Donnerstag, 24. Februar 2011

Computerlogbuch Nummer 102

Schnee liegt auf den Bergen über Sant'Angelo, dem Dorf am einen Horizont. Am anderen Horizont ist das Meer. Der Rallyefahrer hat ein richtig blaues Auge und ich bin froh, dass er vor Zeugen gegen den Tisch gefallen ist, denn die zeitliche Koinzidenz des schlechten Zeugnisses und des Hämatoms unter und über dem Auge, hätte mir auch die Carabinieri ins Haus bringen können.
MM antwortet auf die Frage, ob ich eine Kiste mit etwa hundert leeren Fotofilmdosen wegschmeissen kann mit "Nein." Vielleicht möchte er einmal eine Skulptur basteln, eine Installation wie Nam June Paik, denke ich. Ich überlage, meinen Jugendfreund, den berühmten Fotografen anzurufen, und ihn um praktischen Rat zu bitten. Oder meine Freundin, die mich in psychologischen Dingen coacht.
Zum Glück habe ich ohnehin eine Hochphase, was Charakterstärke betrifft: der Rallyefahrer hat kein lautes Wort über sein Zeugnis gehört, nur einen langen Monolog zum Thema: "Die Entscheidung liegt bei dir." Das ist vielleicht auch seelische Grausamkeit, aber der Effekt auf den Elfjährigen war eine halbe Stunde tiefer Schlaf im Auto und beim Erwachen der Satz: "Ich habe mich entschlossen, zu lernen."
Also habe ich auch MM nicht gegen die Brust getrommelt, habe ihm nicht gesagt, dass er verrückt ist und mein Leben ruiniert, sondern habe mir einfach gedacht: "ICH transportiere diese Scheisskiste nicht." Ralph Waldo Emerson schreibt: "Once you make a decision, the universe conspires to make it happen." Normalerweise glaube ich nicht an universelle Konspirationen, aber es gefiel mir, dass unsere Organsation des täglichen Lebens sich dahingehend veränderte, dass MM an den nächsten beiden Tagen die Transporte übernimmt und seine leeren Filmdosen selbst ins Auto hebt und wieder auslädt. Meine Freundin sagt, man darf den Irren nicht ihren Wahnsinn rauben, sonst verlieren sie ihren Reiz. Ok.

Berlusconi telefoniert mit Gaddafi.
Am 6. April findet der Prozess gegen ihn statt. Wieviele Tage sind das noch?
Er wird nicht zurücktreten, er wird sich etwas einfallen lassen. Und hätte man bis vor wenigen Tagen noch gelaubt, das nur in Italien ein Politiker, der des Amtsmissbrauchs und der Prostitution Minderjähriger angeklagt ist, nicht zurücktritt, aber es könnte sich um eine Art Trendsetting handeln. Der deutsche Verteidungsminister muss auch nicht wegen seiner Cut&Copy Doktorarbeit zurücktreten, wenn Berlusconi es nicht tut. Vor ein paar Wochen ergötzte ich mich noch an der Vorstellung, Angela Merkel werde mit ein paar 16-Jährigen Boys im Bett erwischt und sie würde nicht gleich zurücktreten, sondern zuerst sagen, das sei alles nur linke Propaganda und dann: so lange sie lebe, werde sie eben Freude am Sex haben, so what? Heute bin ich mir nicht mehr so sicher, dass nicht auch das passieren könnte.
Es ist beängstigend, dass Menschen, die sich lieber nicht von einem Mann regieren lassen, der einer Minderjährigen 85.000 Euro gibt, wie sich der Chef der demokratischen Partei ausdrückt (endlich ein vernünftiger Satz von ihm!), als verklemmte Moralapostel hingestellt werden. Dass man über Sex im Alter und Schlüssellöcher spricht, statt über Lügen, Missbrauch und Korruption. Dass wir uns alle an das, was passiert gewöhnen.
Und es ist bestärkend, dass eine Million Menschen auf die Straße gehen, um zu sagen: "Es reicht". Auch wenn dann viele (darunter auch Regimekritiker) sagen: Ja, aber bitte es ist nicht die Straße, die unser politische Leben entscheidet, nicht "La Piazza" wählt eine Regierung. Nein, "La Piazza" wählt nicht, aber wie man an Tunesien und Ägypten sieht, kann die "Piazza" jedoch abwählen.

