Mittwoch, 30. Januar 2013

Un vero disastro

Keine Angst, das ist nur die Bewertung des Grammatiktests meiner großen Söhne. Ein echtes Desaster.

Da wollte die Lehrerin wohl das sein, was man auf italienisch "spiritoso" nennt. Ironisch? Geistreich?

Manchmal muss ich an eine Episode denken, die aus der Zeit stammt, als ich eine junge Studentin am Institut der Theaterwissenschaft war und in einem Seminar über eine Theorie berichtete, die meiner Meinung nach eine gewisse Gefahr in sich barg. "Kollegin", sagte der Seminarleiter (und ich denke, das beste, was einem an der Universität passieren kann, ist, Kollegin genannt zu werden). "Kollegin, gefährlich ist, wenn das Dach jetzt über uns einstürzt, aber diese Theorie kann nicht gefährlich sein." Ich habe ihn gehasst, den Seminarleiter, denn ich war ungefähr 19 Jahre alt, und es war wirklich ziemlich viel gefährlich rund um mich. In den vielen Jahren, die seitdem vergangen sind, habe ich in regelmäßigen Abständen an dieses Ereignis denken müssen und durch den Grammatiktest meiner Kinder kam es zur Katharsis.

Und ich habe es geschafft, ganz gegen mein dringendes Bedürfnis, mich total und unaufhaltsam aufzuregen, beim Abendessen einfach zu sagen: "Kinder, was eure Lehrerin da meint, scheint mir ein bisschen übertrieben. Wenn unser Hügel im Meer versinkt, dann ist es ein Desaster. Wenn unser Garten auf das Haus unseres Nachbarn Vincenzo rutscht, dann ist es ein Desaster. Wenn ihr nicht imstande seid, einen Satz zu analysieren, dann ist das zwar ein Problem, aber ein Desaster ist es nicht." Meine Kinder sind überrascht und verwirrt.

Selbst MM ist überrascht und verwirrt.

Am nächsten Tag frage ich die Kinder, ob die Lehrerin jetzt ihre Drohung wahr gemacht hat und mich in die Schule bestellt hat, aber sie sagen "Nein, sie hat nur gesagt, wenn wir uns nicht mehr anstrengen, wird sie uns nicht mehr beachten." Ich sage: "Da hat sie wohl die falschen Worte gewählt, denn das wäre euch ja mehr als nur recht, wenn sie euch nicht beachten würde. " Meine Kinder grinsen belustigt. "Sie meinte aber, wenn ihr euch nicht mehr anstrengt, werdet ihr sitzen bleiben. Das wollte sie sagen." Meine Kinder sind nicht mehr belustigt. Wenn schon schwarze Pädagogik, dann aber richtig. Wenn schon schlechte Noten, dann schlechte Noten, aber keine witzigen Ausdrücke. Danke.

Montag, 28. Januar 2013

Musik

"Music was my first love, and it could be my last", sang Barry Manilow, als er noch (gemeinsam mit Rod Stewart) der einzige Mann in meinem Leben war. Das war auch ungefähr die Zeit, als ich in mein Tagebuch schrieb: "Solange es Wein und Musik gibt, werde ich mir nicht das Leben nehmen." Und so ist es auch viele Jahre später, trotz Wirtschaftskrise.

Wobei sich das mit der Musik natürlich verändert hat. Über den orangen Philips-Plattenspieler versus you tube brauchen wir hier nicht zu reden, kommen wir lieber gleich zur Sache und das ist die mit der Mittelschule mit dem musikalischen Schwerpunkt, man erinnert sich tralalalala, die Söhne spielen Schlagzeug und singen und es gibt ein Orchester und eine königliche Musiklehrerin. Jetzt muss ich auch das Kind in diese Schule einschreiben und das Kind soll ein Instrument auswählen. Das Kind ist, auch das weiß man, ein wahrer Nonkonformist und geht nicht Fußball spielen sondern in klassischen Tanz. Das Kind kündigt bereits vor der Vorstellung der Instrumente an, dass es gedenkt, Harfe zu lernen. HARFE? Nein, das Kind hat nur einen Scherz gemacht. Sagt es.

