Sonntag, 25. Dezember 2011

Die Weihnachtshexe

Der Umstand, dass meine Mutter in der Kirche immer sehr laut gesungen hat und ich mich zu Tode schämte, hat sicher dazu beigetragen, dass ich mich heute als Atheistin bezeichne, dass unsere Kinder kein Sakrament empfangen haben und im erzkatholischen Süditalien vom Religionsunterricht abgemeldet sind. Ich glaube, die Schule hält uns für Zeugen Jehovas, alles andere ist irgendwie unvorstellbar.
Heuer feiern wir erstmals den Heiligen Abend in meiner winzigen Wohnung in der großen Stadt. Und ich habe einen Christbaum, den MM und die Kinder wahnsinnig schnell wahnsinnig hübsch aufgeputzt haben. Da ich mich ja nichts um Weihnachten schere, habe ich manchmal Zeit zu denken, dass unser Leben vor Weihnachten immer ein wenig schwierig wird und dass das an diese Geschichte erinnert, in der eine Frau ein Kind in einem Stall zur Welt bringt, weil sie kein Hotelzimmer gefunden hat. Anschließend muss ich an T.C. Boyles apokalyptischen Roman "America" denken.

Meine Mutter und meine Geschwister kommen, um an meinen Baum zu singen. Meine Mutter hat sogar an das Liederbuch gedacht. Meine Geschwister erinnern sich immer besser an die Texte, die haben in der Volksschule noch nicht so viele verschiedene Dinge lernen müssen. Ich stehe neben meiner Mutter und es geht dem Höhepunkt entgegen: Stille Nacht. Ich singe wirklich gerne. Meine Mutter dreht sich um und sagt: Sing nicht so hoch, so hoch kann ich nicht singen. Ich singe weiter, ein zufriedenes Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. In der Volksschule hat die Singlehrerin gesagt, ich bin unmusikalisch und ich habe geweint. Meine Mutter verstummt. Ich singe immer weiter. Ich bin gemein. Oh wie lacht.

Dienstag, 6. Dezember 2011

Eine Ehe

Die kleinen Bäume haben rote und orange Blätter bekommen und der Hügel gegenüber ist bunt gepunktet. Nach Monaten regnet es wieder und ich versuche zu trotzen und die Wäsche in der Sonne aufzuhängen, obwohl es klar ist, dass diese dunklen Wolken am Himmel nicht nur zum Spaß da sind. Spaß gibt es überhaupt wenig, seit wir Mario Monti und nicht mehr Silvio haben. Mit Silvio war es immerhin surreal, mit Monti ist es ernst. Eine neue Ministerin weint, als sie ihr Sparprogramm vorträgt. Soll mir das sympathisch sein?

Ein paar hundert Meter unterhalb unseres Hauses, auf dessen Dach ich die vielen Socken aufhänge, bewegt sich etwas in den sauber aufgereihten Weinstöcken. Ich sehe nicht mehr so gut, aber die runden Formen lassen auf die Frau des Nachbarn schließen, der vor ein paar Wochen im stolzen Alter von 91 Jahren gestorben ist.
Seine abenteuerlichen Autofahrten habe ich hier bereits beschrieben, er hat sie alle überlebt , was er nicht überlebt hat, war vermutlich ein Wechsel seiner Gewohnheiten, seines Tagesablaufs. Losardo war ein zähes Männchen mit einem Schnurrbart, curvo, wie man auf italienisch sagt, ein wenig krumm. Als seltsam wurde er uns gleich beschrieben. Er war viele Jahre lang in Argentinien gewesen, wie viele Süditaliener, wie der Nonno von MM zum Beispiel. Dann kam er zurück, da muss er schon sechzig gewesen sein. Seine Frau, so erzählten die anderen Nachbarn, sei jünger ale er, was irgendwie gleich an etwas Verruchtes denken ließ, an feiste Schenkel über den dünnen Altmännerbeinen. Aber wenn einer über Neunzig ist, kann seine Frau leicht jünger sein und dabei auch schon Mitte siebzig.
Wenn man den beiden auf ihrem uralten knatternden Traktor begegnete, ließ man die Hoffnung fahren, den Bus zu erreichen oder die Kinder rechtzeitig von der Schule abzuholen. Im Schritttempo tuckerte der Traktor die enge Straße hoch, hinter der Abgaswolke eine kleine Rauchfahne aus der Zigarette des Männleins. Hupen half nichts, wer hörte einen schon in diesem Karacho und bei dieser Taubheit. Und wenn er mit den anderen Nachbarn möglicherweise nicht gut befreundet war, so grüßte er uns doch immer mit einer kreisförmigen Begwegung seines Arms und einem Blick zum Himmel. Wenn man gerade den Garten goss, so konnte das bedeuten: was, du gießt? Es ist viel zu heiß. Oder: ja bei dieser Hitze muss man gießen. Oder aber: wozu gießen, es regnet ohnehin bald, siehst du das nicht?
Dieselbe kreisförmige Bewegung mit der Zigarette in der Hand ohne Gartenschlauch unsererseits konnte als: jaja, nur keine Eile interpretiert werden, oder als: Mann, heute gibt es aber viel zu tun. Ich glaube, die Tendenz des Grußes hing allein von der Stimmung des Begrüßten ab.
Vor seinem Tod verbrachte er ein paar Tage im Spital. Meine Nachbarin Teresa hat ihn dort gepflegt und war danach mit den Nerven ganz am Ende: Er hat mich geschlagen, Dattilografa, kannst du dir das vorstellen?

Seine Frau, die junge, die Mitte siebzig ist, erinnert an einen etwas verschrumpelten Apfel, rot und gelb, wenn man ihn schält, ist er süß. Sie saß auf dem Traktor neben ihm, oberhalb von ihm. Morgens kamen sie auf ihr Grundstück und abends fuhren sie in ihr Haus zurück, das etwas oberhalb dieses Stück Lands mit den Weinreihen liegt. Letzten Sommer haben sie Kürbisse angebaut, die MM neugierig ausgespäht hat, hinter den Schilfrohrpflanzungen. Und dann hat MM auch begonnen Kürbisse anzubauen. Wochenlang sprach er über nichts anderes als über Kürbisse, so wie andere von Smartphones sprechen. Ich glaube, die Kollegen, mit denen er in der Mensa isst, waren froh, als die Kürbiszeit mit einigen Exemplaren zu Ende ging, die das hochgesteckte Ziel nicht erreicht hatten. Aber die Kürbispflanzung des Nachbarn erstrahlte jeden Morgen mit ihren gelben Blüten.
Wenn Mann und Frau auf dem Traktor fuhren und man hinter ihnen alle Zeit der Welt hatte, die dicken Waden der Frau zu betrachten, die unter einer Art Wanderkniebundhose hervorlugten, dann kam einem unvermeidelich Hubert von Goiserns Song von den dicken Wadeln in den Sinn. "Ich glaube, die beiden haben es gut", sagte ich einmal zu meinen pubertierenden Kindern, die sich vor lauter Lachen nicht mehr erfingen, weil sie sich vorstellten, wie die dicke Frau das Männchen täglich zu Boden schleudert. So stellen sie es sich eben vor: es gut haben.
Und eines Tages im Sommer fiel er zu Boden. Er stürzte oft, erzählte die Frau später MM, und hatte ein Hämatom auf dem Kopf, worauf die Frau beschloss, ihn ins Spital zu bringen. Nach kurzem wurde er wieder entlassen und bereits auf dem Heimweg meldete er Hunger an. Die Frau sagte, sie werde ihm etwas kochen und als die Pasta fertig war, hatte der Mann keinen Hunger mehr, im Gegenteil, er musste erbrechen. Bald fanden sich die beiden wieder im Krankenhaus ein und es wurde festgestellt, dass der Magen des Mannes perforiert war. Ich weiß nicht, ob unser Körper sich einfach zu gegebener Zeit auflöst oder ob es die drei bis vier Flaschen Vecchia Romagna waren, die der Mann angeblich pro Woche konsumierte. Vecchia Romagna ist ein alkoholisches Getränk, ich glaube etwas Cognak Ähnliches. Wegen seines perforierten Magens sollte der Mann in das Krankenhaus in die größere Statdt gebracht werden. Die Frau organisierte die Reise für sich selbst, denn sie fährt nicht Auto. Kinder haben die beiden keine. Als die Frau sich vorbereitet hatte, bekam sie einen Anruf, der besagte, dass die Ambulanz bereits wieder auf dem Rückweg war, denn der Mann hätte im Krankenwagen derart rebelliert, dass er zurück gebracht werden musste. Der Mann wollte nicht ins Krankenhaus in die Stadt, der Mann wollte nach Hause. Vermutlich wollte er Vecchia Romagna trinken und seine Ruhe haben. Deshalb war er wahrscheinlich auch delirierend aggressiv zu Teresa.
Wenig später war er tot.

An einem Sonntag Morgen höre ich eine sanfte Frauenstimme draußen mit MM sprechen. Ich denke, MM wird mich gleich rufen, aber nichts geschieht. Später frage ich ihn, wer da war. Die Witwe, ohne Traktor geht sie schneller direkt an unserem Haus vorbei. Sie hat MM erzählt, wie die Dinge vor sich gegangen waren. Und sie erzählte, dass sie es war, die ihrem Mann geraten hatte, mit dem alten Traktor zu fahren, nachdem die Polzei seinen Führerschein nicht mehr verlängert hatte. (Hallelujah!)Er mochte den Traktor nicht, denn er konnte die Gänge nicht einlegen. "Lass mich das machen!" hatte die Frau gesagt und dann sagte er ihr jeweils, wann zu schalten war. "Sei una maestra!" hat er dann zu ihr gesagt. Du bist eine Meisterin.

Dienstag, 29. November 2011

wie man wegen 28 euro 88 in tilt kommen kann

Default. Höre ich jetzt immer im Radio.Ist das der Ausgangspunkt? Kann mich jemand dorthin versetzen? Es handelt sich aber auch um Bankrott, komisch, nicht? Ich möchte meinen Mann anrufen und ihn bitten, mir zu sagen, dass ich toll bin und dass er mich liebt. Ich möchte mein Freundin anrufen und sie bitten, mich übers Telefon an der Hand zu halten. Aber ich weiß, es ist kindisch, denn was sie mir sagen, kann ich mir selbst auch sagen. Ich suche seit einem halben Tag eine rechnung über 28 Euro und 88 Cent. Sie ist nämlich wieder aufgetaucht, die Rechnung, auf der ich schon unter Anleitung meiner mit mir ausmistenden Freundin geschrieben habe: muss ich das bezahlen? Ist das schon bezahlt?
Ich weiß es noch immer nicht. Aber auf der Suche nach der Antwort sind immer neue Zettel aufgetaucht, nicht eingeordnete Rechnungen aus dem Jahre Schnee, Mäppchen, Hüllen, Adventkalender, Kontoauszüge, Versicherungsverträge, Fahrscheine, Flugbilettes, Kuverts mit Rechnungen,Blocks mit Mensatickets, Einkaufslisten, Gebrauchsanleitungen. Oh mein Gott. Wie kann man nur so schlampig sein.
Ich habe bereits mit der Institution, die das Geld eintreibt, telefoniert. Aber da die Rechnung nicht auf mich ausgestellt ist, kann ich nicht erfahren, ob die Rechnung bezahlt wurde. Zu der Frau, die die Rechnung eigentlich bezahlen müsste, die Vorbesitzerin unseres Hauses, möchte ich nicht gehen, denn ich glaube, danach bräuchte ich eine Stunde mit einem Gesprächstherapeuten, die mich mehr als 28 Euro 88 kostet. Mein Kopf hat sich eckig geformt, ich spüre das ganz genau. Ich habe einen Kopf wie Sponge-Bob, nur ist meiner weiß und ganz unten steht, bitte in diese Zeile nichts schreiben.
Es geht um die Müllabfuhr aus dem Jahre 2009. Seufz.
Ich rufe es in die Welt hinaus: Leute, ordnet eure Sachen, hier, jetzt, sofort. Wartet nicht eine Sekunde länger, wenn ihr nicht wollt, dass eure Schultern schmerzen, es in eurem eckigen Kopf dröhnt und ich wegen der vergleichsweise geringen Summe von 28 Euro 88 weinen möchtet.
Ich möchte auch nicht weinen, weil ich diese Summe nicht bezahlen kann, sondern weil ich nicht weiß, ob ich sie bereits bezahlt habe, andernfalls, warum ich sie nicht bezahlt habe und vor allem wo die Originalrechnung ist, denn bei der aktuellen handelt es sich bereits um eine Mahnung. Sponge-Bob-Ich hat eine tiefe Falte quer über den ganzen schachtelförmigen Schädel.
Tief durchatmen.
Geh an die frische Luft, sagt die Stimme, die zu der gehört, die ich bis heute Morgen war. Geh an die frische Luft. Und kauf einen Schredder. Und dann zurück an den Start.

Montag, 21. November 2011

Mit den Kids im Kino

Unter Schock. Schlechter Tag. Schlechtester Tag. Am Rande der Depression. Das überzogene Konto zieht die Mundwinkel bis zu den Schuhsohlen.
Und das wäre alles weniger schlimm, wenn ich nicht gestern diesen entsetzlichen Schmarrn gesehen hätte.
"Ich bin die einzige Alte", flüstere ich dem Rallyefahrer zu. "Nein," sagt er, da ist noch eine Dicke am Rand unserer Reihe."
Abgesehen von der Dicken und mir sind alle zwischen 12 und zwanzig (nur das Kind ist zu klein), vor allem Mädchen mit langen Haaren und dann noch ein paar Jungs mit gezupften Augenbrauen.

Ich bin in "Breaking Dawn" gelandet, dem brandneuen Teil der "Twilight Saga". Bella heiratet Edward, den Vampir.
Nach drei Minuten beglückwünsche ich mich zu meinem Stoizismus. MM hätte sich bereits aus dem Kino geschlichen. Aber der ist in weiser Voraussicht nicht mitgekommen.
Die Mädchen vor mir unterdrücken spitze Schreie, als Bella auftritt und halten sich an den Händen.
Warum will Bella unbedingt den Vampir heiraten und ganz stark sein und alles aushalten? Sie wird das schaffen, verspricht sie. Sie ist 18.
Sie tut sich schwer in den hochhackigen Hochzeitsschuhen zu gehen und schlüpft erleichtert in ihre flachen Tennisschuhe von All Star.
Edward taucht auf. Ihr Gesichtsausdruck möchte von unendlicher zärtlicher Liebe sprechen. Ich bekomme Beklemmungen, weil ich es nicht verstehen kann. Was hat der Mann Liebenswertes? Er ist Vampir und schaut so aus, als hätte er permanente Sorgen und/oder Zahnschmerzen.
Gut, trotz blutbefleckter Alpträume heiratet sie ihn (sie hat während des Gangs zum Altar ein Haar im Mundwinkel, was mich fast rasend macht. Hat das während der Aufnahmen niemand gesehen? Ist das Sinnbild für ihr verklärtes Inneres, dem solche Äußerlichkeiten nichts anhaben können?). Ich denke, meine Jungs werden spätestens in der Pause gehen wollen. Das Kind ist fasziniert, weil ihm Hochzeiten gefallen. Die ganze Action dauert unendlich. Endlich tauchen die Wölfe auf, der einzige Grund, warum ich nicht zu weinen beginne, denn das sind alles hübsche Jungs, Indianer oder zumindest sehen sie ao aus und als Wölfe grummeln sie dann böse vor sich hin und fletschen die Zähne. Außerdem gibt es viele tiefe Wälder zu sehen und in einem steht das schöne, warm erleuchtete Haus der Vampire mit viel Holz und vielen Büchern.
Möglicherweise handelt es sich um einen Film über Magersucht, denn Bella muss nach vollzogenem ehelichen Beischlaf (musste sie deshalb heiraten? Nicht der einzige Punkt, in dem der Film an das 18. Jahrhundert erinnert) bald erbrechen, ist binnen zwei Wochen wahnsinnig schwanger (mit einem Dämon) und wird ganz ganz, ja fast schon geschmacklos dünn. Das ist ihr aber egal, weil sie ist ja sonst so stark und will natürlich das Kind behalten.
Im letzten Drittel des Films wird das Kind aus dem Bauch geholt (dieser wird nicht wieder zugenäht, und dann wundert man sich, dass Bella stirbt) und Bella stirbt. Edward, der Vampir, macht eine etwa zehnminütige Herzmassage, die auch kräftigeren Menschen die Eingeweide zerstört hätte und injiziert ihr schließlich sein Gift. Dazwischen heulen zum Glück die Wölfe.
Bella setzt sich innerlich wieder zusammen, man sieht Makroaufnahmen oder zumindest Als-Ob-Makroaufnahmen, in denen Blut herumflitzt und ich denke sehnsüchtig an CSI. Bella wird wieder fleischig und immer schöner.
Zum Schluss schlägt sie die Augen auf, welche rot geworden sind, wie die der Vampire.
Wir warten auf den zweiten Teil.

Ich möchte mir sehr gerne einen Orden für besonders vorbildliche Mutterschaft verleihen, weil ich mir diesen Film mit meinen Kindern (die übrigens zu meiner Überraschung nicht das Kino verlassen wollten) angesehen habe.

Zu Hause (oh Glück, ich durfte aus dem Kino nach Hause kommen!) sage ich zu MM, dass Jane Austens "Stolz und Vorurteil" ein feministisches Frühwerk gegen diese Scheiße ist. Und plopp, eine minimale Recherche im Internet bringt es ans Tageslicht: Die Autorin der Twilight-Saga, Stephanie Meyer ist eine Verehrerin von Jane Austen.

Ich hoffe nun sehr, dass das Kind seine Fragerei zum Thema Geburt einstellt. Diese blutige Sequenz ist nicht nur für Neunjährige verstörend. Vielleicht wurde Bella ja auch schnell zugenäht und ich habe gerade aus Grausen gerade nicht hingeschaut.

Aber im Internet zu diesem Schwachsinn zu recherchieren fettet mein onto auch nicht auf und wenn meine Laune nicht bald besser wird, befürchte ich, dass ich mich wie Jacob in einen zähnefletschenden Wolf verwandeln werde. Und wer wird mein erstes Opfer sein?

Donnerstag, 17. November 2011

Der geheime Freund

Da ich zur Zeit nicht aus Gründen der Arbeit an meinen Schreibtisch gefesselt bin, mache ich die unglaublichsten Dinge: Ich gehe auf die Gemeinde und gebe dem Bürgermeister (zumindest seinem Büro) bekannt, dass das Kind keinen Fisch ist und bitte am Freitag in der Schulmensa was anderes bekommen soll, was, ist nicht so wichtig. Ich gebe das Formular zur Volksbefragung ab. Ich bezahle die Rechnung der Müllabfuhr. Ja, tatsächlich. Keine Mahnung. Ich gebe die Bons für die Gratisschulbücher in der kleinen Buchhandlung ab. Ich betreibe small talk mit allen Nachbarn. Ich bin nicht beleidigt, als der alte Herr, der mit seinem Leinensack und seinem Stock auf der Straße wandert, auf meine Frage: "Wo gehen sie denn hin?" mit "Wer SIND sie?" antwortet. "Ich bin die, die ihre Kinder immer zum Schulbus bringt, ich wohne da unten." Aha.
Das Leben ist so fröhlich geworden, seit wir dann doch recht unspektakulär "Bye bye Silvio" gesungen haben.
Ich ordne die Rechnungen vom E-Werk ein und lösche tausende E-mails. Das verringert zwar nicht den materiellen Mist, aber angeblich befreit es den Geist. Und mein Geist fühlt sich schon beängstigend frei an.
Gestern abend sage ich beim Essen: "Ich hatte heute einen wirklich guten Tag, ich habe meinen Drucker nach mehr als einem Jahr zum Funktionieren gebracht und den Impfpass vom Hund gefunden." "Ich auch!" ruft das Kind sofort. "Ich war super in der Schule und auch super in der Tanzschule!" Dem Rallyefahrer bleibt die Hand mit der Karotte, die er gerade in den Mund schieben wollte, in der Luft stehen, er wirft seinem großen Bruder einen Blick zu, der sagen will: "Super in der Schule? Was redet der da? Hoffentlich fragt mich jetzt keiner, ob ich auch super in der Schule war." MM und ich schauen uns auch atemlos an. Ist das Kind übergeschnappt? Das Kind ist NIE super in der Schule. Die Lehrerin beschwert sich über das Kind. Das Kind stopft vergnügt Auberginenomelett in den Mund. Vielleicht ist seine Überzeugung so stark, dass eines Tages auch die Lehrerin glaubt, dass er super ist? Alle beginnen vorsichtig wieder zu atmen.

Die Nächte sind lang und sternenklar. Ich möchte nicht mehr auf dem Dach liegen und mir von einem nicht näher definierten Prinzen durchs Haar streichen lassen. Gestern hat MM zum ersten Mal eingeheizt und das war mir weitaus sympathischer als der Prinz da draußen auf seinem Pferd, der sicher eine ganz kalte Nase hat. Obwohl ich mir natürlich immer noch wünsche, dass der platonische Verehrer mich anruft und sagt: "WIE machst du das alles?!", bin ich mit dem Wünschen sehr vorsichtig geworden. Ich habe nämlich eine sms bekommen. Ich habe schon gemerkt, dass eine mir unbekannte Nummer versucht, mich zu erreichen, aber ich habe zu Hause keinen Mobilfunkempfang, was gut und schlecht und auf jeden Fall gewöhnungsbedürftig ist, und ich empfange sms, wenn ich die Kinder zum Schulbus bringe. Und da schreibt die unbekannte Nummer: "Wo bist du gestern morgen hingefahren, mit dem Auto deines Mannes?" Dann kommt ein komisches Wort mit vielen "o"s und "c"s, ich interpretiere es als unschön. Dann schreibt er: Buona notte, amis. Na zumindest das ist nett.
Erst bin ich erschrocken. Wo bin ich denn hingefahren mit dem Auto meines Mannes? Als ich mir selbst "nirgendwohin" antworte, kommt mir der Verdacht, dass es sich um einen Scherz handelt. Jungs im Schulbus, die Tanten anrufen. Das haben wir auch gemacht: "Guten Tag, sie haben 1000 Rollen Klopapier gewonnen, hahahaha," klick.
Dann denke ich, jemand hat die Nummer falsch eingegeben. Amis ist sicher amico segreto, der geheime Freund. Ich möchte ihn nicht, nein danke. Das ist die Kehrseite der Medaille, die Rückseite der Verehrung. Das Ansprüche erheben.
Ich beneide sie nicht, die heimliche Geliebte, die sich rechtfertigen muss, wenn sie das Auto ihres Mannes benutzt. Hoffentlich sagt er ihr wenigstens, wie wahnsinnig großartig sie ist, und wie toll sie alles macht.

Donnerstag, 20. Oktober 2011

Etwas Kleines und sehr Schönes

Seit geraumer Zeit denke ich über das Nachbarkind nach. Und ich gebe zu, dass diese Gedanken mich irritieren. Ich weiß nicht, welche Faszination dieses Kind auf mich ausübt. Gefallen mir jetzt bereits bartlose 16-jährige? Es handelt sich eindeutig um ein Kind, das noch im Wachsen ist, dem Pickel sprießen und das beim Sprechen einen S-Fehler nicht verbergen kann. Auch mein Kind ist vom Nachbarkind begeistert: "Ich weiß nicht, aber der Typ gefällt mir!". Dem ist nichts hinzuzufügen, jetzt sind wir schon soweit, dass der Mutter und dem neunjährigen Kind dieselben jungen Männer gefallen.
Ich überprüfe mich: Als mir der Junge nahe kommt, weil er das, was ich ihm sagen will, aufgrund lauter Musik nicht verstehen kann, und er sein Ohr in Richtung meines Mundes bewegt, durchfährt kein inopportuner aufregender Schauer meinen Körper, ich begehre ihn also nicht. Was ist es aber dann, dieses Licht, das auf mich scheint?

Als ich in der Küche stehe und marinierte Paprikaschoten esse und dabei auf einer Ebene meines Gehirns über diese Speise nachdenke, nämlich dass MM die Paprikaschoten im Ofen gegart hat, um sie anschließend zu schälen und wie heldenhaft ich das finde und dass eigentlich Schafkäse passen würde, da kommt plötzlich von hinten eine Welle der Erkenntnis angerollt, in der geschrieben steht, dass es sich bei dem erstaunlichen Nachbarkind um einen Engel handeln muss.

Und zwar deshalb, weil er immer lächelt, wenn er mit jemandem zu tun hat. Weil er mit kleineren Kindern spielt. Weil er kleineren Kindern über die Wange streicht und Erwachsene mit ihrem Namen anspricht. Weil er Konversation betreibt (stotternd). Weil er mit weiblichen Wesen im Alter von 12 bis 82 tanzt, unermüdlich. Weil er immer dann und dort auftaucht, wo Hilfe gebraucht wird. Weil er oft Danke sagt und "Das macht nichts", wenn etwas nicht klappt. Weil er einen Glanz in den Augen hat, als würde er immer auf den Christbaum starren.

So wäre ich auch gerne.

Der Junge hat einen Zwillingsbruder, der so ist, wie man sich einen 15- oder 16jährigen vorstellt: rau, lässig, unfreundlich, stumm und ohne Sturzhelm. Die beiden schauen sich auch gar nicht ähnlich und ich finde ziemlich dämlich von mir, dass ich sie anfangs nicht unterscheiden konnte, aber "das machte nichts".
Schon bevor das Kind zu tanzen begann, erklärte mir der Nachbarjunge, eben auch ein Tänzer, dass es in Ordnung ist, dass männliche Wesen tanzen. (Mittlerweile versucht er sich nicht nur im modernen Tanz, sondern auch im klassischen Ballett und dazu hat ihn sicher das Beispiel unseres akklamierten unerschrockenen Neunjährigen gebracht). Jetzt schauen sich die beiden Eleven im Internet Tanzvideos an und unterhalten sich über die weiblichen Mitglieder ihrer jeweiligen Gruppen. Welche seiner Kolleginnen er schön fände, will der Große vom Kleinen wissen. Schön finde er keine, sagt der ehrlich, lieb seien sie aber.

Ich glaube, der Engel hat das Engelhafte von seiner Mutter, von der meine Freundin Teresa sagt: "...und sie beklagt sich nie!" Auch dieser Satz ist wie ein Mantra in meinen Gedanken.

So wäre ich auch gerne.

Ich bin leider nur sehr selten heilig, denn ich bin eher wie der unsympathische Zwillingsbruder. Aber ich habe mir vorgenommen, den beiden Jungs zu empfehlen, einen Sturzhelm auf ihrem knatternden kleinen Motorrad zu tragen, obwohl der Engel keinen bräuchte, der hat ja Flügel für den Notfall.

Dienstag, 18. Oktober 2011

Worin ich feststelle, dass ich mich identifiziere

Ich habe so lange nichts geschrieben und ich weiß jetzt warum. Meine Nachbarin Teresa hat mir zu dieser Erkenntnis verholfen. Als sie mir einen Plastiksack mit den letzten Tomaten und den ersten Kaki zum Fenster bringt, erzählt sie mir, wie ihre junge angeheiratete Nichte das Auto mit der Hilfe des kleinen Neffen (des Bruders ihres Ehemanns) eingeräumt hat und schlussendlich ihre kleine, ein paar Monate alte Tochter ebenfalls im Auto verstaut hat. Und die Autotür zugeworfen hat.
Das Auto war verschlossen, der Schlüssel im Auto. Die Tochter im Auto. Nun kommen alle meine wunderbaren Nachbarn zum Einsatz, der Schwiegervater, Teresas Bruder, der alles erfährt und mit einem großen Eisen den Kofferraum aufbrechen will, der Neffe, der alles erzählt, die weinende junge Mutter, die weinende Teresa, Teresas Ehemann, der sagt, die Frauen sollen zu heulen aufhören, sonst beunruhigt sich das Kind, sowie das Kind, das offenbar noch nicht beunruhigt ist. Die Mutter der jungen Mutter hat einen zweiten Autoschlüssel, sie wird angerufen und soll sofort kommen, aber wenn sie nicht rechtzeitig kommt, wird der Schwiegervater mit seinem Eisen den Kofferraum aufbrechen. Nach einer halben Stunde kommt der Vater der jungen Mutter mit dem Schlüssel, wer weiß wie viele Tränen da bereits geflossen sind. Der Vater heißt seine Tochter Idiotin ("Cretina!"), noch mehr Tränen und das Auto wird aufgesperrt und das Kind befreit.
Mit der Hand auf dem Herzen und einem gewollt idiotischen Gesichtsausdruck (der sagen will: ich hätte auch geweint, wäre ich dabei gewesen!) höre ich die Geschichte, die damit endet, dass Teresa mir gesteht, sie hätte die ganze Nacht nicht schlafen können, weil sie sich wie das Kind gefühlt hätte und ihr eng um die Brust gewesen wäre.

Später fällt es mir wie Schuppen von den Augen: ich bin auch drei Kinder und in der Nacht kann ich auch nicht mehr schlafen. Am 12. September hat die Schule begonnen und ich muss nun geometrisch zeichnen, muss lernen was die "geometria euclidica" ist (wobei mir auch sehr eng um die Brust wird), kann Geografie von Ökologie unterscheiden, schreibe Reime und lerne Zungenbrecher auswendig. Ich habe jetzt auch Französisch in der Schule, lerne Schlagzeug und in meiner Freizeit gehe ich in Tanz: modern, klassisch, break. Ich habe große Probleme mit der Orthografie, schreibe aber tapfer Zusammenfassungen von kurzen Geschichten. Ich spiele Flöte im Musikunterricht und weigere mich, eine Poesie von Carducci auswendig zu lernen, weil ich glaube, sie ist im Dialekt geschrieben. Die Prof hat meine Mutter in die Schule bestellt und gesagt, meine Reime machen keinen Sinn. Meine Mutter schreibt mir neue Reime. Ich bekomme eine Eintragung, weil ich Biologie nicht gelernt habe, ich habe nämlich mein Buch in der Schule vergessen. Meine Mutter regt sich nicht auf, aber sie sagt, ohne meine Lehrerin würde es ihr besser gehen. Die Mädchen in meiner Klasse fragen mich, ob ich auf facebook bin, aber bei uns benutzt meine Mutter das Internet zur Arbeit. Wir schauen uns Inhaltsangaben vom Film Hachiko im Internet an und schreiben die kürzeste ab, obwohl meine Mutter sagt, das sind keine Inhaltsangaben, sondern (sicher wollte sie Scheiße sagen). Ein Klassenkollege sagt, ich bin häßlich. In Religion müssen wir zehn Mal schreiben: "Der Respekt ist eine wichtige Sache", dabei hat uns die Mutter vom Religionsunterricht abgemeldet, nur weiß die Schule nicht, was sie mit uns in der Zeit machen soll. Mir ist das egal, aber meine Mutter tobt, weil ich zwei Orthografiefehler in diesem Satz habe und meine Mutter sagt, die depperte Religionslehrerin soll sich wenigstens anschauen, wie ich schreibe.

Ich fühle mich wie die Kinder und es ist mir eng um die Brust. Vielleicht brauche ich einen Psychiater, aber ich denke, eine Haushaltshilfe könnte mir auch einiges geben. Vor geraumer Zeit meinte ich, ein platonischer Geliebter, der mich immer dann anrufe, wenn ich Lob bräuchte, würde mein Leben zum besseren wenden, aber bei eingehender Betrachtung: wer sollte das sein, der dauernd Zeit zum telefonieren hat? Ein Mann, der permanent seine Arbeit unterbricht? Ein Arbeitsloser, der von der Pension seiner Oma lebt? Ein Schüler? (Please don't!)

Vor der Tür meines Arbeitszimmers sind Geräusche zu hören, ich glaube, jemand von den Nachbarn sammelt Eicheln für die Schweine. Ich öffne die Tür nicht, denn entweder es handelt sich um einen seine Arbeit unterbrechenden Mann, einen Arbeitslosen oder Schüler, der mir erzählen möchte, wie toll ich bin oder gar um eine Nachbarin mit einer neuen, Einsicht verleihenden Geschichte. Ich muss erst die letzte verarbeiten. Und ausnutzen, dass die Kinder bis zum späten Nachmittag in der Schule sind.

Mittwoch, 5. Oktober 2011

wikipedia.it

In Silvios sonnenbeschienenem Reich öffnete eine dattilografische Fachkraft eine website, um dem interessanten Thema der pomodori confit nachzugehen. Ob diese mit Zucker oder mit Essig konserviert werden, war die lebenswichtige Frage. Und zwar leider nicht, weil die Dattilografa in der Küche steht, sondern aus Gründen des Euro-Erwerbs.
Wikipedia in Italien bleibt heute geschlossen und zwar zu Recht, wie ich finde. Wikipedia macht mit ihrer Schließlung darauf aufmerksam, dass ein Gesetzentwurf zum Thema Abhören mit dem denkwürdigen Titel Paragraf 29 im Parlament diskutiert wird, der vorsieht, dass binnen 48 Stunden Inhalt aus dem Internet entfernt werden muss, wenn sich jemand durch diesen Inhalt diffamiert fühlt, und zwar ohne dass dieser Umstand von Dritten überprüft werden muss.
Heute schreibt Wikipedia, dass die von mir angeforderte Seite zum Thema pomodori confit nur versteckt ist, aber vielleicht wird sie bald gelöscht werden, wenn sich jemand durch den Inhalt dieser Seite angegriffen fühlt.
Und morgen durchforsten Silvios polyglotte Mitarbeiter das gesamte Internet und löschen zuerst mein blog und dann werden sie zu uns nach Hause kommen und den Rallyefahrer erschießen, denn der hat letztens unschuldig gefragt, wann Berlusconi stirbt. Er hat das gefragt, Spione, weil für ihn Leute über 60 alt sind! Ich muss aber leider antworten, dass ich befürchte, besagter Mann wird erst sterben, wenn er Italien völlig ruiniert hat. Jeder hat eben seine Lebensaufgabe.

Montag, 5. September 2011

Organetto spielen

Ho preso la chitarra
e suono per te
il tempo di imparare
non l’ho e non so suonare
ma suono per te.

Ich habe die Gitarre genommen
und spiele für dich.
Ich habe keine Zeit, zu lernen
und ich kann nicht spielen,
aber ich spiele für dich.

Das Kind fragt, warum Malika Ayan in diesem Lied mit dem Titel "La prima cosa bella" behauptet, sie könne nicht Gitarre spielen und dann würde sie es doch tun. Ich sage, sie würde sich auf diese Art entschuldigen, weil sie nicht so gut spiele, wie sie es wolle. Wir reden über Instrumente und ich sage, das sei toll, ein Instrument zu lernen, ich würde gerne Organetto lernen. "Du?" prustet der 14-jährige. Er findet es lächerlich. "Mama, es tut mir Leid, dass mein Bruder sich über dich lustig macht.", sagt das Kind. In Wirklichkeit ist er froh, denn so kann er sich über den Bruder stellen. "Ich möchte nicht Organetto lernen." setzt der 14-jährige nach. "Ich spreche auch nicht von dir, sondern über mich." Ein wenig Selbstverteidigung kann nicht schaden. Ich sage nicht, dass ich schon geplant habe, den Nachbarjungen Francesco, angeblich ein kleiner Gott des Organetto, nach seinem Lehrer zu fragen. Manchmal hört man den frischen und gleichzeitig wehmütigen Klang vom Nachbarhaus her wehen. Das Organetto ist ein in Süditalien verbreitetes Instrument, das an eine kleine Ziehharmonika erinnert. Bei jedem Fest spielen ein paar Jungs im Alter von 5 bis 99 dieses Instrument und dann tanzen alle Tarantella, als hätten sie das im Mutterleib schon getan. Außerdem kenne ich ein paar geniale Musiker, die mit ihrem Können die Volksmusik zu dem machen, was dann "Ethno" genannt wird und das darf dann auch Menschen wie mir gefallen, denen Volksmusik peinlich ist.

Dass ich Organetto spielen will, hat zwei Gründe. Erstens: ich wollte das schon lange machen, ich betrachte es als die größte derzeit vorstellbare Herausforderung, weil ich nämlich nicht musikalisch bin. Und aufgeschoben wird nichts mehr. Zweitens: es erscheint mir als Weg, meine überbordende Libido zu kanalisieren. Da ich aufgrund meiner Wade, die wie die von Fussballstar Totti aussieht, nur humpeln und damenhaft schwimmen kann, könnte ich doch die Energie in meine Finger legen, oder? Ins Schwitzen käme ich dabei bestimmt.

Der 14-jährige findet mein Projekt so komisch, dass er es seinem Vater erzählt. "Tolle Idee!", sagt der, "dann kann sie ein wenig Zeit totschlagen, sie hat ja so viel davon." Haha. "Sie muss nur einen Lehrer finden, der sie zwischen ein und drei Uhr morgens unterrichtet."

Ihr werdet euch wundern, Jungs. Der Herbst kommt und ihr werdet in euren Ausbildungsstätten verschimmeln, während ich ein Mal pro Woche heimlich zum Organetto-Lehrer hinke. Und dann spiele ich - für mich.

Sonntag, 4. September 2011

Zeit des Feuers

Italien ist ein Land der Pyromanen. Ich stehe dem skeptisch gegenüber, aber ich werde das Thema studieren und dann den Gegenbeweis antreten, denn es kann nicht sein, dass 98 Prozent aller Brände absichtlich gelegt wurden.
Seit drei Monaten regnet es nicht und wir sind an die permanenten Rauchwolken gewohnt. Unser Hügel, auf dem sich drei Ortsteile befinden, ist verkohlt und kokelt vor sich hin.
Heute nacht standen wir hinter dem Haus und beobachteten die meterhohen Flammen auf dem Brachland hinter unserer kleinen Straße. Ich hatte Angst. Ich rief den Nachbarn an.
Dann kam zuerst die Frau des Nachbarn, die Tochter mit dem Vierjährigen, der Sohn, sowie die Frau, die zum Abendessen zu Besuch war. Das fand ich tröstlich. Der Vierjährige hatte ein Spinnennetz in seinen Kopf frisiert oder in seine Frisur eingeschnitten. Das lenkte mich davon ab, mir zu überlegen, was passiert, wenn die Funken auf die Eiche fallen und von dort das Feuer weitergeht. Sicherlich hatte der Nachbar von oberhalb, dem das Land gehört, schon die Feuerwehr gerufen. Dann begannen seine Bohnenstangen zu brennen. Die sechzehnjährigen Zwillinge kamen auch noch angerannt. Die Menschen unter zwanzig giggelten vor Aufregung, nur mein Kind begann zu heulen. Das habe ich sehr menschlich an ihm gefunden. Wir gingen ins Haus und ich wusch Geschirr ab, da unsere Geschirrspülmaschine kaputt ist, aber das ist ein anderes Thema. Ich hieß das Kind Schuhe anziehen und hängte mir meine Tasche mit der Geldbörse und dem Notizbuch um. So wusch ich das Geschirr ab. Rauch war im Haus und man hörte das Feuer oberhalb von uns prasseln. Das Kind wollte wieder in Gesellschaft, es glaubte nämlich nicht, dass wir in dieser Nacht noch woanders hin gehen müssten, weshalb ich gezwungen war, mit einer Tasche an der Schulter Geschirr zu waschen. Ich hoffte, dass er recht behielt. Die Flammen hatten sich in der Zwischenzeit angenähert und hatten sich danach ihren Weg nach oben durchgfressen. Als die Flammen sehr nahe waren, hatte MM doch die Feuerwehr angerufen und erfahren, dass in drei Oststeilen unseres Orts bereits Feuerwehr zugegen war. Ich stieg auch wieder aus dem Fenster. Der Nachbar war nun höchtspersönlich da: "Dass wir uns immer diesen Schrecken mit dem Feuer holen müssen, das bleibt uns nicht erspart!" sagte er vertraulich. Wir hatten schon vor ein paar Monaten ein paar aufregende Stunden an genau diesem brennenden Ort verbracht, damals hatte ich die Feuerwehr angerufen. Ich war mir ein wenig hysterisch vorgekommen, aber besser pathologisch als tot.
Ich habe gelernt, dass eine Straße das Feuer abhalten kann und dass bebautes Land dem Feuer Feind ist. Und dass ich meine Dokumente nicht unbedingt in einer feuerfesten Box speichern muss, wie die Frauen der amerikanischen websites, die ich lese, da alte Steinhäuser nicht so leicht niederprasseln wie eine Blockhütte.
Ein Teil unseres Landes ist nicht bebaut und ich möchte sehr gerne dort das vertrocknete Gras abmähen oder mit dem Gartenschlauch ein bisschen spritzen, was ich aber niemandem sage. Kosmetik würde man das wahrscheinlich nennen. Heute morgen, als MM und ich einen Fernseher kaufen gehen (der alte war schon länger kaputt als die Geschirrspülmaschine), sehen wir die Feuerwehr an einer anderen Brandstelle geparkt. Rauch überall. Der Feuerwehrmann beim Auto sieht extrem gut aus. Der hat nicht die ganze Nacht mit dem Feuer gekämpft, denke ich, während MM von einem 24 Stunden Dauereinsatz fantasiert. Aber er war sicher auch nur die halbe Nacht hinter dem Haus, weil er auf das Löschflugzeug gewartet hat. In Wirklichkeit ist es nämlich so, dass die Feuerwehr das Feuer erstmal beobachtet. So lange kein Haus in Gefahr ist, greifen sie nicht ein. Deshalb musste ich nach meiner Rückkehr aus der großen Stadt auch sehen, dass die wunderbare Carruba, der Johannisbrotbaum auf meinem Weg, dort wo ich immer in den zweiten Gang schalten muss und wo ich immer an einem bestimmten Freund denken muss, welcher unter dem Baum sicherlich ein Foto vom Meer gemacht hätte, verkohlt auf dem Boden liegt.

Auch die Nachbarn fragten sich heute Nacht, wer so was anzündelt. Ich glaube ja noch immer, dass Dummheit die ärgste menschliche Perversion ist, aber vielleicht irre ich mich.
Die Natur wird jedenfalls in wenigen Wochen schon den schwarzen Boden mit intensivem Grün bedecken. Ich betrachte besorgt den Rauch unterhalb von uns und möchte das Haus nicht verlassen. MM erklärt mir, dass der Garten des Nachbarn Vincenzo und der Garten unseres 92-Jährigen Nachbarn das Feuer abhalten werden. Ich will es glauben.

Auf dem Dach

Meine erotische Vorstellung besteht darin, dass ich nachts auf dem Dach liege und er, der Prinz auf dem weißen Pferd, hinter mir sitzt und durch mein Haar streicht. Armselig?
Mein Ehemann kommt als Prinz nicht in Frage, denn der muss die Kinder versorgen, während ich, wenn auch nur in meiner Fantasie, auf dem Dach liege. Wie kommt der Mann auf das Dach? Es gibt keinen Übergang vom Festland auf diese Insel, außer durch das Haus. Als die Maurer hier werkten, haben sie ein langes Holzbrett vom Weg auf das Dach gelegt und sind geschickt darüber getänzelt. MM ist froh, dass das Brett weg ist, aber aus Gründen der allgemeinen Sicherheit, und nicht, weil er weiß, dass ich in der Theorie nachts auf dem Dach liege. In der Praxis hänge ich nachts auf dem Dach die Wäsche auf und schaue in den unglaublichen Sternenhimmel. Und ich rede mir ein, dass es nicht an meiner Unfähigkeit liegt, die Dinge des Alltags eben unter Tags fertig zu bringen, sondern weil ich den Mann, der mir durchs Haar streicht, keinesfalls verpassen möchte.

Donnerstag, 1. September 2011

poetry and prose

Meine Freundin geht mit mir noch durch den Gemüsegarten, den MM in meiner Abwesenheit betreut hat. Mit meiner dicken Wade humple ich hinter ihr her. Sie zitiert Marie Luise Kaschnitz und ich frage mich, warum ich das so lange vergessen konnte:
„Hier, unter dem Feigenbaum, könnte man wieder anfangen zu leben,
was bei dem einen dies und bei dem andern das bedeutet und bei mir Lieben und Schreiben.“
Ich weiß, dass unter dem Feigenbaum immer ganz harte Erde ist und ich weiß, dass unter einem Olivenbaum schlafen eine Tortur ist, aber natürlich weiß ich auch, dass man unter dem Feigenbaum wieder zu leben anfangen könnte.

Dienstag, 23. August 2011

The sea the sea

Von dort, wo ich als Kind war, sieht man nach Ungarn, das ist weit weg, und mit viel Sehnsucht und viel Fantasie sieht man dort das Meer, das war immer schon so. Und weil ich als Kind immer dort war, wo man Ungarn sieht und nicht das Meer, war ich 18, als ich das erste Mal das Meer sah. Das war eine ziemliche Enttäuschung, denn es war flach und bleiern und nicht weit und vielversprechend wie die pannonische Tiefebene.

Die Mutter von einer der Tanzpartnerinnen des Kindes, die lange in Rom gelebt hat, sagt, sie fühle sich erst wohl, wenn sie bei einer gewissen Autobahnabfahrt sich dem Meer nähere. Das geht mir auch so. Dann ist es irgendwann da und man kann tief seufzen.

Von Drogen verstehe ich nicht so wahnsinnig viel, aber dafür von Leidenschaft und das Meer ist eine Mischung aus Leidenschaft und Droge. Man stirbt nicht ohne sie, aber man geht ziemlich in die Knie.

Das Meer tröstet, sagt eine Freundin, die von der Nordsee kommt. Mich nicht. Aber es lässt mich verstummen, was gut für mich ist.

Montag, 22. August 2011

Sozialstudie im Krankenhaus

Nach dem Besuch in der Kindheit, besucht die Dattilografa das allgemeine Krankenhaus der Stadt. Mit großer Dankbarkeit verläßt sie es wieder: es ist nur ein Muskelfaserriss und kein Achillessehnenriss, nur 6 Wochen Heilungsprozess und nicht 4 Monate. Kein Gips, nur ein Tapeverband. Keine OP. Nach der Dankbarkeit kommt gleich die Unzufriedenheit. Wieso musste mir das passieren? Ich hatte doch gerade so Spaß beim Federballspielen! Und ich kann heuer nicht mehr im Meer schwimmen. Der entfernte MM behauptet, schwimmen sei gut, aber ich glaube, er weiß nicht, wie es in meiner Wade aussieht.
Der OP-Gehilfe, der mir den Tapeverband anlegt, hat sich auch einmal die Muskeln in der Wade eingerissen und die Frau Doktor (die den ganzen Tag nichts gegessen hat) auch zwei Mal die Achillessehne.
Nur der 2. OP-Gehilfe ist nervös und spricht mit hervorquellenden Augen über seinem Mundschutz hervor:wir haben sooo lange Schnittwunden zu nähen. Mit den Händen zeigt er die Distanz eines halben Meters.
Meine Freundin und ich werfen uns einen Blick zu: Wir haben niemanden abgestochen!

Back to the roots

Die Dattilografa war mit dem Nachwuchs dort, wo die Dattilografa ihre Kindheitssommer verbracht hat, im Dorf von der Oma. Ich habe im Haus von der Oma geschlafen, das nur noch außen an das Haus von der Oma erinnert, dort aber dafür ziemlich. Die Tante wohnt noch daneben. Der Nussbaum ist weg, aber ein paar Marillenbäume sind noch die alten und die Milchkanne, mit der ich als Kind beim Bauern Milch holen war, hat meine Kusine auch aufgehoben. Ich war seit dreißig Jahren nicht mehr im Ort, seit die Oma tot ist. Ich weiß nicht warum, es ist einfach so. Ich bin froh, dass ich jetzt dort war.
Ich sitze auf der Treppe vom Omas Haus und fühle mich wie 10. Entschieden, vorurteilsfrei und voller klar umrissener Projekte.

Wir haben noch einen Kusin gehabt, den wir auch gar nicht mehr sehen, der war uns damals schon zu "verweichlicht" wie meine Kusine heute sagt, wir waren eher die "wilden Typen". Ich weiß, dass wir gelacht haben, bis wir uns fast in die Hosen gemacht haben und die Oma war mit von der Partie. Meine Kusine ist heute noch lustig.
Auch die Kinder amüsieren sich bis zum Abwinken.

Ich erinnere mich, dass ich mit 15 einen potenziellen jugendlichen Geliebten hatte, der nicht verstand, dass ich ihn nicht treffen konnte, als meine Oma starb. Ich kann nicht, meine Oma ist gestorben, verstehst du? Verstand er nicht, ich weiß auch nur noch wo das war und nicht mehr wer er war. Beim Begräbnis habe ich viel geweint, aber beim Leichenschmaus haben wir wieder Tränen gelacht. Vielleicht habe ich auf Vorrat gelacht.

Meine Oma hatte immer einen Spruch auf Lager, über den ich lange nachdenken konnte. Mein Großvater hatte sie begehrt, aber sie sei stolz vor ihm hergegangen, wie ein Hirsch. Mir wurde auch erzählt, dass meine Großmutter von eben diesem Ort, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen, in die große Stadt kam und ihren Koffer auf dem Kopf trug. So stellte ich sie mir dann immer vor: stolz wie ein Hirsch, mit einem Koffer auf dem Kopf, den lechzenden Großvater dahinter.
Meinen Großvater habe ich nie kennen gelernt und meine Kusine hat mir ein Detail aus meiner Familiengeschichte verraten, das mich so überrascht hat, dass ich nicht weiter nachfragen konnte. Ich hoffe, es falsch verstanden zu haben. Ich würde es sehr gerne googlen, aber ich befürchte, es steht nicht im Internet.
Die Tatsache, dass auch die Urahnen einmal jung waren und dass sie von romantischen oder erotischen Gefühlen ergriffen wurden, erstaunt mich sehr. Und wohin dann das Begehren sich erstreckt! Aber vielleicht ist es dem Begehren ja sozusagen systemimmanent, dass es immer in die hoffnungslos falsche Richtung strebt.

Mittwoch, 17. August 2011

Jetzt weiß ich es wieder!

Nämlich, warum ich diese meine Heimatstadt HASSE.Ich komme um 22: 36 vor einen Schalter eines personenbesetzten Bahnhofs, wie das hier heißt. Die beiden automatischen Glastüren sind geschlossen und öffnen sich natürlich auch nicht. Zwei Japaner stehen vor dem Mann hinter der Theke, neben ihm ein anderer Mann, der ein paar Mal über meinen flehentlichen Ausdruck und mein zartes Klopfen hinwegsieht. Ich denke, wenn sie die Japaner nicht unterirdisch oder mit Polizeischutz rausbringen, dräng ich mich rein und erzähle über meine schwierige familiäre und sonstige Situation, die mir Besuche bei der Staatsbahn nur nach 22 Uhr erlaubt und dann ist sich auch das nicht ausgegangen. Aber der Mann im weißen Hemd deutet auf seine Uhr und schwenkt anschließend seine Arme kreuzweise über dem Kopf. Ich gehe. Ich fluche. Schon lange habe ich mich nicht so reden gehört. Ich höre: "Ihr seids wirklich Oaschlecher." Das ist meine Stimme. Nicht schön! Ich gehe zurück. Ich warte auf den Mann, der die Japaner betreut. Sein Kollege macht ihn auf mich aufmerksam (Achtung, gleich holen sie die Feuerwehr). Der zweite Schalterbeamte deutet ebenfalls aus seine Armbanduhr und hebt die Hände über den Kopf. Ich mime: ich bin doch nur fünf Minuten zu spät, indem ich auch auf meine Uhr deute.Er reißt wieder die Arme hoch. Ich gehe, jetzt aber wirklich.
Bei all dem Müllproblem, bei all dem Berlusconi, bei aller Mafia: DAS würde in Italien NIE passieren. NIE. Es kann sehr gut sein, dass ein Geschäft, auch ein Informationsdienst 15 Minuten zu spät aufsperrt, aber NIEMAND schickt einen Klienten weg, wenn der Laden noch irgendwie in Betrieb ist. Das machen die Menschen zum einen, weil sie Klienten schätzen, zum anderen, weil sie auch Klienten sein könnten, und daher erscheint es ihnen unhübsch, die Person abblitzen zu lassen. Vielleicht hätten sie mir eine Standpauke gehalten: Signora, wollen sie, dass wir bis Mitternacht arbeiten, wir haben auch eine Familie!, aber sie hätten mir meine Bahnkarte verlängert, wenn das technisch möglich gewesen wäre, auch um 22:36.
"Pare brutto!" ist ein stehender Spruch in Italien, zumindest im Süden. Eine Rechtfertigung für alles, was man tut, weil es sonst nicht gut ausschaut. Ich habe immer gefunden, dass es nicht so wichtig ist, ob was gut oder schlecht wirkt, aber heute habe ich den Vorteil dieser wenig freigeistigen Mentalität zu schätzen gelernt.

Dienstag, 16. August 2011

Weltmarkt

Trotz der Sehnsucht nach dem brodelnden Süden und seinen Bewohnern, die in mir Vibrationen auslösen, welche in alle Richtungen ausschlagen, hat das Leben in der Großstadt gewisse Vorteile. So kann ich beispielsweise einem meiner favourite sport and pastime nachgehen, anderen Leuten in öffentlichen Verkehrsmitteln zuzuhören nämlich.
Als ich mit den Kindern im Autobus stehe, der uns ins städtische Schwimmbad bringen wird, höre ich eine junge und nasale männliche Stimme hinter mir. Seinen Gesprächspartner höre ich kaum, aber es geht um ein Buch. Enttäuschend oder hochgelobt, mir ist es nicht ganz klar und natürlich denke ich, sie reden über das selbe Buch, das mich im Moment gerade interessiert, nämlich "Schoßgebete" von Charlotte Roche, ich habe nämlich ein Interview mit der Autorin gelesen. Ich spitze die Ohren und vermute, das Wort "Sex" zu hören. Dann sagt der junge Mann hinter mir laut und deutlich: "Ich kann das nicht leiden, wenn jemand mit seiner eigenen Meinung versucht, den Weltmarkt zu erobern." Ich wiederhole diesen Satz in meinem Inneren. Ich möchte mich umdrehen und dem Jüngling sagen: "Mit wessen Meinung soll der Autor denn den Weltmarkt erobern? Mit ihrer, junger Mann? Mit meiner?" Dann beginnt der Rallyefahrer, Konversation zu betreiben. Ich möchte ihm sehr gerne sagen, dass er still sein soll, weil ich dem Gespräch hinter mir lauschen will, aber das ist mir peinlich. Außerdem fragt sich der Rallyefahrer, warum der letzte Harry Potter Film außerhalb Italiens früher gespielt wird. Da ich ja selbst es war, die den Kindern verschwiegen hat, dass Harry Potter ins Kino gekommen ist, um mir das 3D- Erlebnis in jeder Hinsicht zu ersparen, fühle ich mich bemüßigt, ihn mit vielen in die Zukunft weisenden Worten zu trösten. Als ich mich endlich wieder meiner eigentlichen Tätigkeit des Belauschens widmen kann, ist das Buchkapitel abgeschlossen und man spricht über Salzburg. Festspiele nehme ich an. Dann bleibt der Bus stehen, weil ein anderer Bus kreuzt und die beiden Busfahrer miteinander sprechen. "Der glaubt, nur weil er hoch ist, kann er überall stehen bleiben.", sagt der mieselsüchtige Weltmarktexperte. In Kalabrien müsste er am ersten Tag eine Bombe werfen. Da bleiben alle Autos irgendwann irgendwo stehen, weil sich die Autofahrer austauschen möchten.
Ich drehe mich um, der junge Mann ist doppelt so groß wie ich, sehr dünn, und trägt eine Brille. Ich beneide ihn nicht um seinen Gemütszustand. Ich würde gerne sagen: "Hey Alter, als ich so alt war wie du, war es das absolute Muss eine eigene Meinung zu haben. Die Voraussetzung für den Weltmarkt, capisci?"

Montag, 15. August 2011

Heimweh

Angesichts eines Tabakladens in Triest überkam mich einst das vibrierende Gefühl, in Italien leben zu wollen. Ein fahrender Gemüsehändler in Palermo brachte mein Herz zum Höherschlagen und ein ähnlich mobiles kleines Gemüsegeschäft in Reggio Calabria gab mir Gewissheit: Hier will ich bleiben.

Jenseits von Gut und Böse.

Andere Menschen treffen rationale Entscheidungen und sind dankbar über einen sicheren Job.

Ich habe jetzt eine Woche lang Loblieder auf die Meriten der großen Stadt gesungen und könnte das eigentlich auch noch weiterhin tun, aber ich habe Heimweh bekommen. Und komischerweise nicht (nur) nach dem wunderbaren abwesenden MM, sondern danach, in Kalabrien an der Haltestelle des Autobusses zu stehen, das Licht ist grell, der Autobus ist zu spät, die Autos fahren schnell vorbei, auf dem Hügel steht eine Kirche und ein Kloster, daneben eine große Kiefer. Die anderen Leute, die warten, reden so schnell, als ginge es um ihr Leben. Junge Frauen reden über künstliche Nägel, Frauen mittleren Alters belehren jüngere Männer über die Praktiken des Schulsystems und Jugendliche machen ihre anzüglichen Konversationen. Es ist staubig und im Wartehäuschen steht seit Monaten: "Ich will wieder deine Hände auf mir spüren, sag, dass es wieder so sein wird!"

Bei all den wunderbaren Kinderbetreuungseinrichtungen und der perfekten Mülltrennung hier und vor allem dem einwandfreien Trinkwasser überall erlaube ich mir jetzt Sehnsucht nach dem Unanständigen, dem absolut Veränderungs- und Verbesserungswürdigen, dem Ärgerlichen und dem gleichzeitig so Vitalen, dem nicht Korrumpierten, nach dieser immer lebendigen Hoffnung und der Sonne des Südens.

Sonntag, 14. August 2011

Jogurt

Auf dem Heimweg vom Schwimmbad kramt der Pubertierende im Rucksack und aus seinen gebrummelten Worten meine ich den Satz: "Da ist ein Jogurt" interpretieren zu können."Ja!", sage ich, "ich habe Jogurt mitgenommen, aber dann reichte es nicht aus,um es auch den anderen anzubieten, also haben wir es nicht gegessen." Ok, oder? Der Rallyfahrer sagt: "Was? Ein Jogurt ist in meinem Rucksack ausgeronnen?", das Kind ruft: "Ein Jogurt? Wir sollen ein Jogurt essen?" Ich sage nichts mehr, denn ich war sieben Stunden im öffentlichen Bad. Bei Tagesbeginn widme ich mich jeder Anfrage, abends widme ich mich dem Schweigen. Ich denke: DAS ist mein Leben. Im Haus angekommen sagt das Kind: "Wann essen wir das Jogurt?" Ich tue so, als hätte ich nichts gehört. Ich denke an meine Nachbarin. Wenn ich zu ihr laufe, um zu fragen, ob es bei ihr auch kein Wasser gibt, bzw., um mich zu beklagen, denn ich WEISS, dass es auch bei ihr kein Wasser gibt, kann ich mir sicher sein, dass sie das Wort "manicomio" (Irrenhaus) gebrauchen wird. Ich glaube, ich gehe nur zu ihr, um mir zu bestätigen, dass das alles ein Irrenhaus ist. "Ich habe zwei meterhohe Berge von Wäsche, und jetzt ist das Wasser weg - un manicomio!" Und das mit dem Jogurt ist auch ein manicomio, denke ich. Zu Hause öffne ich den Rucksack, ein Jogurt ist zerbrochen und wertvolles Kirschjogurt hat sich in einem Plastiksack ausgebreitet. "IIIIH, alles voll Jogurt" ist der Kommentar des Rallyefahrers. Ich erkläre ihm, dass seinem Rucksack nichts passiert ist, da ich nämlich genial bin, und alles vorher in einen Plastiksack verpackt habe. Ende der Diskussion. Wenn ich meine Genialität ins Spiel bringe, will keiner mehr weiter reden. Schade eigentlich.

Mittwoch, 10. August 2011

Sweet little lies

Ich habe zwei schwerwiegende Defekte: ich kann weder stehlen, noch lügen. Als Schülerin habe ich versucht, im legendären Zuckerlgeschäft etwas mitgehen zu lassen, wie alle meine Schulkollegen, und das ist mir auch gelungen: die Attrappe einer Bitterschokolade.
Auf einem Markt habe ich später einen Apfel gestohlen und bin mir dabei vorgekommen, als hätte ich die Bank of America geleert. Ich habe den Apfel gegessen und den Stängel mit einem Aufkleber "Mein erster gestohlener Apfel, Datum" aufgehoben. Es gab keinen zweiten gestohlenen Apfel, es war mir zu anstrengend.
Was das Lügen betrifft, so fehlt mir nicht unbedingt die Fantasie, aber die Ernsthaftigkeit. Nach jeder Lüge beginne ich blöde zu lachen. Ich kann ausgezeichnet ein Doppelleben führen und vieles einfach verschweigen, aber auf ein Faktum direkt angesprochen, erröte ich heftig und gestehe alles.
Ich denke oft darüber nach, bis zu welchem Alter sich Menschen noch verändern können, denn ich habe ja meinen Freundinnen gegenüber immer behauptet, dass Männer sich nie verändern würden, aber erwachsene Frauen können das, wie ich meine, sehr wohl, und zwar in zwei Fällen: angesichts schwerer Krankheiten und angesichts einfacher oder mehrfacher Mutterschaft. Kinder inspirieren zum Beispiel zu einer klareren Zeiteinschätzung, zu größeren Leistungen im Haushalt und im allgemeinen und zu Lügen. Der Rallyefahrer sagt: "Mamma, ich kann fast die Muskeln in meinem Bauch sehen!", und ich sage nicht, was mir als erstes auf der Zunge liegt, nämlich: "Die Muskeln in deinem Hirn sind aber ziemlich unsichtbar!", nein, ich sage: "Echt?". Der große Sohn sagt: "Mamma, kann ich mir auf der Rückfahrt im Zug Videos von 50 Cents auf dem kleinen Computer anschauen?", und ich antworte nicht spontan, dass ich 50 Cents really 50 Cents finde, sondern ich sage: "Aber im Zug gibt es doch kein Internet!", was aber nur bedingt eine Lüge ist. Ich habe auch versucht, meinen Kindern einzureden, dass der letzte Harry Potter bei uns in Kalabrien noch nicht im Kino ist, weil ich darauf warte, dass er in ein Kino ohne 3D kommt. Selbst meine Freundin, die Frau des Filmprofessors, gesteht, dass sie ihren Kindern gegenüber das Gerücht verbreitet, dass man bei 3D-Filmen dunkler sieht, weil sie nicht für jedes Kind 11 Euro Eintritt bezahlen will. Mein kleiner Tänzer schließlich ist auf seine Art ein begnadeter Lügner, der die Dinge anders versteht ("Ich dachte, du WOLLTEST, dass ich vier Stunden zu den Nachbarn gehe!", gar nicht hört ("Nein, das hast du NIE gesagt!") oder sie zu seinen Gunsten verdreht: ("Sag bitte meinen Brüdern, sie sollen die Schaukel verlassen, denn dieses kleine Mädchen hat noch gar nicht geschaukelt, ich möchte, dass dieses kleine Mädchen schaukelt." (Und neben dem kleinen Mädchen ICH).
Manchmal werde ich pathetisch und beschwöre angesichts verschwundener Kaugummis Bilder von Menschen herauf, die innerlich verfaulen, weil sie so viele Lügen erzählen. Es hat auch eine Zeit lang gedauert, die Kinder von der Vorstellung zu befreien, sie würden kurze Beine bekommen, wenn sie lügen. In dieser Hinsicht sind die Kinder echt naiv, sie glauben auch, dass denjenigen, der furzt, seine roten Handflächen verraten würden.
Ich wäre gerne smarter. Wenn ich vergesse, zwei Euro unter das Kopfkissen zu legen, wenn ein Zahn ausgefallen ist, erfinde ich glaubwürdige Geschichten über den Arbeitsalltag der Zahnmaus, aber wenn ich das Kind vor einem Heiligenbild beten sehe, und es sagt; "Ich bete, weil ich gute Taten vollbringen möchte!", werde ich total fantasielos und sage schneidend: "Beten ist eine Sache, gute Taten eine andere!"
Oh Lord!

Dienstag, 9. August 2011

Die Dattilografa als Wirtin

und in der Psychoanalyse: die römischen Freunde haben sich das Freud-Museum angesehen und berichtet, dass es dort einen Küchenschwamm mit der Aufschrift "Neurose" als Souvenir zu kaufen gibt. Das regt zum Denken an. Heute bin ich unglaublich stolz auf mich, weil ich spontan 8 Leute in meiner kleinen Wohnung in der großen Stadt bestens verköstigt habe, während ich vor ein paar Tagen beim Geburtstagsessen im großen Haus mit dem großen Garten und der großen Baustelle die Hälfte des Menüs zum Teil vergessen habe, zuzubereiten und zum anderen Teil vergessen, aufzutischen, was dazu geführt hat, dass die Gäste meiner Meinung nach hungrig weggegangen sind. Warum interessiert es mich hier nicht, ob meine Freundinnen professionelle Desinfisziererinnen sind und ich auch deshalb so sein sollte?
Meine Nachbarin Teresa sagte mir letztens, dass sie einmal zwei Wochen nicht zu Hause war, und dann waren da Spinnweben, SPINNWEBEN! Ich dachte immer, das mit den Spinnweben liegt daran, dass wir am Land leben, aber da Teresa ja auch am Land lebt, und normalerweise keine Spinnweben hat, scheint es an mir und meinem nachlässigen Putzen zu liegen. MM bittet mich, nach meiner Rückkehr Teresa zu fragen, ob sie mit mir putzt. Dann seien wir auch den "Alptraum Hausputzen" los. Statt zu finden, dass MM "in gamba" ist, echt ok, denke ich: wer hat denn einen Alptraum Hausputzen? Ich schließe daraus: ich sollte mich auf die Couch in der Berggasse legen und ein wenig über kalabresische Hausfrauen reden, was heißt Hausfrauen - sie sind berufstätige Frauen, Mütter und Ehefrauen und man könnte auf ihren Tischen jederzeit eine Notoperation durchführen. Selbst auf dem mit Chlorbleiche geputzten Boden. Letztens erbrach sich ein kleiner Hund auf den Wohnzimmerboden einer Freundin und sie entfernte die Reste mit einem Einweghandschuh aus dem Spital und einem Küchentuch und stellte energisch fest, dass das gar nichts mache, da sie nachher ohnehin mit Chlor reinigen werde.
Hier in der Großstadt ist das alles nicht so wichtig, sehr seltsam, obwohl es doch auf den Straßen viel sauberer ist und vor allem das Müllprpoblem viel souveräner gelöst wird als in Süditalien. Im süditalienischen Mikrokosmos hingegen wird geschrubbt, was der Gummihandschuh aushält. Meine Schwiegermutter verpatzt ihre selbstgemachte Pasta damit, dass sie sie mit Geschirrtüchern zudeckt (damit keine Fliegen oder Spinnen darauf kommen), die so stark nach Dash riechen, dass der Rallyefahrer die Mundwinkel nach unten zieht: "Diese Nudeln schmecken nach Seife!"
Ich merke, dass ich nach all dem Clorbleichewahn der italienischen Hausfrauen (selbst die Emigrantinnen in der Schweiz kaufen in den Italo-Läden ihren Problemlöser ACE), Lust habe, etwas wirklich Schmutziges zu tun.

Montag, 8. August 2011

hush hush and away

Die Dattilografa mit den drei Kindern und den drei Koffern gibt die Fremdenführerin in ihrer alten Heimatstadt. Der große Sohn findet sie beeindruckend. Sie findet den Sohn beeindruckend, dass er so was sagen kann. Die Kinder der besuchenden Familie sind noch anstrengender als die eigenen. Am Ende des Tages hat der Rallyefahrer ein Stück Zahn ausgebrochen, das Gastkind ist im Gatsch gelandet und wie durch ein Wunder nicht vom Ringelspiel überfahren worden, das Kind sagt hundertmal: "ich sage es dir jetzt zum letzten Mal, wenn ich nicht sofort etwas zu trinken bekomme, sterbe ich." Außerdem hat er hundert Nadeln in den Füßen. Der Datti ist das alles so was von wurscht, denn sie hat sich als Kind selbst ein Stück Zahn ausgeschlagen, ist in den Gatsch gefallen und meinte, verdursten zu müssen.
Alles was mich interessiert ist, so zu werden, wie mein Freund, der italienische Filmprofessor. Nein, ich bin nicht in ihn verliebt, ich finde ihn nur so verehrunsgwürdig klar. Wie er die Dinge beurteilt. Wenn er einen Satz mit: "Ich nehme wahr..." beginnt. Auch wie er das Beste für seine Familie, für seine Kinder herauszufinden versucht, jetzt ganz abgesehen von Wenders, Herzog und Nanni Moretti. Ich kann das nicht, deshalb bin ich wahrscheinlich auch kein ordentlicher Universitätsprofessor. Allerdings habe ich auch keine Frau wie er. Aber ich weiß aus eigener Ansicht, dass er für seine damals noch kleine Tochter sorgte, als seine Frau schlief, die sich mit der somnambulen Tochter die Nächte um die Ohren schlug. Sie saßen auf der Terrasse, die z´Zweijährige mit ihrem Buch, er mit seinem Buch: "Nein, das ist Papas Buch, du hast dein Buch!"
Ich habe jetzt abends eineinhalb Stunden vor dem Computer, das ist mehr als zu Hause, wo ich mit MM spreche, oder dem Hund zu fressen gebe, während die Unter-15-jährigen einen Film sehen. Da die Kinder einige Harry Potter Filme mitgenommen habe, erwarten mich einige lange Abende. Ich habe begonnen, zu schreiben, und ich werde mich jeden Tag an meinen erfolgreichen Freund erinnern: Papa arbeitet - Mama arbeitet, la Dattilografa schreibt.
Gestern wollte das Kind die Tür zum Wohnzimmer schließen, in dem der Film gesehen wurde, ich saß in der Küche vor dem Schreibgerät. "Kann ich die Tür zu machen?" "Wieso?" "Damit du besser lernen kannst." Ok, die Zeit ist kurz, ich muss schnell lernen.

Sonntag, 7. August 2011

Ode an MS

Wer nie geraucht hat, kann nicht verstehen, dass nach gewissen Tagen nur eine Zigarette, eine bewusst und in Ruhe gerauchte Zigarette vermitteln kann, dass der Tag abgeschlossen und vorbei ist, dass der oder die Raucherin überlebt hat und nun eben endlich, ganz für sich, diese Zigarette rauchen kann, auf die er oder sie so lange gewartet hat und die er oder sie sich so redlich verdient hat.
Leider rauche ich seit 13 Jahren nicht mehr, seit 13 Jahren beraube ich mich dieser einzigartigen Genugtuung. In der letzten Woche gab es jeden Tag einen Tag, an dessen Ende eine Zigarette geraucht werden wollte. (Zigaretten wollen nicht geraucht werden, Zigaretten wollen gar nichts, sie können weder verstehen noch einen Wunsch haben, würde ich dem Kind sagen....)
Am Ende dieser Tage voller Tanz und vierzehntem Geburtstag (vierzehn, das ist: Schweiss, Ärger, Computerspiele, Flüche, Ungeduld, masslose Selbstüberschätzung und masslose Selbstvernichtung) packte die Dattilografa mit den anspruchsvollen Mantras "One bag only" und "Reisen mit leichtem Gepäck" drei tonnenschwere Koffer und begab sich mit den Kindern auf eine Reise. Das Kind rief: "Ich weiß nicht, wie ich das schaffe, so glücklich zu sein, vielleicht ist das, weil wir reisen!" Die Dattilografa reist nicht mehr so leicht wie früher, weil "la fila indiana", der Gänsemarsch hinter ihr, immer beobachtet werden muss.
Fern vom kalabresischen Ehemann und dem Garten, den Zikaden, Fröschen und der flirrend heißen Luft sitzt die Dattilografa in der kleinen Küche am Computer und weiß, dass noch irgendwo eine Schachtel MS versteckt sein muss. Sicher staubtrocken nach so vielen Jahren. Aber der Ruf der Wildnis, der manchmal leiser wird, ist im Hintergrund immer zu hören. Immer.

Mittwoch, 3. August 2011

Worte der Woche: amorevole und amoroso

Ein wesentlicher Bestandteil unseres etwa 3500 Quadratmeter großen Obst- und Gemüsegartens ist ein Wasserbecken, in dem das Wasser, das aus wunderbaren Gründen aus einer Quelle zu uns kommt, gesammelt wird, bevor wir damit den Garten gießen. Wenn wir das Wasser nicht brauchen, fließt es durch ein Rohr weiter, mischt sich mit anderem Wasser und geht in den Wildbach. Wenn wir gießen, öffnen wir ein anderes Rohr und schleppen Schläuche zu den Furchen, in denen Tomaten, Auberginen (in Österreich als Paradeiser und Melanzani bekannt), Kürbisse, Gurken, Paprikaschoten und anderes wachsen. Wenn das Wasser in die Rinnen gluckert, fühlt man sich wie ein Wasserbauexperte und hat das Gefühl, sein Leben extrem sinnvoll zu gestalten und sich sein Abendessen oder sein Frühstück, je nach Zeit dies Gießens, rechtschaffen verdient zu haben. Leider gehört die Putzorgie, die wir vor zwei Jahren im Wasserbecken veranstaltet haben, dringend wiederholt, denn es haben sich Algen gebildet und die Abflüsse funktionieren nicht einwandfrei und wir müssen regelmäßig kontrollieren, ob das Becken übergeht. Das fällt uns neuerdings nachts ein und MM und ich gehen dann leichtherzig mit einer Taschenlampe in den Garten, während die Kinder vor dem Fernseher oder dem Computer sitzen. Über uns sind reichlich Sterne zu sehen. Im Wasserbecken sitzen die Frösche und halten erschrocken in ihrem Gesang inne. Wir leuchten sie an und sie tun so, als wären sie gar nicht da, aber sie sind deutlich zu sehen, sie passen auf einen Handteller, sind grellgrün, haben hervorquellende Augen und eine Blase an der Kehle, die aussieht, als hätte das Kind seinen Kaugummi oder seine Spuckeblase hingeklebt. Wenn wir das Licht ausmachen beginnen sie wieder: "QUAQUAQUA!". Von der Mauer über dem Wasserbecken hallt es wider, den ganzen Hügel hinunter. Ohrenbetäubend. "Warum tun sie das?" fragt mich MM. "Aus Liebesgründen", will ich mit größter Überzeugung sagen, aber ich verwende ein falsches Wort und sage: "Aus Gründen der Liebenswürdigkeit." MM sieht mich an. Sein Blick sagt: "Meint sie das ernst?". Er leuchtet wieder die Frösche an. Sie schweigen beleidigt.

Die Tatsache, dass nur noch fünf Wochen Ferien sind, versetzt mich geradezu in Panik. Ich muss meinen Kindern doch noch so viel beibringen, bevor sie wieder in der Schule verhaftet sind. Da aber bereits 8 Wochen Ferien hinter mir liegen merke ich auch gewisse Erschöpfung, was mich selbst betrifft. Ich habe Briefe an Gremien geschrieben, um eine Lehrerin in der Klasse des Kindes zu halten, ich habe das Kind erfolgreich auf dem zeitaufwändigen Weg zu seiner zweiten Ballettaufführung begleitet und ich habe aus Gründen der Liebenswürdigkeit eine kräfige Überdosis an sozialen Kontakten genossen, die sich nicht als Zuschuss an heiteren Geschichten in meinem Blog verewigt, sondern beklemmende Seelenzustände hervorgerufen hat. Ich habe viel gekocht und mir viel vorlesen lassen. Ich löse gemeinsam mit dem Kind das Geheimnis des gelben Drachens, bin mit dem Rallyefahrer zusammen darüber entsetzt, dass die Feen im Wald sterben und amüsiere mich mit dem demnächst Vierzehnjährigen über die abartigen Streiche, die Gianburrasca in seinem Tagebuch beschreibt. Viel lieber würde er mit mir über Videogames reden, aber ich will, dass er liest.

Alles in allem fühle ich den unverkennbaren Drang nach Grenzüberschreitung in mir aufsteigen. Ich bin zu gut gelaunt, um nach der üblichen Pumpgun zu verlangen und ich muss auch nicht zwangsläufig etwas sprengen, das heißt, die Gefahr ist groß, dass ich auf einer knatternden Vespa durchbrenne, zumindest einen Nachmittag lang. Ach, könnte man nur Ferien machen wie damals, an Orten, an die man nie mehr zurückkehrt, an denen sich die eigenen Spuren langsam verwischen und der Wind den Sand verbläst. Könnte man etwas Verbotenes tun mit aller aufzubringender Ernsthaftigkeit. Lieder in einer fremden Sprache schmettern und mit jungen Männern tanzen. Auf fremde Dächer steigen und aus voller Kehle quaken, aus Liebesgründen natürlich.

Freitag, 8. Juli 2011

Die Garage und andere Erfolge

Angesichts der Weltlage (Berlusconis permanente Niederlagen erwecken Hoffnung, aber sonst?) scheint es blasphemisch über Garagen zu schreiben. Eine Frau, die einen Organisationsblog schreibt, hat sich für den Monat Juni vorgenommen, ihre Garage zu entrümpeln und aufzuräumen. Zufälligerweise ist diese Frau auch kürzlich (äh, ist mein Jahr Umzug kürzlich?) umgezogen. Als ich von diesem Vorsatz las, dachte ich: "Was will die einen Monat lang ihre Garage aufräumen? Nichts leichter als das! Das mache ich auch!" Als dann um den 10. Juni eine Mitteilung von ihr kam, es wären Stürme in dem Teil Amerikas, in dem sie lebt, und zum Glück hätte sie ihr Projekt bereits abgeschlossen, um ihr Auto sicher verwahren zu können, stand bei mir immer noch das Gerümpel vor der Garage und ich hatte alle Teile von einem Teil in den anderen geworfen. Die Garage zu bändigen war in etwa wie den Rubikwürfel, den ich auch in der Garage gefunden hatte, richtig zusammenzusetzen. Irgendwann will man den Würfel mit einem Hammer bearbeiten und so ging es mir mitunter, wenn ich auf die dort verwahrten Teile blickte. Das Grundübel war, dass dort die letzten Teile des Umzugs gelandet waren und offenbar war das Auto bei Regen und in der Nacht ausgeladen worden, denn ohne Hirn und Herz waren Alukoffer auf Maurerbalken gestellt worden, die dort bequem Platz einnahmen, bevor der letzte Rest aus dem alten Haus gekommen war. Nur mit Hilfe meines großen Sohns, der davor zur Übung einige Tage mit Lego konstruiert hatte, gelang es mir vor ein paar Tagen, der Juni war berits Vergangenheit), die Holzbalken und das Gerüst so zu schlichten, dass vielleicht ein Auto in die Garage passt, zumindest mit der Motorhaube. Ich habe es noch nicht probiert, denn im Moment stehen die Fahrräder vor der Garage. Wir haben es auf 8 Fahrräder gebracht, von denen drei dem Kind gehören und das Kind kann nichts weggeben oder wegwerfen (Das ist meins! Das ist meins!). Aufgetaucht sind wieder die Filmrollendöschen - mein Freund der berühmte Fotograf hat eine Skulptur in Lamezia Terme angeregt, ich glaube, aus diesem Projekt wird was. Weiters Glaselemente eines Hochspannungsmastes, die ich nicht wegwerfen darf. Sie können aber an einem weniger wichtigen Ort gelagert werden, gesteht MM zu. Was meint er damit? Unter dem Bett?

Es gibt jetzt auch ein Regal mit Kinderspielsachen für draußen, allein es mangelt an der Vollständigkeit der einzelnen Spiele. ("Haben sie Badmintonbälle?" "Jaja, Bälle!" "Nein, keine Fußbälle! Das sind Bälle mit einem Art Indianerzelt unten." "Jaja mit Federn, jaja. Nein, haben wir nicht!") ("Haben sie Bälle für Beachvolley?" "Jaja, hier - komplette Packung mit Schlägern!" - so kommen wir zu 28 Beachvolleyballschlägern ohne Ball...). Besonders ärgerlich ist, dass meine Kinder prophezeit haben, wir würden diese Bälle nie zu kaufen bekommen. Ich habe ihnen darauf einen eindrucksvollen langatmigen Vortrag zum Thema Pessimismus gehalten.

Im Lauf der Recherche zum Thema Garage stellte sich heraus, dass viele Menschen ihr Auto vor der Garage stehen haben. Wenn ich es schaffe, mein Auto zumindest in Richtung Eingang zu parken, werde ich das Gefühl haben, einer Avantgarde besonders gut organisierter Menschen anzugehören. Die Organisationsspezialistin hat ein Foto ihrer entrümpelten Garage veröffentlicht. Verglichen damit habe ich es gar nicht mit einer Garage zu tun, sondern mit einer Hütte.

Das ist egal. Und sonst fallen mir eigentlich gar keine anderen Erfolge ein, außer dass ich zwei Geburtstagsfeste von kleinen Mädchen überlebt habe (eines davon mit zwei Animatorinnen in Leopardenblusen und hochhackigen Schuhen, die das Fest eher moderierten als animierten), bei denen mir erstmals klar geworden war, warum Menschen schreiben, dass ihnen das Herz überquillt, oder ähnliches. Tatsächlich quoll mir das Herz über vor Mitgefühl dem Kind gegenüber, das diese events peinlich berührt über sich ergehen ließ. Es gelang ihm sogar, ihnen etwas abzugewinnen. Das nahm mich wirklich für ihn ein.

Montag, 4. Juli 2011

Una domenica bestiale*

Ich genieße den Überschuss an Wärme, zirpenden Grillen, reifenden Feigen und Gemüse. Teresa, meine Nachbarin, ruft an und sagt, sie hat mir Salat und Zucchini vor die Tür gelegt. Da sind auch noch jede Menge Zwiebeln und Gurken. Ich habe sie nicht gehört, als sie mich persönlich rief, ich war selbst im Gemüsegarten. Unser Gemüse wirkt wie die kleinen Geschwister von Teresas Gemüse. Wir dilettieren ja noch und sind mit allem zu spät dran.
Gestern, einem Sonntag, habe ich die Kinder, die sich nach diesem Marathonschuljahr der Muße hingeben und sehr ungestresst sind, bereits um 10 Uhr aus den Betten berufen, damit sie mit mir Weichseln pflücken. Ich begegne den Weichseln mit großer Skepsis, denn ich finde es ungemein schwierig, sie zu entkernen. Ich glaube daher, dass die Tonnen an Cornetto con Crema e Amarena mit einer anderen Marmelade als der von Weichseln gefüllt ist. Ich glaube so viele Weichseln gibt es gar nicht. Was mag das für eine Marmelade sein, in Wirklichkeit? In welchem Labor wird dieses Aroma hergestellt? Und was ist das, was so tut, als wäre es eine halbe Weichsel?
Wir schreiten zum Weichselbaum. Der Rallyefahrer knallt die Leiter gegen das Auto. MM steht im Weingarten und sieht mit seinem Strohhut aus wie Van Goghs Bruder. Teresa ruft mich. Sie ist von der Ansammlung der Häuser herabgestiegen um die Arbeiten zu besichtigen, die an einem Teil der kleinen Straße, die zu unserem Haus führt, stattgefunden haben. Zwei Wochen im Jahr benutzen diese Straße auch andere Menschen, die ihr Haus nur im Sommer aufsuchen und dabei von unserer Straße abbiegen. Da es für diese Menschen wichtig ist, auf einer für sie funktionalen Straße zu fahren wurde der Weg etwas verbreitert. Eigentlich schaut es fürchterlich aus, so als hätte ein wildes Tier den Zement aufgerissen und mit Erde bedeckt, aber die Erfahrung des letzten Jahres lehrt mich, dass all diese Wunden am Bestehenden vernarben und eines Tages schaut alles, wenn schon nicht so aus wie früher, dann immerhin so, als wäre es immer schon so gewesen.
Ich schlendere zu Teresa, meiner dynamischen, rundlichen und immer korrekt geschminkten Nachbarin Mitte fünfzig, und stehe mit ihr unter dem Kirschbaum im Schatten und sie erklärt mir etwa ein Dutzend Möglichkeiten, die Weichseln zu verarbeiten. Mitten im Satz unterbricht sie sich und schaut starr auf meinen Arm. Ich denke, sicher sitzt dort eine Stechmücke. Sie beugt sich nach vor. Gleich wird sie die Stechmücke auf meinem Arm erschlagen. Doch nein, sie geht langsam in die Knie und kommt rasch auf der Erde auf. Mit bestürzender Langsamkeit realisiere ich, dass sie zusammengebrochen ist. Ich sage "perchè?" und diese Frage nach dem Warum ist einfach idiotisch. Ich frage mich tatsächlich, warum sie sich da vor mir auf die Knie fallen lässt, statt mich auf sie zu stürzen und sie hochzuziehen. Irgendwann tue ich das dann doch. Ich tätschle sie und ich merke, dass diese meine Mischung aus Apathie und Ruhe auch ein Schockzustand ist. Ich habe das Gefühl, als hätte ich das schon oft erlebt. Wir steigen langsam die Straße und dann die Treppen zu ihrem Haus hoch. Sie ist blaß, aber redet ununterbrochen, das beruhigt mich. Gleich nach dem Sturz hat sie sich recht normal verhalten, ich merke, sie regt sich jetzt immer mehr auf. Bring mich nach Hause, Schatz, sagt sie. Mach dir keine Sorgen, Schatz, antworte ich. Der Rallyefahrer und das Kind folgen uns gemessenen Schrittes. In der kleinen Ansammlung an Häusern geht das Kind die Schwägerin von Teresa holen. Ich öffne das Haus, Teresa will Wasser. Von der Leitung? Nein, aus dem Kühlschrank. Die Schwägerin kommt und übernimmt die Erstversorgung mit Wasser aus dem Kühlschrank und Zucker. Teresa geht es nach diesem Getränk besser, ich befürchte, ich wäre jetzt, nach dem kalten süßen Wasser zusammengebrochen. Ich frage sie, ob sie etwas gegessen hat. Ach, bei dieser Hitze, was soll man da essen? Sie hat eine Frucht und eine halbe Gurke gegessen. Hätte ich nicht bereits ein Marmeladebrot und ein Joghurt mit Feigen intus wäre ich auch in die Knie gegangen, denke ich. Dass diese Italiener nie richtig frühstücken!
Jetzt passiert etwas Unvorhergesehenes: statt sich besser zu fühlen, beginnt Teresa in Panik zu verfallen. Was hat sie eigentlich, fragt sie sich und reibt sich den Magen. Ich fühl mich gar nicht gut! ruft sie aus und ruft ihren Mann und ihren Sohn an. Sie will ins Spital fahren. Ich kann sie hinbringen, aber nein, es gibt auch noch den Bruder. Mittlerweile ist außer der Schwägerin auch noch die Schwester da. Niedriger Blutdruck, sagt diese und beginnt zu erzählen, wie ihr das vor einem Jahr auch passiert ist. Sie schenkt Fruchtsaft ein. Teresa möchte keinen Fruchtsaft, das Glas wandert zum Kind, gemeinsam mit meinem Glas, ich möchte auch keinen Fruchtsaft. Der Bruder kommt. Teresa schnappt nach Luft und reibt sich den Magen. "Bring mich ins Spital", bittet sie den Bruder. "Aber das ist niedriger Blutdruck", sagt der Bruder, "und sie ist etwas nervös, manche können sich da besser kontrollieren." setzt er nach, doch sein Blick ist durchaus nett. Ich schlage Teresa vor, sich aufs Sofa zu legen und die Beine hochzulagern. Das fällt mir ein, weil das meine Freundin eine Woche vorher bei der Erstkommunion ihres Sohnes machen musste. Doch für Teresa kommt das nicht in Frage, sie muss sie dazu erst waschen. überhaupt muss sie sich jetzt waschen. "Na gut, dann wasch dich und dann schauen wir wegen dem Spital" lenkt der Bruder ein. Die Schwägerin gießt Eistee ein, Teresa möchte keinen Eistee, das Glas wandert zum Kind. Das Kind beginnt sich zu freuen. Die Schwägerin sagt, sie werde die Signora fragen, die hätte ein Blutdruckmessgerät. Sie geht ab, die Schwester kommt wieder. Sie gießt Coca Cola ein. Teresa möchte kein Coca-Cola, das Glas wandert zum Kind. Das Kind strahlt. Vielleicht möchte Teresa Crackers oder Kekse oder Zwieback, werfe ich ein, inspiriert vom eigenen flauen Gefühl im Magen. Eine Packung fader Crackers landet vor dem Kind, Teresa öffnet eine Packung von mit Paprika gewürztem Salzgebäck. Das Kind fragt nach einer Anstandssekunde, ob es die auch essen kann.
Teresa und das Kind teilen sich das Salzgebäck.
Teresa fällt plötzlich etwas ein - sie stürzt sich auf das Telefon und gibt rasch eine Nummer ein. "Ich muss meine Tochter anrufen!". Diese antwortet sofort. Teresa fragt sie, wie es ihr geht und was sie macht. Die Antwort scheint sie aber nicht besonders zu interessieren, denn sie sagt gleich: "Liebes Kind, erschreck dich nicht, aber mir geht es gar nicht gut. Ich bin gefallen und werde nun ins Spital fahren." Gleich darauf heißt es: "Nein, nichts,mach dir keine Sorgen. Nein, ich habe mir nicht weh getan. Es geht mir gar nicht gut. Mir tut der Magen weh. Mir ist schwarz vor den Augen geworden.Gut, ich ruf dich später an."
Sie läßt sich wieder auf den Stuhl fallen und greift in die Tüte mit dem Salzgebäck, das Kind ebenfalls.
Die Schwägerin kommt mit der Signora, die das Blutdruckmessgerät haben soll. Ich muss zwei Mal hinschauen, um meinen Augen zu trauen: eine ganz dünne ältere Frau mit grauen Haaren, die zu einem schlampigen Zopf zusammengebunden sind, stechend blaue Augen, ein schmaler Mund, braun gebrannte Haut, mindestens sieben kleine Ohrstecker in einem Ohr, eine geblümte weite Hose, eine orientalische Bluse, in der noch die Bügelfalten zu sehen sind, riesige Hände, in einer hängt eine halb gerauchte Zigarette. Sie trägt klobige schwarze Tennisschuhe, in denen ihre Füße ohne Strümpfe stecken. Für einen Moment fühle ich mich nach Apulien ins Haus meiner Freundin versetzt, in dem amerikanische Künstlerinnen und andere interessante Menschen ein und aus gehen. Aber ich bin hier, bei mir, in meinem biederen Kalabrien und frage mich, wer diese Dame ist, die jetzt loszubellen beginnt: "Wo ich hinkomme, geht es jemandem schlecht. Was hast du bloß angestellt? Na? Gib's zu. Warum musstest du mich stören?" Teresa ist nicht beleidigt, aber doch ein wenig eingeschüchtert. Die Schwester stellt einen Aschenbecher auf den Tisch. Die Frau hat auch mir einen strengen Blick zugeworfen, ich mag sie gleich. Sie schüttelt mir mit ihrer nun zigarettenfreien Pranke die Hand. Kurz darauf sagt jemand, dass ich MMs Frau bin. Wieso kennen denn alle MM? Immerhin sagen sie nicht, ich bin des Kindes Mutter, auch das ist schon oft vorgekommen. "Ah!" sagt die Griesgrämige, "dann bin ich also ihre Nachbarin." Au Backe, damit hätte ich nicht gerechnet. Neben uns ist in diskreter Entfernung ein diskret renoviertes altes Steinhaus, das im Besitz einer Familie ist, die nur selten und wenn am Wochenende kommt. Teresas Bruder und die Schwägerin pflegen gegen Entgelt das dazu gehörige Land und daher kommen sie auch immer an unserem Haus vorbei. Die Kommunikation mit den für mich unbekannten Nachbarn im Steinhaus mit dem Oleander davor lief immer über die Teresas Bruder. Die brummige Frau lächelt und entblößt schöne Zähne. Wir küssen einander auf die Wangen.
Dann widmet sie sich Teresa und läßt sich erzählen, was passiert ist. Ein Kind aus dieser Großfamilie betritt das Zimmer und beginnt eine angeregte lautstarke Konversation mit dem Kind. Es darf raus, flüstere ich dem Kind zu, es darf mit dem anderen Kind spielen. "Moment!" sagt es, "nur noch ein wenig Salzgebäck!" und greift beherzt in die kleine Tüte vor Teresa. Dann fühlt die dünne Frau Teresas Puls. "Haben Sie kein Blutdruckmessgerät?" fragt Teresa enttäuscht. "Nein, habe ich nicht", blafft sie die Frau an. "Glaubst du ich renn hier mit einem Blutdruckmessgerät rum?" Sie schaut in Teresas Augen, indem sie die Lider hoczieht. "Du hast nichts." sagt sie entschieden. "Dir fehlt gar nichts. Du musst nur abnehmen!" Teresa reibt sich zur Bestätigung den Bauch und sagt, sie hätte ohnehin nichts gegessen. "Aber nicht in der Früh nichts essen!" kreischt meine entnervte Stimme. Allein die Vorstellung, wie diese Italiener so viele Stunden nüchtern bleiben können um dann zu Mittag Tonnen zu essen regt meine Magensäure an. Die dünne Frau erkennt den Partner in mir:"Leider haben die Südländer diese schlechte Angewohnheit, morgens nichts zu essen!" Sie macht Teresa ein paar Vorschläge, was sie morgens essen könnte, aber diese schüttelt immer nur den Kopf. "Das schmeckt mir nicht!" Parallel dazu bietet die Schwester der dünnen Frau Getränke an: "Tee?" "Nein, danke!" "Kaffee?" "Nein, kein Kaffee." "Kalten Kaffee?" "Nein." "Coca Cola?" "Nein." "Saft, Bier?" Die Abfolge wird immer schneller. "Nein!" sagt die dünne Frau und blickt auf den Boden, was ich in Zukunft von ihr übernehmen werde, "ich will nichts." "La signora è decisa.", sagt die Schwester mit einer Mischung aus Brüskierung und Resignation. Die Signora ist entschlossen.
Mittlerweile sind wir bei einer veritablen Anamnese angelangt. Teresa zählt alle Krankheiten der letzten Jahre auf. Ich überlege, ob ich gehen soll, aber auch die Nichte steht mittlerweile in der Tür und ich kann nicht einfach verschwinden, ohne mich zu verabschieden, also entschließe ich mich, so zu tun, als wäre nichts. Der Rallyefahrer sitzt seit einer halben Stunde vor der Tür, ihm hat man nichts angeboten. Später schicke ich ihn mit dem Auftrag nach Hause, MM zu sagen, was passiert ist. MM wird etwa zehn Minuten nach der Rükkehr des Rallyefahrers davon in Kenntnis gesetzt, dass Teresa gestürzt ist und sich am Knie verletzt hat. Was nicht ganz unwahr ist.
"Kein Wunder, bei diesem Gewicht!", sagt die dünne Frau, als Teresa Schmerzen im Knie beklagt. "Ihr müsst abnehmen Mädels!", die dünne Frau macht einen Rundblick. "Ihr esst wie die Schweine!", die Schwester, die vor der Tür steht, schaut erschrocken. Danach sehe ich sie nicht mehr. Ich bin mir nicht sicher, ob ihr die dünne Frau auch so sympathisch wie mir ist. "Ich habe zu rauchen aufgehört, vielleicht sollte ich wieder anfangen?" wendet sich Teresa hoffnungsvoll an die dünne Frau. Diese übergeht den Einwand. Teresa eilt in ein anderes Zimmer, um ärztliche Atteste zu holen, in denen es um ein Magengeschwür geht, das durch Heliobakter hervorgerufen wurde. Teresa berfürchtet nämlich, wieder ein Magengeschwür zu haben. Warum sollte sie, fragt sich die dünne Frau, ist aber doch bereit, sich alle Unterlagen anzuschauen. Wir sind nun allein. "Sind sie Ärztin?" frage ich. "Ich war Ärztin, ich bin schon eine Zeitlang in Pension. Und wie gefällt es ihnen hier?" "Gut!" sage ich, "und jetzt noch besser, weil sie meine Nachbarin sind. Vielleicht sollten wir gleich du sagen?" Die dünne Frau schaut veträumt zu Boden. "Ja, vielleicht besser so." Sie nennt ihren Namen. Ich bin etwas überrascht über meine stürmische Annäherung, aber durchaus heiter. Sie hat unsere großen Umbauten bemerkt und wollte schon öfter mit ihrem Mann vorbeischauen, aber der meinte, vielleicht wäre uns das nicht recht. "Aber nein," sage ich, "wir freuen uns!" Der Gedanke streift mich, dass ich vor 36 Stunden geweint habe, weil der Installateur in ALLE Räume gehen musste, um den Kostenvoranschlag für die Heizung zu machen und dass MM mich gebeten hat, zu gestehen, wo ich all die Bügelwäsche habe verschwinden lassen und dass ich einen ganzen Tag lang gelobt werden wollte, weil ich binnen einer Stunde das Haus so aussehen habe lassen, als wäre ich nur leicht verückt und nicht total verantwortungslos.
Sie erzählt, dass sie im letzten Jahr kaum "auf dem Land" war, weil sie ein Haus renovieren musste, da ihr Sohn im September heiratet und was das heißt, renovieren, das wisse ich ja. Sie werde jetzt mehr kommen, denn das Leben im Dorf behage ihr nicht mehr.
Da kommt schon Teresa mit den Papieren. Auch ihr Sohn ist nun da, er hat ein Eis mitgebracht, sie will es nicht, das bekommt der sich selbst zum Türsteher ernannt habende Rallyefahrer. Es sei ihm vergönnt. Ich finde den Sohn nett. Außerdem ist er unaufgeregt. Die dünne Frau schaut sich die Atteste an und sagt, was zu tun ist. Ich finde es sehr interessant. Ich wünschte, sie wäre noch immer Ärztin, ich würde gleich zu ihr gehen. Teresa gesteht, dass sie Angst hatte, einen Gehirnschlag zu haben. "Nein", sagt die Ärztin, "ein Gehirnschlag kommt nicht so daher!" Traurig schaut sie auf ihre staubigen Schuhe. Ich glaube, sie würde gerne rauchen. "Wenn du zu schwitzen beginnst, mach eine Pause!" lautet die abschließende Feststellung. Das solle ich auch meinem Mann sagen, ruft der Bruder fröhlich bei der Tür rein. Ich bin verunsichert, weil ich den Scherz nicht ganz verstehe. Oder hat er MMs verschwitzte T-Shirts gesehen? Die Tipps fürs Abnehmen werden auch wiederholt. Und dass man auch seine Grenzen kennen müsse, sowie akzeptiern, dass man nicht mehr so jung ist. Aufs Stichwort kommt die etwa vierzigjährige Tochter bei der Tür hereingestürzt und beginnt zu weinen. Ihr Mann wirft nur einen kurzen Blick in die Runde, der besagt: "Das kenn ich schon, deshalb hab ich jetzt da mit 100 Stundenkilometern raufdonnern müssen!" Die dünne Frau geht. Teresa sagt zur Tochter: "Möchtest du dir Salat mitnehmen?" Die Tochter schreit: "Ich bring dich um!", aber sie hört zu weinen auf und redet rasch auf ihre Mutter ein. Ich mache noch einen Scherz mit ihr und gehe auch, die unmittelbare Lebensgefahr ist ja jetzt gebannt.

In der ärgsten Mittagshitze pflücken wir die Weichseln, der Rallyefahrer ist verdrossen, sein großer Bruder trägt einen läppischen orangeroten Safarihut aus Plastik, den er vor ein paar Jahren in einem Überraschungsei gefunden hat. Ich entwende ihm den Hut und setze ihn selbst auf, ich bin das Gegengewicht auf der Leiter und mir fallen dauernd Weichseln auf den Kopf.
Am nächsten Tag erzählt Teresa, sie hätte am Sonntagabend noch Blutdruck gemessen und er wäre 90/60 gewesen. "Na stell dir vor, wie niedrig der morgens war!" Sie hat nun die Lösung gefunden, klar, alle wollen wir wissen, worunter wir leiden.
Der Rallyfahrer gesteht, er hätte lachen müssen, denn Teresa hätte immerzu "Mamma, Dio" gestammelt. "Und du, was hättest du gesagt, wenn du gestürzt wärst?" frage ich ihn. Ich hätte nur "Mamma!" gerufen, antwortet er vergnügt.

*Titel eines Liedes von Fabio Concato aus dem Jahr 1982

Donnerstag, 16. Juni 2011

Moments of Glory

Es gibt Momente, von denen man weiß, sie sind nur jetzt und morgen ist alles wieder genauso wie immer. