Montag, 28. März 2011

Gute Vorsätze

Am Sonntag Morgen sage ich zu MM:"Ich musste gestern länger aufbleiben, um die nächste Wochen zu planen, zwei Treffen 'Familie-Schule' (was bei uns einst ehrlicherweise Elternsprechtag hieß) und ein Treffen mit den Müttern der fünften Klasse, um über das Abschiedsgeschenk für die Lehrer zu sprechen, das ist anstrengender, als täglich 14 Stunden Arbeit." MM lacht. Findet er mich lustig? Auf jeden Fall finde ich es besser, er lacht, als er macht eine Bemerkung, wie: "Wieso? Was ist daran so schlimm?". Das Treffen mit den Müttern hat mir selbst ein Lachen entlockt, allerdings ein böses, so wie das von einem Cowboy, der seinem Gegenüber, mit dem er sich gleich duellieren wird, ein letztes Mal ins Gesicht lacht. Innerlich spucke ich in den Sand und sage zur Elternvertreterin, Frau Begünstigt: "Niemand, niemand, niemand weiß, wie unwichtig das Abschiedsgeschenk für die Lehrer in meinem Leben ist. Es hat den Stellenwert der Nachricht, wer aus der TV-Sendung Grande Fratello ausgeschieden ist." Nachdem ich einen Abend lang den Torturen der nächsten Woche ins Auge geblickt habe, entschließe ich mich, an dem Treffen im Haus von Frau Begünstigt teilzunehmen. Und zwar zu 95 % deshalb, weil meinen Freunden und Lesern mein Beitrag "Die Versammlung" gefallen hat, und ich davon überzeugt bin, dass der anthropologische Wert des Treffens hoch sein wird. Was die anderen 5 % betrifft, so bin ich entschlossen, originell und inspiriert zu sein. Ich werde keinen Kauf einer Bodenvase zulassen. Ich werde ein Album mit Zeichnungen anregen (so machen das Kinder in der Metropole in Mitteleuropa, wie ich von meiner Freundin weiß), ein Gruppenfoto (es gibt nämlich kein Klassenfoto), und ein Lied mit umgedichteten Text für die Lehrer. Die Lehrer quälen die Kinder und ihre Eltern ja mit einer Theateraufführung am Schulende (in unserem Fall "I promessi sposi"), warum nicht endlich einmal Rache nehmen und ein Liedchen mit schweinischem Hintergrund trällern? Ich würde die Kinder sogar dabei betreuen. Nun, man wird sehen, ich bin auf das Treffen vorbereitet. Ich werde mich dann noch für eine Niederlage wappnen.
Am Sonntag abend sage ich zu MM, ich hätte nach 15 Jahren beschlossen, meine immer wiederkehrenden Fehler und Unsicherheiten im Italienischen auszumerzen. Ich gehe mit der dicken italienischen Grammatik ins Bett. Ich sehe, dass zu meinem Thema, welches mich schon so viele Jahre treu begleitet, nur eine, noch dazu völlig unverständliche Seite existiert. Wenn ich schon nicht verstehen kann, wann man "Ihnen" und wann man "Sie" sagt, werde ich es also üben. Ich will nicht mehr sagen: "Danke Sie, Ich rufe Ihnen an." Nachdem ich etwa zwanzig Mal gesagt habe: "Ich bitte Sie um Verzeihung!", lacht MM (schon wieder!). Er fragt mich, warum ich nicht einfach "Entschuldigung!" sagen will. Nein, ich will sagen: "Ich bitte Sie um Verzeihung, darf ich Du zu Sie sagen?"