Ich gehe  mit dem Kind zur Präsentation der Instrumente und wo etwa 50 Kinder mit glänzenden Augen einer Vorstellung von 8 Musikinstrumenten folgen sollen, sitzen etwa 12 Kinder, dafür kommen mir gleich mehrmals die Tränen. Da gibt es Querflöte, Harfe, Klavier, Oboe, Klarinette, Trompete, Percussion und Geige. Die Lehrer stellen sich vor und ein oder mehrere Schüler geben etwas zum Besten. Die Instrumente werden auch für die nächsten drei Jahre ausgeliehen. Meine Freundinnen in der großen Stadt bekommen große Augen, ich weiß. Meine Freundinnen in der mittelgroßen Gemeinde in Kalabrien sind leicht genervt. Was? Auch noch ein Instrument? Eine Mutter der fünf Kinder aus der Klasse meines Kindes sagt, ihr Sohn sei nur gekommen, um die Instrumente zu sehen, er werde sicher keines spielen, er ginge ja ohnehin schon Fußballspielen. Andere Mütter bringen ihre Kinder nicht, denn wenn diese auch ein Instrument erlernen werden, dann muss ihnen das bitte nicht vorgestellt werden. Man weiß doch, was das ist, oder?

Ich musste hingehen, damit mein Kind sieht, dass es genauso gut Oboe lernen könnte, auch Geige ist nicht schwach, aber das Kind, zwar elektrisiert von der gesamten Darbietung, bleibt bei seiner Entscheidung: es wird Harfe lernen. Da hilft auch nichts, dass der  Dirigent, der Freund der Königin, auftritt und sich herausstellt, dass er nicht nur dirigiert, sondern auch Trompete unterrichtet und der Chef der Blasmusikkappelle des Orts ist. Ich denke zwar, dass ich vielleicht Trompete statt Organetto lernen sollte und das Kind ist auch sehr erfreut, dass die beiden Schüler nun "When the saints go marchin' in" blasen, aber das hält ihn nicht davon ab, nach der Darbietung zu sagen: "Ich habe nur eine Frage: können auch Männer Harfe spielen, oder ist das nur was für Frauen." In diesem Moment kommt der Dirigent auf uns zu und ich frage mich erstens, ob er sich an unser aufregendes Erlebnis im Theater erinnert und zweitens, ob ich aus Gründen des allgemeinen Wohlbefindens mich jetzt blitzschnell in den Dirigenten verlieben soll, und da ist er schon in meinem olfaktorischen Bereich und NEIN, das habe ich in der Frischluft vor dem Theater nicht ahnen können: er ist Zigarrenraucher. Er fragt, ob er was für uns tun kann. Danke, aber mein Sohn will Harfe lernen.

Ich mache das Kind mit der Harfelehrerin bekannt. Und das ist Liebe. Ja, es gibt noch einen anderen kleinen Jüngling, der Harfe lernt. Das Kind ist beruhigt. Lehrerin und Kind planen bereits, wie sie mit der Harfe lateinamerikanische Rhythmen zupfen werden. Der Percussionlehrer ist noch dazu der Mann der schönen peruanischen Harfenfrau und im lateinamerikanischen musikalischen Gehirn werden rhythmische Familien-Happenings ausgesponnen.

Ich will heim zu meinem Kassettenrecorder und Barry Manilow. Und ich gestehe: es gab mehr als Barry und Rod. Da waren auch die Bay City Rollers...Ihnen ist es zu verdanken, dass ich auch heute noch davon besessen bin, dauernd einen Rock'n'Roll Love Letter schreiben zu wollen. Das kann ich dann tun, wenn nächstes Jahr gezupft und getrommelt wird.