Mittwoch, 23. Februar 2011

Die Begünstigten

So heißt eine Familie, die MM, der sonst nur Politiker kritisiert, aufrichtig hasst. Der Sohn der Familie geht mit unseren großen Jungs in die Schule. Nomen est Omen. Großes Haus, wie aus einem Disney-Film. Die Garage ist so groß wie unser gesamter Wohnraum im alten Haus. Ein Volvo, ein jeepartiger Suzuki (für die Schiausflüge). Woher das Geld kommt, weiß man nicht, aber es gibt Gerüchte. Der Mann verkauft etwas, was nur wenige Menschen brauchen, man kann sich nicht recht vorstellen, dass man dadurch zu wirklich viel Geld kommt. Und die jeweiligen Familien sind nicht sonderlich reich.
Mein Freund der Schriftsteller denkt jetzt, ich schreibe wieder über Neid. Aber es ist komplizierter. Zum einen, weil ich die Eltern (die Kinder nicht, die sind schrecklich) eigentlich sympathisch finde und ich gerne möchte, dass sie eine weiße Weste haben, statt undurchsichtige Machenschaften zu wittern. Zum anderen finde ich den Mann so attraktiv, dass ich schlucken muss, wenn ich ihn sehe.
Einmal im Jahr findet im Märchenhaus die Geburtstagsparty des Sohnes statt, bei dem sich dann mehr als die Hälfte der Dorfbevölkerung einfindet. Herr Begünstigt, in Jeans und weißem Hemd, Brusthaar angedeute, kleine Goldektte kommt mit einer Bierflasche in der Hand durch den Garten mit englischem Rasen auf mich zu. Er lächelt, er sieht aus wie die Hochglanzvariante des Obermaurers. So eine kleine Bierflasche hätte ich jetzt auch gerne, aber bitte nicht als die Mutter der beiden Jungs da, sondern als Janis Joplin, deren Motorbike vor der Tür steht. Er bietet mir auch kein Bier an. Ich bin abgekämpft und schlecht frisiert, er sieht ebenfalls müde aus (es wäre schön, wenn er sich wegen mir verzehrt hätte, aber wahrscheinlicher ist, dass er Drogen nimmt). Er befragt mich zum Fortschritt unserer Bauarbeiten. Wie oft kann man eigentlich luachelnd sagen, dass man wie auf dem Campingpatz lebt? Er sagt, wenn er gewusst hätte, was auf ihn zukommt, hätte er nie ein Haus gebaut, er würde es auch nie mehr tun, es sei denn, er bräuchte nichts zu tun, außer den Schlüssel in Empfang zu nehmen. Ich denke, er hat ohnehin nicht viel anderes getan. Ich weiß, was es bedeutet, ein Haus zu bauen oder zu renovieren. Das machen Maurer, keine normal sterblichen Menschen. Und allein um diese Maurer und anschließend Installateure und Elektriker zu leiten, braucht man übermenschliche Kräfte und vor allem eine Menge Geld. Sein Haus ist fertig, unseres wird noch JAHRE unfertig sein. Er sagt, sie würden uns besuchen kommen. Ich möchte aufschreien vor Hysterie, MM schreit tatsächlich auf, vor Entsetzen, als ich es ihm später erzähle. Herr Begünstigt küsst mich auf die Wangen. Er riecht nach Schweiss und Zigaretten, alles dezent, aber doch überraschend. Sein Sohn riecht nach Parfum und ist immer perfekt. Darüberhinaus beherrscht er ein erstaunlich großes Vokabular an Schimpfwörtern, schlägt sich wie ein wildgewordenes Kalb mit Mitschülern und weint, wenn er eine schlechte Note bekommt. Ein seltsames, keineswegs sympathisches Kind. Mein großer Sohn bebt manchmal vor Wut über den Stöpsel. Der Stöpsel mischte sich schon vor Jahren unangenehm in unsere familiäre Ausgeglichenheit. Beim ersten Schulausflug, den meine Jungs absolvierten, hatte ich ihnen kein Geld mitgegeben. Ich war Schulausflugsnovizin und wusste nicht, dass beim Souvenirladen in den Bergen der Kaufrausch ausbricht. Der Stöpsel hatte dem Rallyefahrer 10 Euro geliehen, die dieser in wertloses Zeug verwandelte. Das Resultat waren Tränen und Wut. Die Kinder hatten es gut gemeint, der Rallyefahrer hatte für alle Familienmitglieder Kämme, Zahnstocherbehälter und aus Holz geschnitzte Riesenbleistifte gekauft, der große Sohn weinte, weil ihm die Lehrerinnen ein Spielzeugauto gekauft hatten, das er eigentlich nicht annehmen wollte, weil er schon wusste, dass mich diese Aktionen nicht begeistern. Der Fehler lag bei mir, ich hätte es wissen müssen, ich hätte die Kinder nicht nur mit Broten, Zuckerln und Fruchtsäften, sondern auch mit Geld ausstatten sollen, Am nächsten Tag musste ich dem Stöpsel seine zehn Euro zurückgeben. Ich fragte ihn, wieviel Geld er denn dabei gehabt hätte, wenn er zehn Euro verleihen konnte. Er war damals sieben Jahre alt und sagte nonchalant: "Einiges".
Frau Begünstigt ist nett und verbindlich. Sie geht mit ihrem Sohn und ihrer Tochter schwimmen und wirkt jugendlich. Jede Ritze ihres Hauses ist perfekt. Frau Begünstigt hat eine Tätowierung auf der linken Wade. Der Stil ihrer Kleidung passt weder zu ihrem Mann, noch zu ihrem Haus und auch nicht zu ihrem Auto. Letztens hat sie ihre Kinder in einem zyklamfarbigen Hausanzug abgeholt. Stöpsel Begünstigt war einmal bei uns zu Besuch, die Mutter schenkte uns selbst gemachte Marmelade und ein für Kinder geeignetes Buch über den Gebrauch von Internet. Ich möchte mit Frau Begünstigt Marmelade einkochen, aber gleichzeitig möchte ich, dass Tochter Begünstigt, die in der Garage mit dem Feuerzeug Luftpolsterfolie anzündet, gleich das ganze Feenhaus abfackelt. Ich ärgere mich über mich selbst, dass ich Frau Begünstigt zur Elternvertreterin gewählt habe, da sie dafür nämlich nichts tut, ausser wichtig dreinzuschauen. Zum Schulschluss wird sie Geld für ein Geschenk einsammeln. Meine Freundin hat mir erzählt, sie hätte sich einmal an sie als Elternsprecherin gewandt, worauf Frau Begünstigt zur Direktorin gesagt hätte, dass Frau XY ein Problem hätte. Das hätte meine Freundin Frau XY auch selbst tun können. Die Lehrerinnen sind dem Kind Stöpsel Begünstigt gegenüber sehr nett, wie mir meine Söhne immer überrascht erzählen, da sein Benehmen nicht unbedingt Nettigkeit hervorrufen muss. Am Jahresende finden die Sportspiele in der Schule statt, dann hängt der nette Herr Begünstigt den Kindern ein von ihm gesponserte Medaille um den Hals.
Gestern musste ich Einsicht in das Halbjahreszeugnis der großen Söhne nehmen. Während ich das tat, schlug sich der Rallyefahrer ein Cut über dem rechten Auge, weil er in der Schulhalle ausrutschte und mit dem Kopf auf eine Tischkante schlug. Frau Begünstigt holte Eis, um es auf die Verletzung zu legen und half mir mit Desinfektionsspray aus. Wieso passt bei denen nichts zusammen? Wieso mag ich die Frau und hasse das Kind? Wieso begehre ich den Mann und finde das Haus über alle Maßen unsexy? Was steckt hinter dem zur Schau gestellten Neu-Reichtum?
Mann Begünstigt ist nicht nur Schifahrer, sondern auch Radfahrer. Vielleicht ist seine Sportbegeisterung ja nicht seltsam (wieso arbeitet er denn nicht ununterbrochen, um das Geld anzukarren?) sondern der Grund für seinen Erfolg? Langer Atem einfach. Wie ein Insekt fährt er mit seinem perfekt professionellen bunten Helm und seinen muskulösen Beinen rasch auf der Superstrada. Ich kann nicht hinschauen. Das passt jetzt zum Haus. Die Kurve meiner Erregung stürzt ins Bodenlose. Nichts wie weg. Ich steige aufs Gas und brause an dem Wesen im stromlinienförmigen Raddress vorbei.
Der Rallyefahrer hätte deshalb so ein verheerend schlechtes Zeugnis, erklären mir seine Lehrer und Lehrerinnen, weil er sich nicht konzentrieren könne, da er damit beschäftigt sei, seine zahlreichen Verehrerinnen zu unterhalten. Libidinöse Zerstreuungen scheinen bei uns in der Familie zu liegen.