Donnerstag, 24. März 2011

I've got to admit it's getting better

Nach dem Lesen einschlägiger Websites zum Thema: "Hilfe, ich bin eine überforderte Frau, die gerade umgezogen ist", derer es erstaunlich viele gibt, da es in Amerika durchaus üblich ist, auch mehrmals pro Jahr zu übersiedeln oder zumindest alle paar Jahre, habe ich mir ein Herz gefasst und es getan. Ich habe sie angefasst, meine Kisten. Man kann also bereits das Wohnzimmer betreten, ohne dabei Ausdruckstanz-Verrenkungen machen zu müssen. Man kann sich aufs Sofa setzen. Das haben meine Kinder bis jetzt ohnehin gemacht, denn es war ihnen egal, dass sie sich dabei auf Teppichen und Taschen niederließen. Ich habe einen spektakulären Flash beim Klopfen eines Teppichs gehabt. Ich habe seit etwa 35 Jahren niemanden mehr einen Teppich klopfen sehen und es ist toll! Viele Morde aus Leidenschaft könnten verhindert werden, wenn die Leute wieder ihre Teppiche klopfen würden, statt zu saugen. Der Staubsauger wartet auf die neuen Staubsaugersäcke. Seit mein Staubsauger in der Reparatur war, da ich mehrere Wochen Feinstaub in Form von Zement gesaugt habe, und die Firma so nett war, mir als Garantieschaden einen neuen Motor einzusetzen, wird mein Staubsauger besser behandelt als der Hund: nur Stoffsäcke, neue Filter, ein eigener Platz in den von MM aufgebauten neuen Regalen im Eingangsbereich. Ich habe nämlich auch die Autos gesaugt, danach war der Staubsaugersack so schwer, dass ich ihn mit zwei Händen nehmen musste. Während ich energisch am Ende eines zehn Meter langen Verlängerungskabel werkte, erinnerte ich mich selbst an die großartige Annette Bening im Film "American Beauty", die als Immobilienmaklerin das zu verkaufende Haus putzt und sich dabei selbst coacht: "I will sell this house today, I will sell this house today". Ich will nämlich mein großes Auto verkaufen. Dass ich dem Obermaurer die letzte Rate zahlen muss ist hinlänglich bekannt und wenn ich weiterhin mein Geld in die teure Versicherung des großen Autos stecke, wird da nie was draus. Wir meinten, einen Siebensitzer zu brauchen, damit wir ruhigere Autofahrten mit den Kindern hatten, was sich als falscher Gedanke herausstellte: sie saßen trotzdem immer nebeneinander, sie beklagten sich trotzdem immer über einander. Die Rettung waren drei MP3-Player. Die können sie auch in einem kleineren Auto einstöpseln.
Das Auto hat unseren gesamten Haushalt transportiert. Kein einziges Mal mussten wir einen Lastwagen mieten. Das Auto hat unseren Kasten und den gesamten Bodenbelag in mehreren Etappen von Ikea in Salerno auf unseren Hügel gebracht. Das Auto hat uns beste Dienste geleistet. Und nun: I will sell this car (wenn nicht today, dann immerhin) soon.

Montag, 21. März 2011

Freitags Fisch

Was der Rallyefahrer gar nicht leiden kann, ist, wenn ich mich aufrege. Über ihn sowieso nicht, aber auch nicht, wenn ich mich über was anderes echauffiere. Einmal flog ich mit den Kindern in die nördlicheren Gefilde unseres Kontinents und blöderweise ging die Fluglinie gerade in Konkurs, was unsere Reise zu einer ziemlichen Strapaze machte. Als wir nach einem harten Tag und vielen vielen Stunden auf dem Flughafen von Neapel um ein Uhr morgens auf einem Flughafen ankamen, von dem aus wir mit einem Bus auf einen anderen Flughafen gebracht werden sollten, erklärte mir der Busfahrer, er werde nicht gleich los fahren, sondern auf die Fluggäste eines Flugzeugs warten, das erst landen müsse. Ich holte Atem und schrie. Ich deutete auf die Kinder. Die blickten beschämt zu Boden. Der Fahrer wartete auf die anderen Fluggäste. Ich war heiser. Der Rallyfahrer sagte: Ich mag nicht, wenn du herumschreist. Ich dachte, ich wäre mutig und würde meine Kinder durch meinen Überschuss an Zivilcourage beeindrucken. Ob ich da also übers Ziel hinausgeschossen habe oder ob meine Kinder schreiende Mütter nicht so toll finden, weil für sie auch Frauen mit Muskeln nicht toll sind und Linda Hamilton in "Terminator" nicht so großartig, wie für mich, ist mir noch immer nicht klar.