Freitag, 25. Januar 2013

Eine Königin

Back with Brecht. Bert Brecht will reisen. Das ist die Vergnügung des Brechts, nicht das Tanzen. Eislaufen ist übrigens auch nicht schlecht, aber da tun wir uns schwer in unserem mediterranen Klima. Ich wollte jedoch etwas zum Thema Singen schreiben. Vor der denkwürdigen Aufführung des Weihnachtslieds von Charles Dickens kam es zu einem interessanten Eklat. Am Freitag abend vor der Aufführung, die am Dienstag abend stattfinden sollte, kamen die Jungs glücklich aus der Probe und verkündeten, dass sie auch morgen, Samstag, zur Probe müssten. Ich sagte alarmiert: aber da ist doch Matheschularbeit! Ja, aber. Die Musiklehrer hätten die Eltern gefragt. Bestätigt MM. Mir ist das mehr als nur recht, ich bin eh kein Fan von Matheschularbeiten. Am nächsten Morgen bringe ich meine Kinder zur Probe ins Theater, denn unser 10000 Einwohner-Ort verfügt über ein recht schmuckes Theater, das sich in seinem Ortskern auf einem Hügel befindet. Außerdem gibt es einen Teil, der sich Marina nennt und wo sich auch die Schule befindet und darüberhinaus mehr als zwanzig weitere Ortsteile, eben einer davon unserer, auf einem anderen Hügel. Auf dem Land, wie man hier sagt, in campagna.
Nach dem Theater fahre ich auf den Markt, um Schuhe für meinen großen Sohn umzutauschen, natürlich für die Aufführung und ein Kinderbuch zu kaufen, nicht für die Aufführung. In der Buchhandlung (für Notfälle- ein Raum im Papier- und Zeitungsladen) begegne ich der Elternvertreterin der Klasse meiner großen Kinder. Sowieso ein Reizthema für mich, die Elternvertreterin. Sie stört mich beim Aussuchen des Kinderbuchs: sie hätte ihre Tochter in die Schule gebracht, denn das wäre ja sehr seltsam, diese Probe sei nie angesagt und die Matheprof eh immer dagegen gewesen und blablabla. Fakt ist: fünf Kinder sind in der Schule, die anderen bei der Probe, die Matheprof wird demnächst eine Pumpgun hervorholen und hat die erste Mutter zur Sau gemacht, die unsicher mit ihrer Tochter die Schule betreten hat. (Selber schuld, die Mutter, im Theater wär ihr das nicht passiert.) Ganz gegen mein Naturell bleibe ich ruhig und sage: Eigentlich interessiert mich das nicht, das sollen sich die Profs untereinander ausmachen. (Hab ich wirklich gesagt. Naja, vielleicht war ich auch ein bisschen lauter und habe es so gesagt: Das hab ich mir eh gleich gedacht, dass es so enden wird, aber ich habe angenommen, dass sich das die Profs untereinander ausmachen). Die Elternvertreterin beginnt, die Kinder anzuschwärzen, sie hätten sich sms geschickt, um ihre Absenz auszuhecken. Das stimmt nicht, sage ich. Die Elternvertreterin bezeichnet die Aufführung als "Recitella", eine kleine Mucki-Butzi-Aufführung. Jetzt schweige ich so laut, dass der Geschäftsinhaber nachschauen kommt, was die beiden Signoras da herumkreischen. Die Elternvertreterin geht, aber nur kurz, sie steht schon wieder mit dem Mobiltelefon am Ohr, als ich den Laden verlassen möchte und dabei vergesse ich, die Fineliner zu kaufen, die in den Adventkalender gehört hätten, was mich noch tagelang ärgern wird. Jetzt hat also die Matheprof die Elternvertreterin angerufen und ihr aufgetragen, sie solle organisieren, dass alle Eltern ihre Kinder in die Schule bringen, weil sie jetzt nämlich ihre Schularbeit abhalten wird. Der Orchesterdirketor weigert sich nämich, diesen Transport zu übernehmen, weil er erstens mit einem Auto ungefähr fünf Mal fahren müsste und außerdem hätten die Eltern ihre Kinder ins Theater gebracht und nicht in die Schule und es sei ein wenig komisch, die Kinder dann dorthin zu bringen, wo ihre Eltern sie offensichtlich nicht hinbringen wollten. Die Elternvertreterin ist verzweifelt. Auf ihren Fingernägeln bröckelt der Nagellack, als sie zittrig immer wieder Nummern in ihr Mobiltelefon eintippt. "Ich hab doch nicht alle Nummern!" stößt sie hervor. Ich erspare es ihr und mir, jetzt zu sagen: "Wer soll sie haben, wenn nicht du, Elternvertreterin!" (Meine Freundin, der ich diese Story bereits erzählt habe, meinte einlenkend, die Elternvertreterin würde vielleicht sonst alles über e-mail machen. Nein, so ist es nicht. Sie macht gar nichts. Eventuell informiert sie ihre Freundinnen von Beschlüssen, die in den Sitzungen, denen sie beiwohnt, getroffen werden). Ich seufze und sage, ich geh jetzt meine Kinder holen und ich nehm auch noch andere mit, so viel halt ins Auto passen. "Tu das nicht!" ruft sie mir nach. "Wenn was passiert, bist du schuld!" Jetzt bin ich auch noch terrorisiert von dem Gedanken, dass ich einen Unfall habe, wenn ich zehn Minuten mit dem Auto fahre. Ich spüre eine innere Kälte in mir aufsteigen.

Im Theater gehe ich auf die blonde Prof zu, die gesagt hat, dass auch Kinder eingebunden werden sollen, die nicht immer in der ersten Reihe stehen. Ich sage: "Professoressa, c'è un casino." Was soviel bedeutet wie: Frau Professor, das ist ein Chaos." Ja, sagt die Professoressa und schaut mich sorgenvoll an. Sie meint, ein wenig Gemeinsinn wäre auch bei der Matheprof angenommen worden. Sei aber ein Irrtum gewesen. Der Direktor des Orchesters telefoniert wild herum. Ich auch. MM sagt, wir sollen uns da nicht in einen Krieg ziehen lassen. Mittlerweile stehen wir außerhalb des Theaters, das extra aufgesperrt wurde und in dem das Orchester sitzt und wartet. Der Orchesterdirektor hat jetzt die Matheprof dran. Er sagt, dass wenn die Kinder jetzt in die Schule gebracht werden würden, bestehe die Gefahr, dass sie weder die Probe, noch die Matheschularbeit machen könnten. Zum Glück sagt er nicht: Hier steht eine Mutter, die den ganzen Vormittag Chauffeur spielen möchte. Im übrigen die einzige Mutter. Wie haben die anderen das denn gecheckt? Die sind vielleicht nicht der Elternsprecherin begegnet. Der Orchesterdirektor, auf Deutsch heißt das Dirigent, entfernt sich ein bisschen von uns. Aus ihren wunderbar blauen Augen, deren Wimpern sehr schwarz getuscht sind, schaut ihm die Musikprof nach, immer noch extrem besorgt. Sie schüttelt den Kopf und sagt einen Satz, in dem das Wort "Regina", also Königin vorkommt. Komischerweise denke ich, sie meint, es brauche nun Queen Elizabeth, so wie manchmal nach einem Führer gerufen wird und frage neugierig nach, was sie da gesagt hat. "Manchmal fühl ich mich wie eine Königin." sagt sie, mit dem Blick verloren zwischen Himmel und dem unter uns liegenden Meer. Ich schaue sie verblüfft an. Sie erwidert meinen Blick. "Ich stehe über diesen Dingen, ich hab diesen Stress nicht, deshalb fühl ich mich wie eine Königin." Und dann beginnt sie viel zu reden. Dass Musik halt immer unterbewertet ist, und dass in der ersten Klasse die Kinder nicht im Chor der Aufführung singen wollten und als sie fragte, weshalb, meinte ein Kind, seine Mutter wolle, dass es Schule mache. "Und ich?" hätte die Matheprof gefragt: "Bin ich ein Clown?" Sie erzählt, dass sie mit einem stotternden Kind gearbeitet habe, das nicht stottern musste, wenn es sang. Ob das Kind jetzt immer singen müsse, wurde sie dann gefragt. Über diese Geschichte habe ich in diesen Wochen viel nachgedacht.
Und deshalb bin ich froh, dass der Bert Brecht auch singen wollte.
Der Dirigent löst das Dilemma Probe versus Matheschularbeit, er sagt, die Matheprof hätte jetzt eingesehen, dass die Probe an erster Stelle stehen würde. Ich beruhige damit zwanzig ängstlich schauende Kinder. (Im Übrigen hat sie die Schularbeit dann mit fünf Kindern gemacht, die anderen machen sie nicht. Was das bedeutet, will ich nicht nachfragen, ich fühle mich nicht berufen.) Der Dirigent und die Königin gehen ein wenig zur Seite und diskutieren laut. Es geht um Respekt. Ich fahre nach Hause.

Nach der gelungenen Aufführung steht die Königin auf der Bühne und weint fast. Und ich würde gerne eine Singstunde nehmen. Die Singlehrerin in meiner Volksschule hat nämlich gesagt, ich kann nicht singen. Die Idee, dass es ihre Aufgabe sei, mir das beizubringen, ist ihr nicht gekommen. Also bin ich so alt geworden und habe immer gewusst, dass ich nicht singen kann. Manchmal habe ich das als Waffe eingesetzt, ungefähr so wie stinkende Socken.

Aber jetzt kenne ich eine richtige Königin und werde reisen (oder lesen oder tanzen), singen und freundlich sein.