Dienstag, 22. Februar 2011

Hundertster Post: Trasferimento vero e proprio

Der Umzug ist nicht nur ein Akt des physischen Wahnsinns (wie gerne würde ich jetzt die starken Männer bezahlen, die das Zeug für 3000 Euro schleppen wollten - zu spät), sondern auch eine emotionale Hochschaubahn. Da fallen aus den Büchern Fotos: wir jung und stark. Da lese ich Widmungen in Büchern, die ich eigentlich wegschmeissen will, und die mich dann rühren. Da sind Fotoalben von uns, die wir nicht mehr wir sind. Und dann das Zeug von MM, das eigentlich für den Sondermüll aufbereitet gehört - finde ich zumindest.
Da sind Mäntel, die MM vor vielen Jahren aus Lissabon mitgebracht hat. Sie passen niemandem, den wir kennen. Ich sage: Wie lange sollen wir diese Mäntel noch aufheben? (ich habe sie bereits zum zweiten Mal übersiedelt, sie wechseln auch mehrmals die Plätze in den diversen kastenartigen Aufbewahrungsstätten unseres Lebens, im Moment sind sie in Koffern). MM sagt: Solange ich lebe, wenn ich gestorben bin, kannst du sie wegschmeissen. Mit dieser traurigen Aussage nimmt er den Wind aus meinen aufgeblähten Segeln.
Ich selbst besitze verhältnismäßig wenig (im Vergleich zu ihm zumindest), immer noch mehr als Frau Adler und viel zu viel oder das Falsche.
Aus Anlass des Besuchs unserer Freunde, der am Sonntag stattgefunden hat, hat sich unser materieller Besitz gebündelt: in MMs zukünftigem Studio sind Kisten aufgestapelt, ein schmaler Weg führt durch sie zum rosa Zimmer, in dem Kisten unordentlich auf dem Boden verteilt sind. Meine Freundin konnte nicht kommen, sie ist krank geworden, ich will jetzt aber nicht über psychosomatische Krankheiten nachdenken. "Ich zeige euch nun etwas, was ihr noch nie gesehen habt", sage ich zu ihrem Mann und der vierzehnjährigen Tochter. Ich öffne die Tür zu MMs Studio. Der Effekt spiegelt sich in ihren Gesichtern wider. "Carmen hätte zu weinen begonnen vor Mitgefühl", sagt unser Freund über seine Frau. Ich finde die Kisten toll und ich wandle ein Gedicht von Rilke über den Herbst ab: "Was jetzt in Kisten ist, das wird es lange bleiben." Die Dinge in den Kisten sind geordnet. Vor dem Besuch habe ich das Zimmer, in dem wir im Moment essen, Filme schauen, Aufgaben machen und sprechen, aufgeräumt. Da ich wenig Zeit hatte, habe ich etwas gemacht, was ich noch nie in meinem Leben gemacht habe: ich habe alles (Hefte, Stifte, Taschen, Zeichnungen, Rechnungen, Puppen, Männchen, Kalender, Kleiderbügel) einfach in zwei Kisten gesteckt. Und komischerweise hatte ich gar nicht das Gefühl, ich würde die Sachen dann nie mehr finden. Sie waren aus dem Blick und ich fühlte mich frei und leicht. Mein Geist wurde so klar, dass ich mir vorstellen konnte, diese Kisten wieder hervorzuholen, wenn den Besuch nach Hause gefahren war und die Dinge an ihren Ort zu bringen. Zumindest vom Kleiderbügel weiß ich, wo er hin soll und ich habe bei meiner furiosen Aufräumaktion, die auch andere Teile des Hauses betraf, den großen Wunsch nach Kästen verspürt, während in meinem bisherigen aufregenden Leben Kästen verpönt waren.
Komisch, dass gerade jetzt, in dem Moment, in dem ich mein bürgerliches Leben durch den Kauf von Kästen besiegle, die Menschen aus dem früheren Leben von weitem grüßen. Statt sie zu fragen, wie sie ihre gewerkschaftlichen und revolutionären Ambitionen von vor dreißig Jahren heute pflegen, werde ich sie fragen, wie sie ihre Unterwäsche verstauen. Und ob sie Mäntel aufheben.
Eine Woche noch Kisten, Staub, Grind, Mistsäcke. Manchmal überfällt mich die Verzweiflung. Ich bin am Bodensatz angelangt. An den Schachteln mit DVD-Hüllen, an den Kassetten in einem Format, das es nicht mehr gibt, an einer Kiste mit Badezeug von Freunden, die schon seit Jahren nicht mehr auf Urlaub hierher kommen. An den Autoreifen für ein Auto, das ich nicht mehr besitze (ich gönne mir einen Besuch beim schönen Gommista). 3 Pinocchiokostüme für den Fasching. Das komplette Geschirr-Service für 24 Personen, das meine Schwiegermutter uns zur Hochzeit geschenkt hat, in Originalverpackung. Ich habe gehofft, es wird mir nach zwölf Jahren plötzlich gefallen, aber nein. Ich muss MM anrufen, das müssen wir sicher nicht aufheben. Ich werde es einer Pfarrgemeinde schenken. Das wird schön! Ich werde Carmen anrufen, sie ist eine Kirchgängerin und sie wird meiner Schwiegermutter sicher nicht erzählen, dass ich ihr Service verschenke. Und die Gefahr, dass meine Schwiegermutter in Carmens Pfarre Kaffee trinkt, ist auch gering. Her mit dem Telefon!

Freitag, 18. Februar 2011

(Not) being la Dattilografa

Am Sonntag besuchen wir die wilden und dicken Kusins und Kusinen. Zuerst Assunta, dort sind zwei Kinder, fünf Pferde, ein Pfau, ein paar Schafe, ein Perlhuhn und jede Menge anderer Hühner. Ein über vierzig Jahre alter Sohn, der im September heiraten wird. Dann die Eltern der Kinder, die ein Restaurant führen und bei schläfrig machender Beleuchtung vor dem Kamin sitzen. Der Kusin hat ein eine Solaranlage installiert und berichtet bis ins Detail. Mein Kind ist aus Vorfreude auf den Fasching bereits als Shrek verkleidet und schwitzt nun "come un maiale". Als wir das Haus von Kusin Mario und Familie betreten ist es bereits dunkel. In einem Arbeitsraum im Erdgeschoss rührt die zukünftige Schwiegermutter eines Sohnes in einem riesigen Topf voller Schweineschwarten. Sie wollen uns zum Essen einladen. Alle lachen ununterbrochen. Ich denke, was für eine fröhliche Familie. Wir essen Crostata und trinken Fanta. Meine Schwiegermutter, die mit uns gekommen ist, erzählt Geschichten von Hühnern, die tot auf dem Boden liegen. Wenn meine Schwiegermutter über tote Hühner spricht müssen alle lachen. Bei mir wäre das nicht so. Mario und seine Frau haben zwei Söhne, eine zukünftige Schwiegertochter, eine zukünftige Schwiegermutter, einen zukünftigen Schwiegervater und ein anderes Mädchen mit einem interessanten Piercing im Haus. Das Mädchen mit dem Piercing lacht über die Erzählungen meiner Schwiegermutter und saugt dabei an ihrem Piercing unterhalb der Unterlippe. Mit vielen Worten und vielen Plastiksackerln werden wir verabschiedet. Meine Schwiegermutter steht bereits in einer anderen Garage im Ort und ruft: "Wo bleibt ihr denn?" Meine großen Söhne begeben sich unwillig mit den Worten "Noch mehr Personen!" wieder aus dem Auto, der kleine Shrek tanzt auf der Straße. In der Garage steht Kusin Enzo mit Frau und Schwiegermutter, dieser Kusin scheint aber nicht in sehr inniger Verbindung zu MM zu stehen, denn wir werden weder eingeladen, uns zu setzen, noch trinken wir Fanta.
Wir fahren wieder ins Dorf meiner Schwiegermutter, sie besteht darauf, dass wir bei ihr auch zu Abend essen, nichts da, keine Widerrede. Die Jungs essen mit der Fröhlichkeit einer Wikingertruppe nach einem kriegerischen Überfall die Maccaronireste von Mittag, ich trinke Kräutertee. MM und ich nutzen die Zeit und bringen ein paar unserer reichlich vorhandenen Zitronen zu einer anderen Kusine. Dort erfahren wir, wieso die Schwiegermutter der Tochter eine Hyäne ist, danach fahren wir nach Hause.
Am Montag räume ich Videokassetten aus Plastikkisten in Kartons, lasse den Autoreifen, der am Sonntag total flach war und von einem noch nicht erwähnten Kusin wieder aufgepumpt wurde, beim Gommista, dem Reifenspezialisten, reparieren. Ich packe in unserem alten Haus 12 Kisten mit weiteren Videokasseten ein und hole die Kinder von der Schule. Am Nachmittag geht mir der Rallyefahrer auf den Nerv, weil er seine mangelhaften Geometriekenntnisse lustig findet und auf die Frage, ob ihn seine Verehrerinnen toll fänden, wenn er so unwissend sei, mit einem heiteren "Ja" antwortet. Leider hat er recht, ich habe in seinem Alter auch Jungs toll gefunden, die nicht durch schulische Leistungen auffielen, sondern durch besonders geniale Scherze oder furchterregenden Lebenswandel. Am besten sie hatten einen oder mehrere ausgeschlagene Zähne. Wütend schrubbe ich den Küchenboden. Nachdem ich mich beruhigt habe, versuche ich, ihm Geometrie beizubringen. Es gäbe Wichtigeres.
Nach dem Abendessen mache ich drei Torten, denn am nächsten Tag ist der Geburtstag des Kindes. Das Kind rührt wild entschlossen 3 mal fünf Eier mit Zucker zu Schaum, bis ich es ins Bett schicke. Danach hängen MM und ich eine stattliche Anzahl an Luftballons ins Kinderzimmer. Einer zerplatzt, ich zucke zusammen, der große Sohn schreckt auf, das Kind macht einen tiefen Schnarcher, der Rallyfahrer rührt sich nicht.
Am Dienstag Morgen bin ich müde und bestaube die Torten mit Staubzucker. Ich bringe das Kind selbst in die Schule und dazu eine Torte. Ich beglückwünsche mich für alle Tage, an denen der Schulbus in das morgendliche Autochaos fährt und ich keine total zerstreuten Eltern und Großeltern sehen muss. Ich mache die Torte für die Tanzschule fertig, ich lege die Tanzkleidung des Kindes aufs Bett und fahre in unser altes Haus und lade 16 Plastikkisten voller VHS-Kassetten ins Auto, die MM am nächsten Tag an seinen Arbeitsplatz mitnehmen soll. Um 16 Uhr hole ich die großen Kinder ab, um 16 Uhr 45 kommt das Kind im 45 Minuten entfernten Ort nach Haus, danach Tanzschule. Ich bin total im Zeitplan. Ein Vater von einem Mitschüler macht Gesten und deutet auf den Autoreifen. Diesmal ist ein anderer Reifen platt.
Ich greife zum Telefon. Der Vater versucht mit mir den Reifen zu wechseln, was daran scheitert, dass wir die Schraubenmutter, durch die der Ersatzreifen befestigt ist, nicht aufschrauben können, das war bereits am Sonntag das Problem. Der Vater des Mitschülers fährt zu sich nach Hause, um einen anderen Schraubenschlüssel zu holen. In der Zwischenzeit habe ich MM beauftragt, den Schulbusfahrer anzurufen und dem Kind zu sagen, dass es zur Nachbarin gehen soll, ich habe versucht den Gommista zu erreichen und meine Söhne, die zur Zeit alle Rocky-Filme sehen, davon abzuhalten, auf der Straße Boxkämpfe zu veranstalten. Ich habe mit Flora, der Frau in der Tanzschule gesprochen und ihr leichtsinnig erzählt, dass das Kind eine Torte für die Tanzschule gemacht hat. Da die Drogerie, vor der wir parken, nicht rechtzeitig öffnet, informiere ich auch Passanten über mögliche Öffnungszeiten, die ich erfinde. Eine Frau, die ich von der Wassergymnastik kenne, erzählt mir, wie oft sie schon wegen mangelnden Treibstoffs stehen geblieben ist. Der Vater des Mitschülers kommt wieder. Sein Schraubenschlüssel vermag den Ersatzreifen auch nicht zu befreien. Ich rufe den Gommista an. Zehn Minuten später springt der junge Gommista aus dem Auto, wortlos schraubt er den Reifen ab, springt mit den Worten "Wir reparieren ihn und kommen wieder" in sein Auto und wir stehen weiterhin vor der Drogerie, mittlerweile etwas fröhlicher. Die Drogerie ist auch schon geöffnet. Die Mutter eines Schulkollegen kauft dort etwas ein, der Schulkollege präsentiert in der Zwischenzeit sein aus Zahnstochern angefertigtes Tyrannosaurus-Rex-Skelett. Der schöne Ober-Gommista montiert persönlich den Reifen und teilt mir mit, dass ich über eine Schraube gefahren bin, die sich noch im Reifen befand. Fast glücklich fahre ich in die Werkstatt. Ich bezahle zehn Euro. Am Vortag hatte ich für die Reparatur fünf Euro bezahlt. Meine Laune ist wesentlich besser als vor der Reifenpanne.
Als wir zu Hause ankommen, kommt gerade MM mit dem Kind. Beide haben schlammige Schuhe, denn am Sonntag hat der Nachbar das Feld, das wir überqueren, wenn wir zu ihm gehen, umgegraben. Das Kind ist aufgeregt und sagt, es hätte ohnehin nicht in die Tanzschule gewollt, da es lieber gleich seine Geschenke auspacken wolle. Also Torte, Geschenke und für die Mutter Spumante. Zuvor ramme ich mir ein Eisenstück einer Steckdose unter den Fingernagel des rechten Daumens. Ich weine und Blut fließt ins Waschbecken. Das Kind bringt mir Taschentücher.
Am Mittwoch bin ich immer noch müde und ich muss auf die Gemeinde, die Tickets für die Mensa kaufen, das wollte ich eigentlich Dienstag nachmittags während der Tanzstunde machen. Es gibt keinen Aufschub, das Kind hat bereits vier Mal ohne Ticket gegessen. Ich habe Kopfschmerzen. An einer Tür hängt ein kleines Plakat, das für Kindervolleyball wirbt. Ein Herr spricht mich an, ob ich zu ihm wolle. Das Plakat hängt an der Tür eines Versicherungsbüros. Ich sage nein, ich interessiere mich für das Volleyballtrainig. Der Herr ist der Präsident des Vereins. Wir setzen uns in das Versicherungsbüro und plaudern. Er bietet mir einen Kaffee an, den ich gerne annehme. Nach 45 Minuten setze ich mich wieder in Bewegung. So geht das also. So lernt man Männer kennen. Ich denke, naja, aber der Herr ist bereits in Pension, er war vierzig Jahre lang Sportlehrer. Da fällt mir ein, dass ich auch nicht mehr zwanzig bin. Wir haben Telefonnummern ausgetauscht und meine großen Söhne überlegen sich jetzt mir zu liebe, ob sie vielleicht Volleyball spielen wollen.
MM will ein Antennenkabel mit einem Stanleymesser auseinanderschneiden, rutscht ab und schneidet sich zweimal in den linken Daumen. Blut fließt ins Waschbecken. Viel mehr als bei mir. Wir suchen Gazebinden und Desinfektionsmittel. MM weint nicht. Wir sollten ins Spital fahren, aber wir sind zu erschöpft.
An diesem Abend schaffen wir es, früher ins Bett zu gehen und am Donnerstag bin ich bereits wieder in Hochform und lade 16 Kisten Kassetten ins Auto und eine Kiste mit Kabeln. MMs Daumen verheilt. Das Kind ist glücklich mit seinen Geschenken. Abends schauen wir das Liederfestival San Remo, das MM am Vortag vom Fernsehen aufgenommen hat.
Am Sonntag kommen unsere Freunde zu Besuch. Drei Mädchen, auf die unsere Jungs schon lange warten. Ich darf nicht vergessen, der Mutter zu sagen, dass sie keine Stöckelschuhe anziehen soll.