Aus diesem Grund erfahren wir von vielen Dingen, die in der Schule geschehen, nichts. "Ihr geht dann in die Schule und regt euch auf." sagt der Rallyefahrer zu MM. Dass ich mich auch darüber aufregen werde, dass er freitags in der Schulmensa ein trockenes Panino und einen Apfel isst, hat er wohl nicht angenommen und es mir unschuldig erzählt.Freitags gibt es nämlich Fisch in der Schulmensa. Den isst der Rallyefahrer nicht. Die Abneigung gegen Fisch teilt er sicherlich mit vielen Schulkollegen, aber die essen dann vielleicht Minestrone als Primo, die isst der Rallyefahrer auch nicht. Ich gebe zu, dass ein Kind, das Salat nur mit Salz isst (den angebotenen, mit Essig und Öl gewürzten Salat muss er zwangsläufig verschmähen), Pasta nur mit Tomatensauce oder Hülsenfrüchten, aber nicht mit Gemüse und keine Art Käse oder Fisch (außer in Fischstäbchen versteckt), in einer Schulmensa nicht die besten Karten hat, aber dass es regelmäßig nur Brot und Obst isst, rechtfertigt die Existenz einer Mensa auch nicht. Ich muss also etwas tun, sage ich mit so wenig bebender Stimme, wie möglich. Ich greife wieder einmal zum Telefon. MM, was soll ich tun, soll ich die Elternvertreterin, Frau Begünstigt, fragen, soll ich die Mensa anrufen, soll ich die Schuldirektorin behelligen? Alle drei, sagt MM. Ich lege los. Frau Begünstigt wirft sich ins Zeug. Sie wird mit den Mädels aus der Mensa reden, damit sie eine Alternative für den Rallyefahrer anbieten (da fällt mir auf, dass ich gehofft habe, jemand würde mit mir gemeinsam gegen den katholischen Fischterror zu Felde ziehen, aber nein). Die Mädels in der Mensa wüssten ja nicht, was gegessen wird und was nicht. Eben. Ich sage, ich werde die Direktorin anrufen, was ich dann aber vergesse, verschiebe und jedenfalls nicht tue. Da ruft sie wieder an. Sie hätte mit der Direktorin gesprochen, welche ihr gesagt habe, sie solle mir sagen (sie selbst sähe mich ja nicht, da ich meine Kinder nicht selbst in die Schule bringe - Unterton?), ich solle am besten ein ärztliches Attest bringen, welches betätige, dass mein Sohn allergisch auf Milchprodukte und auf Fisch sei, damit die Mensa sich nicht aufregen kann. Ich möchte etwas sagen, aber meine vielen Jahre Lebenserfahrung lassen dieses etwas in meiner Kehle ersticken und nur "Danke!" herauskommen. Ich öffne die Tür zur Terrasse und sage in verhaltenem Ton, damit der Hund nicht zu bellen beginnt: "Ich hasse euch, ich hasse euch alle."

Ein paar Tage später sehe ich Frau Begünstigt vor der Schule. Sie strahlt mich an. An ihrem Hals hängt ein interessantes, modern geformtes silbernes Kreuz. Stöpsel Begünstigt trägt eine beeindruckend große Zahnregulierung, die sich um seinen kleinen Kopf spannt. Das machen sie bestimmt, damit er einmal so schön wird, wie sein Vater. Oder damit er keine Schimpfworte mehr sagt. Ich gestehe ihr, dass ich noch nicht zur Kinderärztin gelaufen bin, aber nicht, dass ich es hasse, falsche Atteste ausstellen zu lassen. Dass es nicht meinem Lifestyle entspricht. Dass ich lieber in Hungerstreik gehen würde, als dieses System zu unterstützen, das mit kleinen Lügen beginnt und mit erpressten Attesten für die Frühpension endet.
Aber als der Rallyefahrer am darauffolgenden Freitag wieder ein trockenes Brot und eine Mandarine zum Mittagessen bekommt, denke ich, dass der Besuch bei der Kinderärztin vielleicht doch der schmerzloseste Weg ist.

Sonntag, 20. März 2011

Am Sonntag fliegen ein paar Gedanken

Das Kind starrt auf ein weißes Blatt und überlegt, wie es die Blumen im Buch zeichnen soll. "Aber ich zeichne nicht, so wie sie da sind". Na gut, dann eben nicht. Ich starre auf die weiße Seite in meinem Computer und weiß eigentlich nicht mehr, was ich schreiben wollte. Sind Sonntage schön? Machen dann die Kinder den Eltern das Frühstück oder eine Freude? Ich habe ein Buch von Paul Auster gekauft und will es lesen. Es heißt "Sunset Park". Ich will Kisten ausräumen oder zumindest verstehen, warum ich es nicht tue. Ich will, dass mich eine Psychologin an der Hand nimmt und sagt: "Greif da hin und das an, brav Schatzilein, siehst du, es geht." Nein, es geht nicht. Jeder Handgriff hat einen Erdrutsch an Konsequenzen zur Folge. Die Würste, die uns unsere Nachbarinnen geschenkt haben, müssen aus einem Raum weg, den wir "L'entrata" nennen, ein Raum des mittelalten Teils des Hauses, der durch eine alte Holztür zu betreten ist und der unser Eingang sein soll, sein sollte, jedenfalls jetzt unsere Garderobe ist. Und da dort alle unsere Jacken und Mäntel hängen, riechen die jetzt nach Würsten. Wenn ich die Würste weggebe, muss ich einen neuen Platz finden (im Keller?). Wenn ich in den Keller gehe, erwarten mich dort revolutionäre Dinge, die ich tun müsste. Wenn ich durch das Wohnzimmer gehe, indem ich mich geschickt an Kisten vorbeischlängle, stelle ich fest, dass wir kein Wohnzimmer, sondern einen Lagerraum haben, noch dazu einen ziemlich unordentlichen. Nachbarin Teresa spricht manchmal mit mir vor oder hinter dem Haus, ich mache dann eine vage Handbewegung Richtung herrliches Wohnzimmer mit herrlichen Schiebefensterfronten und versuche ihr mit meinen rasch sprudelnden Worten den Weg zu verstellen, den ihr ihre verständliche Neugier diktiert.
Innerlich liege ich auf einem Bett beim Psychiater oder irgendeinem Menschen, der mit mir sprechen möchte. "Warum fällt es ihnen so schwer, sich von den Kisten zu trennen, Signora Dattilografa?" Ich will widersprechen, aber ich sehe ein, er hat recht. Ich liebe den Zustand des Unfertigen, des Übersiedelns, des Vorläufigen, der Bewegung. Natürlich gebe ich das nicht zu. Aber ich komme zu der Einsicht, dass Bewegung hier nur noch stattfinden kann, wenn ich den Ramsch bewege. Vorläufig bin ich sowieso. Ich bin prekär.
Aber da ist noch etwas, was ich dem Herrn im weißen Mantel(?) sagen möchte: ich bin zutiefst beunruhigt. Ich bekomme immer größere Angst. Meine Angst nimmt mit dem Lebensalter zu. Als Kind hatte ich keine Angst vor der Finsternis, als Jugendliche hatte ich keine Angst vor den seltsamsten Erfahrungen, als Erwachsene hatte ich keine Angst, weder vor dem Neuen, noch vor der Unsicherheit und ich habe mir einiges zugemutet. Ich habe keine Angst vor dem Fliegen und keine Angst zu Ertrinken. Aber seit ich vor einigen Jahren "America" von T.C.Boyle gelesen habe, bin ich zu einem Jammerlappen geworden. Am Ende des Buchs befinden sich die beiden Protagonisten, die sich den ganzen Roman über nicht getroffen haben, gemeinsam in einer Art Sintflut. Dieses Bild geht nicht mehr aus meinem Kopf und ich habe seitdem keinen Regen mit unschuldiger Freude erlebt. Ich lebe in einer erdrutschgefährdeten Gegend. Ich lebe in einer erdbebengefährdeten Gegend. Ich befürchte aber, dass, wenn ich auswandere, sich meine Ängst verändern und anpassen. Gestern hatte ich Angst, dass MM und meine drei Söhne, die im Auto vor mir fuhren, einen Unfall haben könnten. Und immer wieder kehrt das Rutschen und Reißen aus dem Roman von T.C. Boyle in meine Gedanken zurück. Und diese sind sogar unangenehmer als die Vorstellung, die Schulden beim Obermaurer nicht begleichen zu können.

Auf welche drei Dinge möchten Sie nicht verzichten? frage ich mich selbst als wandelnde Frauenzeitschrift. Auf meine Familie, das Internet und Rotwein, antworte ich mit größtmöglicher Sicherheit, wobei das ja eigentlich keine Dinge sind. Und wovor haben Sie am meisten Angst? Das fragt aber keine Frauenzeitschrift. Vor einem Erdrutsch. Ich schaue nicht fern und ich kaufe keine Zeitungen. Die Bilder von Japan im Internet kann ich nur überfliegen. MM erzählt mir von der Tsunamiwelle vom Meer aus gesehen. Ich möchte mich unter den Tisch setzen.

Das Leben ist eine Brücke, du kannst über sie gehen, aber kein Haus auf ihr bauen, sagen die Indianer (in Nordamerika, wie MM zu sagen pflegt, denn auf italienisch gibt es die in Indien und die in Nordamerika). Oder haben sie gesagt. Ich werde mich bemühen, das Leben mehr aus der Sicht der Indianer zu sehen.

Mittwoch, 16. März 2011

Ich möchte ein Reporter sein

- oder ein Wissenschafter, ja, ein Mann bitte. Ich möchte nicht betroffen sein, ich möchte analysieren. Ich möchte nicht denken: Ihr Spielverderber, ihr elenden, ich hätte euch seit dreißig Jahren sagen können, dass eure Atomkraftwerke eines Tages ein Problem werden.
Im Radio höre ich, dass die Menschen in Japan nicht sich selbst in den Vordergrund stellen, sondern etwas größeres, ein Wir. In Italien sei das natürlich nicht so. Nein, aber trotzdem bringt mir der Verkäufer in der Macelleria, in der ich immer frage, ob es Eier vom Haushuhn gibt, vier Eier zum Auto und sagt, ich soll das nächste Mal zahlen. Der Postbeamte lässt mich 10 Cent weniger zahlen, weil er nicht rausgeben kann und dem Mann, der mir das Katzenfutter verkauft, soll ich die drei Euro ein anderes Mal bringen. Meine Nachbarinnen decken mich mit Salat und Brokkoli ein. Ich glaube nicht, dass all diese Menschen über mich und meine Familie trampeln würden, wenn wir in Not wären.
Und vielleicht kratzen wir hier auch noch die Kurve und sagen dem Herrn Berlusconi, dass er sich seine geplanten Atomkraftwerke behalten kann.

Freitag, 11. März 2011

La Dattilografa wird von Träumen gepeinigt

Während das Kind träumt, es hätte eine mit Brillanten besetzte Batmanmaske, träume ich von Mirko, dem coolen Sohn des Obermaurers. Er möchte eine Auskunft über ein deutsches Wort, da seine Freundin deutsch lerne. Er verfolgt mich über Dächer mit diesem Deutschbuch, in dem das Wort steht. Endlich kommen wir zur Ruhe. Das Wort heißt: "mim". Aber das ist kein deutsches Wort, sage ich. Seine Mutter hätte es im Buch gefunden. Nach einer raschen Recherche im Buch, stelle ich fest, dass das Wort französisch ist. (Im Traum versteht sich - bin ich wirklich so kultiviert, französische Wörter abzunwandeln, oder arbeitet mein Unterbewusstsein mit Mimose oder Mimi). Mirko küsst mich auf den Mund und sagt, seine Freundin sei 17 Jahre älter als er.
Verschwitzt und sehr übel gelaunt wache ich auf. Dass ich Mirko, dem ich im wirklichen Leben bald eine stattliche Summe in die Hand drücken muss, die ich (noch) nicht habe, im Traum küssen muss, liegt sicher daran, dass ich gestern, meinem Freund dem Schriftsteller zu Ehren über das Thema Prostitution nachgedacht habe. Mein Freund, der Schriftsteller muss vielleicht einen hassenswerten Job ausführen, weil er, wie ich, eine Familie ernähren muss. Während die sich dem Frühling ergebende Landschaft an meinem im Autobus befindlichen Auge vorbeizieht, denke ich, wie weit ich gehen würde, um meine Familie zu erhalten, und ich weiß, theoretisch ist das sehr weit, praktisch beginne ich schnell, die Leidensfähigkeit zu verlieren. Die Grenze zwischen dem, was man noch als Erfahrung fürs Leben verbuchen kann und dem was Ekel über sich selbst erregt, muss gefunden und respektiert werden.

Vielleicht wollte mir der Traum sagen, dass ich Mirko fragen könnte, ob er statt Geld Deutschstunden will. Ich könnte dann ihn unterrichten, seine Kinder und Kindeskinder. Die ganze Familie Obermaurer! Dann wäre ich im Jahr 2036 schuldenfrei und wir hätten hier auf dem Hügel eine deutschsprachige Enklave.
Die Freundin ist im wirklichen Leben natürlich auch nicht 17 Jahre älter, sondern möglicherweise 17. Sollte ich die Nummer 17 im Lotto spielen? Meine Schwiegermutter wüsste eine Antwort, aber ich will meine Schwiegermutter keinesfalls mit meinen finanziellen Sorgen belasten.

Ich denke über das Wort MIM nach. Es ist ein Anagramm. Es ist die Abkürzung für "mein immenses Martyrium", oder eine Zusage für einen tollen Job: "möchte ich machen!". Vielleicht auch als laszives: "mehr, immer mehr!" zu gebrauchen.

Gut tut, die Sorgen nicht für sich zu behalten. Ich sage zu MM: "Heute Nacht habe ich von Mirko geträumt, Ahahhaha!" Vor allem das kräftige, wenn auch völlig gekünstelte Lachen war befreiend.

Mittwoch, 9. März 2011

Trasferimento concluso

Im letzten Jahrhundert pflegte ich in einer Hand eine Zigarette, in der anderen ein Weinglas zu halten. Ich saß in der kleinen Küche der Mansardenwohnung von MM, der damals nicht mein Ehemann, sondern mein illegitimer Geliebter war, sah ihm beim Zubereiten einer Frittata zu, un sprach mit ihm über Kunst und Politik. Das waren die Abende. Morgens hat niemand meinen zukünftigen Ehemann je vor zehn Uhr an seinem Arbeitsplatz gesehen.

Heutzutage steckt mein Mann seine elektronische Stechkarte, Tesserino genannt, um acht Uhr in den Automaten, um sieben Uhr zwanzig nehmen die Jungs den öffentlichen Autobus in der 30 Minuten entfernten Kleinstadt und wenn das Kind mit mir um 7 Uhr 41 aus dem Haus geht, erreichen wir den Schulbus ohne Keuchen. Über Politik zu reden versuchen wir zu vermeiden, denn morgens heißt das garantiert Verspätung und abends beginnen wir die Stimmen zu heben. Wenn heftige Worte fallen, weiß der Rallyefahrer: ihr sprecht über Politik, stimmt's? Um über Kunst zu sprechen haben wir echt wenig Zeit, aber die Hoffnung, dass das alles wieder kommt, gibt es noch.

