängen, wie zehn Jahre. "Du siehst aber gar nicht so aus," sage ich, und ich meine das ganz ernst, aber vielleicht glaubt sie mir nicht. Während meine drei Söhne mit den beiden jüngeren Schwestern entfesselt spielen ("camera buia" - im stockfinsteren Zimmer, bereits nach etwa drei Minuten ihres Treffens...mein Freund weiß schon, warum er die Kinder wieder nach unten bittet und sie vor einem elektronischen Gerät bannen will), hängt die älteste Tochter an uns wie eine Zecke und so können wir nicht in aller Ruhe die Hände über den Nachwuchs ringen. Ich empfinde das Gespräch anstrengend und mein Blick fällt auf die Beine des Freunds. Er ist nicht sehr groß, möglicherweise ist er kleiner als ich, aber ich habe darüber nie nachgedacht, denn sein Geist erscheint mit ausreichend hochgewachsen. Ich sehe, dass seine Hose innen eingenäht wurde. Klar, die war zu lang. Aber die Naht ist nicht um den Knöchel herum, sondern auf halber Wade. Ich sehe plötzlich vor mir, wie seine Frau diese Hose kürzer macht. Warum hat sie sie nicht abgeschnitten und unten gesäumt? Dachte sie, ihr Mann würde noch wachsen und dann könne man den Stoff "auslassen"? Ich möchte gehen. Nein, ich muss gehen.
Ich kann es nicht erklären. Möglicherweise ist es ein Zuviel an Nähe. Und würde ich nicht wissen, dass auch andere von etwas Banalem wie einem Jogurt nach Hause getrieben werden, würde ich mich schämen und mir denken, ich sei nicht ganz richtig im Kopf.