Freitag, 11. Februar 2011

Zeit des Röchelns und Grunzens

In den kältesten Tagen des Jahres wird in unserer Umgebung traditionell das Hausschwein geschlachtet. Ein Jahr lang wurde das hübsche Tier gefüttert und gepflegt, dann wird es meistens durch einen Schnitt in den Hals (wer sein Tier weniger gern leiden lässt, erschießt es) getötet. Schweine sind nicht blöd, sie wissen, dass es zu Ende geht und auf dem weg zur Schlachtbank schreien sie entsetzlich und bäumen sich auf.
An diese Tatsache erinnert mich MM heute morgen um 6 Uhr 20, als ich sage, ich werde ab nun den Beginn der Radionachrichten mehr hören und er solle mich bitte anrufen, wenn Berlusconi zurückgetreten sei.
Ich kann nicht mehr. Ich kann ihn nicht mehr hören. Seine Schreie. Seine lang anhaltenden Schreie. Vor ein paar Wochen noch hat er beim Leben seiner Kinder geschworen, er hätte nie eine Frau für Sex bezahlt, heute sagt er, er sei ein Sünder, aber gegen ihn sei ein Staatsstreich im Gange. Hier würden Methoden angewendet, wie in der DDR (nicht wie bei der Gestapo wohlgemerkt). Gestern morgen will er den Staat verklagen (den Staat, tatsächlich), abends entschuldigt er sich dafür. Umberto Eco bezeichnet ihn als schizophren, das gefällt MM, aber mir erscheint das ein Euphemismus. Wer sind seine Coaches, seine Berater? Sind das dieselben wie die von Mubarak? Ist er deshalb auf den Schmäh mit Ruby gekommen? Dass er sie durch einen persönlichen Anruf aus dem Polizeigewahrsam holen musste, weil sie die Nichte von Mubarak sei? Das italienische Parlament hat tatsächlich dafür gestimmt, dass der Premierminister aus diesem Grund heraus einen Amtsmissbrauch begangen hätte, also keinen Amtsmissbrauch, sondern die Verhinduerung einer diplomatischen Krise und die Untersuchungsrichter daher von einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss ersetzt werden müssen. Entweder sie halten ihn für einen Idioten oder sie wissen, dass er ein Lügner ist und lügen gerne mit ihm. Das ist die italienische Regierung.
"Ma io non lo so. Ma! Non lo so io!" höre ich das Kind manchmal mit vorwurfsvollem bis empörtem Ton sagen. Das hat er leider von mir übernommen. "Also ich weiß nicht. Also wirklich. Ich kann das einfach nicht verstehen!"

Donnerstag, 3. Februar 2011

Die Rückkehr des Obermaurers

Das Dach ist gut befestigt, aber der Wind dringt immer noch in unser Haus und MM stellt zynisch fest, dass wir dank des Obermaurers nun nicht mehr lüften müssen. Als wir vor etwa eineinhalb Jahren die Kostenvoranschläge für die Arbeiten an unserem renovierungs- und fertigstellungsbedürftigen Haus einholten, favorisierte ich den Obermaurer, auch wenn er für gewisse Arbeiten höhere Preise veranschlagte. Aber er hatte bei seinem Lokalaugenschein hier einen ernsthaften und vor allem aufgeschlossenen Eindruck gemacht, was die Verwendung von umweltfreundlichen Materialien und ökologischer Bauweise betrifft. Ausserdem hielt ich ihn für ausreichend verrückt, meinen ebenfalls verrückten Ehemann bei der Ausführung seiner ungewöhnlichen Pläne zu unterstützen. Das ging auch eine Zeitlang gut und da mir die leidenschaftliche Arbeitsweise des Obermaurers gefiel, wünschte ich mir, er und MM würden Freunde werden und war glücklich zu hören, dass sie sich Geschichten erzählten und sogar gemeinsam andere Häuser anschauten, die der Obermaurer renoviert hatte.
Zu den veranschlagten Arbeiten gesellten sich weitere, die sich während der fortschreitenden Renovierung als notwendig herausstellten. Ich wurde nicht immer konsultiert oder stimmte auch bereitwillig Arbeiten zu, die irgendwann gemacht werden mussten, warum also nicht gleich. Der Obermaurer und seine Truppe wurden in regelmäßigen Abständen bezahlt. Im tiefsten und bittersten Winter, in dem der Wind wie heute durch das Haus ohne Fenster und Türen pfiff, standen dann mitunter sieben Männer unter unserem Dach und klopften alle vorsichtig den Verputz von den Wänden und legten die Steinmauern frei. Die Instandsetzung der Steinmauern war natürlich auch nicht im Kostenvoranschlag vorgesehen gewesen und gemeinsam mit dem Architekten wurde entschieden, dass hierfür eine tageweise Bezahlung der Maurer die ökonomischere Lösung sei. Die Tage, die sie dort liebevoll herumkratzten waren schon recht viele und MM verlangte mehrmals eine Kostenaufstellung und als diese endlich kam, kam es auch gleich zum Eklat. MM hatte schon ein bisschen seine Zuneigung zum Obermaurer verloren und hielt ihn für geschwätzig. Dass ich die Mauern gelobt habe, wird glaube ich für MM ewig ein schwarzer Punkt auf meiner weißen Weste sein. Gerne sprechen tut der Obermaurer durchaus. Normalerweise kommt MM allen sprechenden Menschen mit anthropologischem Interesse entgegen und fordert dieses auch von mir ein, wenn ich mich weigere, zum Kindergeburtstag Kinder aus der Schule einzuladen, da ich nicht mit ihren Müttern einen Nachmttag verbringen möchte, aber was den Obermaurer betrifft, so verließ ihn irgendwann der gute Wille, ganz besonders nachdem endlich die lang verlangte Abrechnung eintraf. Es folgten atemlose Nachrechnungen, eilig einberufene Sitzungen beim Architekten, dort heftige Gespräche und schließlich die Übereinkunft, die Arbeiten wegen Budgetüberschreitung mehr oder weniger sofort einzustellen. Der Obermaurer gewährte eine gewisse Preisreduktion, da durch seine Verzögerung der Kostenangabe Mehrkosten entstanden seien und vor allem erwirkte MM eine Ratenzahlung, die ich bis jetzt aufgrund meiner Arbeitskraft immer pünktlich eingehalten habe. MMs Gehalt ist bereits für der Rückzahlung des Kredits für das Haus zuständig. Die letzte Rate ist im April fällig und da ich im Moment nur als Übersiedlungsexpertin für mich selbst tätig bin, werde ich diese Rate nicht bezahlen können. Ich werde zu Hause sitzen, unter all den Kisten und werde mich schlecht fühlen.
Der Obermaurer bat MM dann noch, nicht im Schlechten auseinander zu gehen, schließlich seien wir eine Art Nachbarn, wir würden uns jeden Tag begegnen und es wäre nicht schön, wenn wir einander nicht grüßen würden. Interessanterweise sehen wir einander aber gar nicht täglich, obwohl wir wirklich relativ nah aneinander wohnen. Ab und zu fahren wir im Auto aneinander vorbei, ich grüße, schaue dann aber nicht besonders freundlich, weil ich immer die Summe vor mir sehe, die die Steinmauern gekostet haben. Wenn ich vorher gewusst hätte, was es kosten wird, hätten wir vielleicht einige Mauern einfach verputzt gelassen.
Selber schuld, wird mein Freund der Schriftsteller jetzt sagen. Ja, eh. Ist so.