Mittwoch, 2. Januar 2013

2013 mit Bert Brecht

In den letzten Wochen und dann nur mehr Tagen hab ich wieder einmal die Welt nicht verstanden. Nicht nur, dass man alles unter Dach und Fach für ein Weihnachtsfest haben soll, soll man auch einen ruhigen Advent verbringen. Schon mal eine Quadratur des Kreises, wenn man bedenkt, dass alle in diesen letzten Tagen vor Weihnachten noch ihre lang vorbereiteten (und auch nicht im Sommer begonnenen) künstlerisch wertvollen Aufführungen machen und im geringsten Fall einfach in der Schule singen (damit das Gesù Bambino geboren werden kann, wie die Italienischlehrerin des Kindes es leicht geschwächt ausdrückte). Die Charles Dickens Aufführung der großen Kinder war ein wirklicher ungeschmeichelter Erfolg und der Erfolg der Kinder als Sänger und Darsteller und vor allem als Mädchenhelden ganz real. Meine Beanspruchung davor auch. Dazu sagt man Stress, heutzutage.
Das wirklich Unerbittliche aber ist, dass man, ist Weihnachten einmal vorbei, nicht einmal Luft holen kann und schon muss man Blei gießen, um das nächste Jahr positiv zu interpretieren. Den Programmpunkt mit dem Blei haben wir diesmal ausgelassen und den mit dem Sekt auch. Wir haben schlaftrunken ein Feuerwerk aus dem Zug aus gesehen, in der angeblich sehr hübschen Stadt Villach, im österreichischen Bundesland Kärnten. Ich betone das, weil meine Kinder nach dem Weihnachtsferien eine Prüfung in Geografie zum Thema Österreich ablegen müssen und ich betone nun alles, was mit Österreich zu tun hat.
Der Betrug an diesem Jahresende und nicht nur diesem ist, dass unter dem lauten Plopp der Sektkorken und dem beruhigenden Geglitzer der Christbaumkugeln untergeht, dass in meinem Postkasten alle Jahresabrechnungen liegen, die ausgeglichen werden sollen und kaum jemand will mir dabei einen Überschuss auszahlen und nächste Woche alle Mitgliedsbeiträge beglichen werden sollen, die sich auf das neue Jahr beziehen. Diese beiden Monate sind mit Abstand die teuersten im ganzen Jahr. Heute Nacht habe ich schon sehr kindisch davon geträumt, dass Beamte des italienischen Fernsehens Rai hier in unserer ländlichen Gegend Fernsehkonsumenten suchten, die noch nicht den Mitgliedsbeitrag bezahlten. Peinlicherweise habe ich ihnen im Traum gleich gesagt, dass ich zahle, wahrscheinlich wollte ich verhindern, dass sie in mein ungeputztes Haus kommen.
Und in dieser kurzen Zeit, die mir im Monat Dezember zum Denken geblieben ist, habe ich es weder geschafft, das letzte Jahr Revue passieren zu lassen und meine Schlüsse daraus zu ziehen, noch das neue Jahr zu planen und wenn schon nicht gute Vorsätze zu machen, dann doch immerhin mir das eine oder andere Ziel zu setzen. Derer gäbe es ja viele, man müsste sie nur in den richtigen Rahmen stellen.

Ein Ziel ist jedoch gewiss und dazu braucht es kein neues Jahr: ich will mehr schlafen, denn ich krieche, wie man bei mir zu Hause, also in dem Viertel, in dem ich aufgewachsen bin, sagt: am Zahnfleisch daher. Meine Mutter verwendet solche Ausdrücke nicht, dabei sind sie sehr bildlich. Ich bin also sehr müde und manchmal weiß ich nicht mehr was ich gerade tun wollte. Das heißt glaub ich auch Stress.
Und diesen Vorsatz versuche ich jetzt gleich zu realisieren, solange die Schule es mir noch ermöglicht und sofort sprießen kleine grüne Blättchen dort, wo nichts mehr hängt, oder Eiszapfen baumeln. Mein erstes grünes Blättchen sind drei Worte, die mir beim Aufstehen (endlich ausgeschlafen, zum ersten Mal seit einigen Jahren) in den Sinn kommen und sie stammen von Bert Brecht: Tanzen, Singen, Freundlich Sein. Ich weiß, sie stammen aus dem Gedicht "Vergnügungen" und zeigen eine weiche Seite vom Brecht. Ich behaupte das jetzt jedenfalls. Oder hat er Lesen, Singen, Freundlich Sein geschrieben? Nein, ich schau das jetzt nicht nach, nein. Für mich sind es jetzt die drei. Immense Herausforderungen, denn getanzt wird mit dem Körper der Dattilografa ja nicht mehr, wie sie beschlossen hat (und dann zur Über-90-jährigen Party eingeladen wurde oder zum Zumba - NEIN!), aber vielleicht findet sich noch eine Alternative zur überwuzelten Möchtegern-Discoqueen. Im übrigen bleibt mir immer noch die Tarantella. Zum Thema Singen fällt mir auch was ein, aber jetzt muss ich die Kinder wecken und dabei versuchen freundlich zu sein. Und wenn sie beim Frühstück sitzen, schau ich nach, ob der Brecht wirklich getanzt hat.