Sonntag, 29. April 2012

Ich bin ein Groupie


Auf dem Lungomare in einer Stadt in der Nähe von uns versammeln sich die Breakdancer und auch unsere großen Jungen sollen dort tanzen. Keiner hat extremes Interesse, aber wir fahren dort hin. Es ist frühsommerliches Wetter und auf dem Lungomare sind viele Menschen unterwegs. Der Rallyefahrer kommentiert trocken: "Ich will wieder heim". Sein großer Bruder ist sicher, dass er eine Performance abgeben wird, nachdem er sich erklären hat lassen, was eine Performance ist und dauernd etwas einzuwenden hatte, als ich sagte, das sei wie eine Theateraufführung ohne Theater. Was Besseres ist mir nicht eingefallen, denn ich war sehr müde, da MM in der Nacht um halb zwei ins Spital gebracht werden wollte, weil er sich nicht mehr sicher war, ob er seine Medizin ein oder zweimal genommen hatte. Es war eine anstrengende Nacht, aber eine von denen, in denen sich die Prioritäten im Leben klar abzeichnen. Im Spital war eine Großfamilie mit Freunden zugegen, die ein Mädchen, das sich den Kopf bei einem Autounfall angeschlagen hatte, durch ihren Leidensweg in der Notaufnahme begleiteten. Die Männer der Kusinen sagten, es sei Zeit, jetzt nach Hause zu gehen, aber die Kusinen und die Tanten wollten bleiben. "Du hast mit ihnen geweint, stimmt's?" glaubt MM zu wissen, als es ihm besser geht. Nein, da hat keiner geweint, im Gegenteil, die haben herzlich gelacht. Ich nehme an, wenn das Ganze länger gedauert hätte, hätten sie was zu essen und zu trinken aufgetrieben.
So sind wir also auf diesem Lungomare, die Eltern sind müde, aber froh, am Leben zu sein, die Jungen sind wach und wollen sterben. Die Breakdancer sind sehenswert und sie haben dementsprechend viel Publikum. Meine beiden Söhne verziehen sich möglichst weit nach hinten. "Mamma, ich bekomme einen Herzinfarkt." gesteht der Rallyefahrer, sein 14-jähriger Bruder sieht gerade aus wie 8. Dem Kind ist das alles egal, denn er ist Balletttänzer und total entspannt. Einer der Lehrer entdeckt meine Kinder und stellt sie einem anderen Lehrer vor, alle begrüßen sich mit einem Breakdancer-Gruß, der an Raumschiff Enterprise erinnert. Spinnweben liegen über mir. Der 14-Jährige sieht jetzt aus wie 7, der Rallyefahrer ist sichtlich unangenehm berührt. Nach der Begrüßung ziehen sich die Jungs wieder zu Mamma und Papa an den Rand des Geschehens zurück. Auf der Tanzfläche, wenn man den Raum zwischen den umstehenden Teilnehmern und Zusehern so nennen will, machen die Breakdancer einer nach dem anderen ihre Überschläge, Kopfstände und gefakten Kämpfe. Es sind auch einige Mädels dabei, eine von ihnen steht ein paar Minuten auf den Händen und bewegt rhythmisch ihre Beine. Was zu sehen ist, wäre auch Eintritt wert. Die Spaziergänger des Lungomare sind sichtlich beeindruckt. Es gibt auch kleine Buben, die unter sieben sind und die sich in Kopfständen versuchen. Irgendeiner der fotografierenden Männer muss wohl ein Vater von denen sein. Ciccio, einer der Lehrer, wirft dem Rallyefahrer einen Blick zu und dann geschieht das Unvorhergesehene: Der Rallyefahrer, der fast in seiner gesamten Schulzeit keine mündliche Prüfung abgelegt hat, weil er kein Wort öffentlich gesprochen hat, was er aber seit kurzem doch zu tun scheint, gibt seinem Herzen sichtlich einen Stoß und betritt mit einem Ausdruck, den ich zu Hause als Aggression bezeichnen würde, die Tanzfläche, legt dort ziemlich viele, ziemlich schnelle Tanzschritte ab, macht eine verunglückte Kapriole und vertschüsst sich wieder. Applaus. Sein Bruder, der technisch viel besser ist, viel mutiger ist und viel mehr übt, betritt die Tanzfläche nicht, denn vorher ist die Veranstaltung aus.
So, jetzt.
Ich versuche, nicht zu weinen, denn ich weiß, der Rallyefahrer hat etwas Unglaubliches gemacht, nicht nur ganz persönlich, sondern durchaus allgemein, nicht alle Leute sind Selbstdarsteller. Nichts wird ihn mehr erschüttern können. MM ist sachlich und sagt, keiner hätte einen Rhythmus wie der Rallyefahrer, aber das liegt vielleicht daran, dass der Rallyefahrer getanzt hat, während die anderen akrobatisch zu Gange waren.
Nach der Veranstaltung üben ein paar hartgesottene Jungs am Strand Salto Mortale rückwärts, einer ist dabei, der wirklich gut erklären kann, wie das geht. Theoretisch kann ich es jetzt auch. Nun kommen die Mädels zum Rallyefahrer. Das ist eine neue Erfahrung für mich. Zwei Mädels sind aus seiner Breakdancegruppe, die Blonde ist atemlos. Die Rothaarige ist mutiger, die geht auf mein Kind zu und flirtet offensiv. Mir ist das ein bisschen peinlich, aber eher wegen mir selbst, denn ich war doch selbst noch vor kurzem die, die genauso direkt geflirtet hätte und jetzt bin ich die, die den Angeflirteten um halb zehn Uhr abends gnadenlos ins Bett schickt. Die, die weiß, dass er zwei Stunden vorher noch Schwierigkeiten mit der Umfangberechnung eines Dreiecks zeigte. Es wäre schön, wenn die Flirterin Virginia ihm das beibringen könnte. Was würde er im Gegenzug geben? Sein großes Herz, seine absolute Offenheit und seine extreme soziale Kompetenz, zu der auch Treue gehört. Virginia, du wärst in Sicherheit. Was aber wäre mit der blonden Dünnen, die sich, immer noch ohne zu atmen, wegdrehen muss?
Und was ist mit dem armen Bruder, der täglich fleißig übt und heute so in der Schatten gestellt wurde? Der hat keine andere Möglichkeit, als seinem Bruder zu sagen: "Du warst eine Niederlage". Das ist dem Rallyefahrer zu Recht ganz egal. Nur vor dem Einschlafen sagt er noch: "Aber ich habe immer nur dasselbe gemacht". Wenn ich nicht so müde gewesen wäre, hätte ich gesagt, dass das ein Element des Breakdance zu sein scheint. So sage ich, das macht nichts, jetzt hätte er seine Angst überwunden, das nächste Mal könne er sich überlegen, was er zeigen wolle. "Die mit dem Kapperl hat auch immer dasselbe gemacht", gibt das Kind zu bedenken. Allerdings auf den Händen stehend, nicht auf den Füßen, denke ich. Vielleicht findet das Kind das auch, denn es sagt: "Aber die war geil." Und dann gesteht er, welches Mädchen er in seiner Balletttanzgruppe geil findet. "Du hast einen guten Geschmack, gute Nacht", versuche ich das Gespräch wieder auf eine gepflegte Ebene zu bringen. Der 14-jährige schweigt. Ich glaube, er bereitet innerlich seinen großen Breakdance-Coup vor. Hoffentlich tut er sich nicht weh dabei.