Mir tat es Leid um den Obermaurer, um die anthropologischen Gespräche und seine Lebensgeschichte und weil ich mit Verletzung und Trennung weniger gut umgehen kann als mit Wut, habe ich ihn zu meinem Feind gemacht. Immer wenn etwas nicht funktioniert oder wenn ich etwas bemerke, was nicht schön gemacht ist, zum Beispiel einen Fußabtritt auf den Fliesen, der offenbar mit Klebstoff dort angebracht ist, stelle ich mir vor, wie ich wie Jack Nicholson im Film "Shining" mit einer Axt in sein Haus dringe, den Schaum vor dem Mund. Außerdem hege ich eine latente Eifersucht Frau Obermaurer gegenüber und zwar nicht, weil ich so gerne ihren Mann hätte, sondern weil ich finde, sie hat ein (zumindest phasenweise) beneidenswertes Leben. Drei Männer, die Maurer sind und im besten Fall mittags zu Hause essen. Das heißt, etwas Kräftiges, Gutes und Heißes kochen und um 12 Uhr 15 auf den Tisch stellen. Um 13 Uhr sind dann alle wieder weg und Frau Obermaurer kann in Ruhe Kaffee trinken. Die Ruhe dauert bis 16 Uhr, dann muss sie wahrscheinlich die staubigen, schmutzigen Arbeitshosen in die Waschmaschine stopfen. Abends nehmen sich die Männer hoffentlich selbst was zu essen, Tagwache ist sicher früh genug, denn morgens müssen Panini gemacht werden. Niemand, niemand, niemand weiß, was mich an diesem Arbeitsalltag fasziniert. Dass ich selbst meinen Kindern Brote in der Früh machen und mittags kochen muss, finde ich keinesfalls attraktiv. Vielleicht wäre ich glücklich, wenn sie Maurer und keine Schulkinder wären. Bin ich so geldgierig? Hasse ich es so sehr, sie zum Lernen anzuhalten? Möchte ich wirklich lieber wissen, dass der Zement bei Signor X hart geworden ist als dass Augustus die Grenzen seines Reichs absicherte?

Als der Obermaurer und ich noch jede Gelegenheit zum Plaudern nutzten, was daran liegen mag, dass er gern redet und ich ihm gerne zuhörte, unterhielten wir uns auch über die Zahnklinik, die wir beide besuchten. Er stand in der eben erst eingebauten Badewanne und erzählte von seiner Frau, der eine Brücke ausgebrochen war, im Mund versteht sich, und dass die Instandsetzung ihres Gebisses 6000 Euro kosten werde. Ich glaube, in diesem Moment war mein Neid auf Frau Obermaurer perfekt. An gewissen Tagen begleitete der Obermaurer sie zu der 45 Minuten entfernten Zahnklinik. Von den Fenstern der Zahnklinik aus sieht man eine wunderbare Insel. Die Zahnklinik ist im schönsten Ort unserer Küste. Auf der Insel stehen Trulli. Frau Obermaurer steigt aus dem Auto, Herr Obermaurer hat sie chauffiert. Er wird selbstverständlich 6000 Euro für die Reparatur ihres Gebisses bezahlen.
Meine Eifersucht ist meine Müdigkeit. Ich lege keinen Wert darauf, dass MM mich zum Zahnarzt bringt, es gibt gewisse Dinge, die macht frau erstens lieber allein und zweitens vor allem, wenn der Ehemann mittlerweile drei Kinder betreut. Manchmal würde ich aber lieber einfach die Häuser der anderen gegen Bezahlung instand setzen, als die zähe Arbeit des Aufbaus des eigenen Hauses zu leisten.

Und was die Rückzahlung der letzten Rate betrifft, die ein wenig schwierig sein wird, so werde ich es wie in dem Witz machen, den meine griechischstämmige Freundin gerne erzählte:
Ein Mann kann nicht schlafen und wälzt sich im Bett. Seine Frau macht das Licht an und fragt ihn: "Was ist denn?" Er antwortet: "Ich habe Schulden beim Nachbarn und ich kann sie nicht bezahlen, deshalb kann ich nicht schlafen." Die Frau tröstet ihn: "Mach dir keine Sorgen, das Problem kann ich lösen." Sie steht auf und öffnet das Fenster. Sie ruft in die Nacht hinein: "Nachbar, Nachbar, mein Mann kann seine Schulden nicht bezahlen." Sie schließt das Fenster und sagt zu ihrem Mann: "So, sei ganz ruhig, jetzt kann ER nicht schlafen."