15 Jahre lang haben wir nach der Mansardenwohnung in einem Haus auf einem Hügel gewohnt, an dessen Fuß das Meer liegt. Zuerst hatten wir nur eine Ebene dieses Zwei-Familienhauses, später haben wir das obere Stockwerk dazugemietet und dort unser Büro eingerichtet.
Im Lauf der Jahre haben wir daran gedacht, das Haus zu kaufen, statt Miete zu bezahlen, aber der Vermieter wollte das Haus nicht verkaufen, sondern es einmal seinen Kindern vererben. Ebenfalls im Lauf der Jahre haben wir die Mängel der Bausubstanz des Hauses kennen gelernt und wollten es nicht mehr kaufen. Da wollte es der Vermieter plötzlich verkaufen, der Preis, den er sich für das Haus ausgedacht hatte, war so hoch, dass wir gar keine Ausreden erfinden mussten, weshalb wir das Haus nicht mehr kaufen wollten. Aber es war klar, dass wir eine andere Behausung finden mussten und es war klar, dass wir nicht mehr ein Haus mieten wollten, denn das Bedürfnis, Tomaten anzubauen und die Kinder draußen kreischen zu lassen, erforderte mehr als ein Haus, erforderte GRUNDBESITZ! Nach mehr als einem Jahr frustrierender Suche haben wir gefunden, was zu uns passte, haben uns von der Bank für den Erwerb desselben Geld ausgeborgt und anschließend das Haus auf unserem Stück Land fertig gebaut, bzw. renoviert. Im August letzten Sommers hatten wir keine Geduld mehr, zwischen altem und neuem Haus hin und her zu pendeln, haben die Kinderbetten ins einzig fertige Zimmer gestellt, unser eigenes Bett auf den Zementboden und haben behauptet, wir wohnen jetzt hier. Nach und nach haben wir lebensnotwendigen Besitz hierher gebracht. Im alten Haus arbeitete ich weiterhin im Büro. Mitte November schloss ich eine Arbeit ab und widmete mich ab diesem Zeitpunkt dem echten und wahren Auszug. Beinahe täglich ordnete ich Besitz in Kisten und transportierte diese mit dem großen Auto hierher. Seit Mitte November haben wir mindestens vier Mal pro Woche ein Auto voller Kisten ausgeladen. Seit dem Sommer müssen wir überschlagsmässig hundert Autos ein- und ausgeladen haben. Wir konnten den Umzug nicht an einem Wochenende oder binnen einer Woche machen, da wir im neuen Haus nicht die Unterbringungsmöglichkeiten hatten. Wohin mit 300 Bücherkisten, wenn der Boden nicht verlegt ist? Wohin mit der Bekleidung von 5 Menschen, wenn es keinen Kasten gibt? Wohin mit dem Inhalt von zwei Garagen, wenn die neue Garage noch mit Bauschutt voll ist? Amerikanische Internet-Seiten hätten uns strukturierteres Arbeiten empfohlen, but we did it anyway: Unser altes Haus ist seit zwei Wochen LEER. LEER. LEER. So, dass es hallt, so, dass der Boden glänzt. MM hat alle Löcher an der Wand, an denen unsere Regale befestigt waren, vergipst, in letzter Minute hat er sogar noch Fahrradhäken abmontiert.
Die Kinder sind durch das leere, hallende und vor Sauberkeit blinkende Haus gelaufen und haben sich gewundert, dass ihre Betten in einem so kleinen Zimmer Platz hatten. Das einzige, was an uns erinnert, sind einige Spider-Man Aufkleber an einer Wand, die nicht mehr zu entfernen waren. Und mein geliebter, sonnenenergiebetriebener Warmwasserspeicher, den ich nolens volens auf dem Dach lasse. Der Vermieter will ihn zwar finanziell nicht ablösen, aber wir wollen auch keinen Installateur bezahlen, der ihn dort abbaut und hier wieder aufbaut, zumal die Sonnenkollektoren älter als 10 Jahre sind und wie man mir versichert, eventuell nicht mehr lange funktionieren.

An einem Nachmittag letzter Woche, nachdem wir schon einen Satz Schlüssel abgegeben hatten und nur noch Sachen in der Garage hatten, holte ich die Kinder von der Schule und lud mit ihnen in fretta e furia, wie man hier sagt (muss so was heißen wie in rasender Eile) eine Autoladung voller Krims Krams ins Auto: Taucherflossen, Teppichklopfer, Keimautomaten für Sprossen. Mit einem Ohr hörte ich ein entferntes Geräusch wie Wasserrauschen, vielleicht war die Spülung im oberen Klo endgültig kaputt gegangen. Ich hatte keine Zeit und keine Lust, auf die Terrasse zu gehen und nachzuschauen, alles war schon abgeschlossen.
Zwei Tage später kam ich morgens, um eine möglicherweise letzte Fuhr von alten Flaschen und anderen Objekten für mögliche zukünftige Skulpturen meines künstlerisch ambitionierten Ehemanns zu holen und da war wieder das Geräusch - diesmal war es an der Zeit zu handeln. Ich lugte aus dem Klofenster auf die Terrasse im oberen Stockwerk und stürzte sofort auf dieselbige. Aus einer Dichtung der Leitung, die zum Warmwasserspeicher auf dem Dach führt, spritzte energisch Wasser gegen die Wand, der Boden war noch mit Eichenblättern bedeckt (Ich dachte, du hättest hier auch geputzt, sagte MM und zog sich meinen ewigen Hass zu) und nass. Ich schloss den Hauptwasserhahn und rannte nach unten. Was ich befürchtet hatte, war Wirklichkeit: Von der Decke tropfte Wasser auf den Boden im Badezimmer, im Vorzimmer und besonders aus einer Elektroverteilstelle war das Wasser auf den Boden geronnen. Wie üblich griff ich zum Telefon. Ich befahl meiner Stimme, nicht zu zittern. Ich dachte, ich hätte keinen Kubikmeter Putzfetzen mehr, die ich zum Aufwischen der Wassermassen benötigte. MM war cool, er stand ja auch nicht im Wasser. Kannst du nicht mit dem Besen das Wasser in den Garten kehren? fragte er. Zum Glück war der grobe Besen noch da und nach einer halben Stunden Fegen war das Wasser draußen. So viel war es dann auch nicht, dachte ich. Warum ich die Tür zum ehemaligen Kinderzimmer öffnete, weiß ich nicht, vielleicht wollte ich das Fenster öffnen, damit der Boden schneller trocknete. Da habe ich etwas über das Gefälle dieses Hauses gelernt: das Wasser war unter der Tür durch ins Kinderzimmer geronnen. Ein Brocken aus Müdigkeit, Panik, Verlassensein wollte aus meiner Brust in meine Kehle, ich wollte Schluchzen, ich sah mich auf der Anklagebank sitzen, der Richter sagte zu mir: "Sie haben absichtlich das Haus ihres Vermieters verwüstet, weil er ihnen die Sonnenenergieanlage nicht ablösen wollte, stimmt's? Dafür zahlen sie jetzt den gesmaten Kaufpreis des Hauses, HAHAHA!" Ich begann das Wasser aus dem Zimmer ins Vorzimmer und dann in den Garten zu kehren. Ich dachte an die zenbuddhistischen Mönche. Als mir schon sehr heiß geworden war, dachte ich, zwanzig Mal noch, dann ist es draußen. So war es. Ich war froh, dass wir nicht mehr in dem Haus wohnten, wir hätten ausziehen müssen. Wasserschäden in einem leeren Haus sind praktischer. Die Sonne schien und der Boden trocknete rasch. Da ich bereits in Schwung war, schob ich auch noch ein paar Liter sich dort stauendes Regenwasser aus der Garage und hob zwei mumifizierte Mäuse in den Müllsack. Sie hatten, wie ich sehen konnte, eine rote Schaumstoffrolle zum Schwimmen im Meer halb aufgefressen. MM überlegt, ob wir diese Schaumstoffrollen jetzt als Mäusegift vermarkten.
Ich habe den Tag als schrecklichsten meines Lebens verbucht. Danach habe ich mit der Ausrede, dass Fasching sei, den Kindern täglich Popcorn gemacht oder sie mit Chips und Cola abgefüllt. Beim ersten Mal haben wir offiziell auf den Auszug aus dem alten Haus angestoßen, die anderen Male habe ich es niemandem gesagt, aber ich habe mir mit Prosecco zugeprostet und mir versichert, wie froh ich bin, nicht mehr hinfahren zu müssen, nichts mehr ein- und ausladen zu müssen und all mein Zeug hier zu haben, auch wenn ich im Moment nicht weiß, in welcher Kiste genau.

Dienstag, 8. März 2011

Signor Berlusconi geht zum Zahnarzt,

dort befindet er sich 4 Stunden unter dem Messer. Seine Kaufähigkeit muss wieder hergestellt werden, da er vor etwa einem Jahr in Milano von einem klarerweise geistig nicht zurechnungsfähigem Menschen mit einem schweren Gegenstand auf die Wange geschlagen worden war. Am Abend trifft er in seiner Villa in Arcore (mit diesem Namen verbindet man heute automatisch Unsittliches) Signor Bossi, seines Zeichens Leader der Lega Nord. Sie sprechen Wichtiges.

Mir selbst wurde vor einer Woche ein infektiöser Backenzahn extrahiert. Ich lag 15 Minuten auf dem Behandlungsstuhl und war etwa 20 Minuten lang fröhlich, was mit der Betäubung zusammen hängen mag. Sobald ich die Zahnklinik verlassen hatte, begann ich zu weinen und als ich endlich zu Hause angekommen war, brach ich an MMs Brust in veritables Schluchzen aus.

Deshalb ist es gut, dass Herr Berlusconi Italiens Ministerpräsident ist und nicht ich.