Mittwoch, 2. Februar 2011

Wuthering Heights

Kurz nachdem wir von der Schule nach Hause kommen, schaut mich mein großer Sohn betreten an: "Ähm, wusstest du, dass das Dach weg ist?" Ich gehe nach oben, ich denke, es sind ein paar Dachschindeln durch den seit Tagen über uns hinweg fegenden Sturm vom Dach gerutscht.
Unser Dach besteht aus mehreren Teilen: ein Flachdach, ein mit Dachschindeln gedecktes Halbdach, und eine Art Kajüte, aus der man auf das Flachdach steigt.
Das von den Maurern wunderbar gezimmerte Dach der Kajüte ist aus den Angeln gehoben. Die Holzbalken sitzen nicht mehr in ihren Mauereinfassungen sondern zehn Zentimeter weiter oben. Der Wind fegt ins Haus. Ich werde ganz ruhig. Ich gehe zum Telefon. Ich rufe MM an. 15 Minuten später ruft der Rallyefahrer: "Mamma, die Maurer sind da!" Ich sage: "Mach das Fenster auf, sprich mit ihnen!" Ich suche die Schlüssel, um sie von hinten ins Haus zu lassen, da sind sie aber schon durch das Fenster im Kinderzimmer gestiegen. Der Obermaurer, den ich letztes Jahr so vereehrt habe und der jetzt die Persona non grata Nummer eins in meinem Leben ist, weil jegliches Geld, das ich verdiene, vom Gebiss seiner Frau verschlungen wird, drückt mit seiner staubigen Hand die meine: "Signora, wie geht's?" Letztes Jahr waren wir wärmer miteinander, aber vielleicht liegt es auch am Lüftchen, das in unser Haus weht. "Naja, schauen Sie mal!" deute ich auf diesen Art Deckel, der nicht mehr auf seinem Topf sitzt. "Madonna" ruft der Obermaurer, Sohn Mirko schnäuzt sich bedeutungsvoll. Ich gehe das Sugo auf dem Herd umrühren. Eigentlich ist es so wie immer. Die Maurer sind im Haus.

Der Obermaurer erklärt mir den Schlachtplan: Das Dach wird mit Seilen befestigt, damit es nicht davon fliegen kann. In die Verankerungen kann es nicht gedrückt werden, denn bei diesem Wind könne man nicht auf dem Dach arbeiten. Schaut er mich dabei vorwurfsvoll an? Sein Heiligenschein ist wieder da. Sicherheit geht vor. Ich wünsche mir, er ist wirklich der gute Mensch, für den ich ihn halte. Jetzt spiele jedoch ich meinen Trumpf aus: Haben sie denn damals Bolzen verankert? Ich sage nicht, dass MM den Architekten angerufen hat, und dieser die Frage gestellt hat, nonchalant benutze ich das Wort "Tirafondi", als hätte auch ich ein Architekturstudium abgeschlossen. Ja, sagen sie eifrig, aber das sei eben das Problem, der Wind hätte die Bolzen aus der Mauer gerissen. Daher könne man das Dach eigentlich auch nicht einfach wieder reindrücken, denn da seien ja die Bolzen. Die kann man aber nicht mehr verwenden, die sind jetzt ausgeleiert. In wirklichkeit ist ein größerer Eingriff vonnöten, sie würden ein Gerüst aufbauen und das Ganze von Aussen lösen, aber erst sobald schönes Wetter sei.

Hm, sage ich, und hole meine Kinder zum Essen. "Müssen wir zahlen?" sagt mein großer Sohn nach bedächtigem Schweigen. Ich liebe ihn. "Nein," antworte ich, "das Dach haben sie gemacht, wir können nichts dafür, dass es beim ersten Wind abhebt." Der Rallyfahrer kichert:"Er hat gesagt: Mamma mia che ventaccio!" Der Rallyefahrer liebt alle Worte die mit -"accio" enden, da es sich um ein Pejorativsuffix handelt. Aber es stimmt, der Wind ist wirklich ungewöhnlich stark. In den Wetternachrichten wird er als Wind mit Windstärke 6 (46km/h) auf der Beaufort-Skala beschrieben, mit Böen. Ich finde ihn allerdings als Sturm mit Windstärke 9 besser definiert: "Äste brechen, kleinere Schäden an Häusern, Ziegel und Rauchhauben werden von Dächern gehoben, Gartenmöbel werden umgeworfen und verweht, beim Gehen erhebliche Behinderung." Aber gut, die von den Wetternachrichten messen den Wind im Ort und nicht auf unserem Hügel.

Während wir unsere Spaghetti essen, hämmert es über unseren Köpfen, ein vertrautes Geräusch. Ich bin aufgeregt und habe rote Backen. Schließlich gelingt es den Maurern doch, die Dachbalken wieder in die Vertiefungen in den Mauern zu drücken. "Ich habe einen Moment Windstille ausgenutzt und konnte das Dach mit meinem Gewicht runterdrücken." sagt der Obermaurer mit wissenschaftlichem Ernst. Ich möchte lachen, darüber, wie er stolz die Worte "mit meinem Gewicht" ausspricht, dünn wie er ist. Ich lache nicht, schließlich sind wir keine Freunde mehr.
Ein kleiner Spalt ist geblieben, das Dach wurde mit Holzbalken und Seilen verankert. Die Seile ächzen, es klingt, als wären wir auf einem Schiff. Zum Glück sind wir auf dem Land und nicht auf dem Meer.

Ich glaube, der Maurer wird bald vorbeikommen und schauen, wie es seiner Konstruktion geht. Hoffentlich legt sich der Wind. In den Wetternachrichten heißt der Wind "moderato" und ab morgen "debole". Was ist für die eigentlich stürmisch?
Wenn man von der Beschreibung des Windes ausgeht, ist auch in Italien alles noch recht moderat. Und meinen Spumante, den ich für den Rücktritt des Premierministers eingekühlt habe, habe ich bereits getrunken. Danach bin ich gleich in den Supermarkt gegangen und habe zwei weitere Flaschen gekauft, ich bin stets gerüstet, auch wenn der Premier in unserem kleinen Zweikampf, von dem niemand etwas weiß, immer der Gewinner zu sein scheint. Er scherzt auf Festen, ich hänge am Computer und am Radio. Ein Journalist vom Corriere della sera sagt, man wird ihm Beihilfe zur Prostitution Minderjähriger nicht nachweisen können, Amtsmissbrauch aber sehr wohl. Was wird eigentlich danach sein? Was werden wir mit den Trümmern machen? Durchatmen, sich besinnen: wo waren wir eigentlich stehen geblieben?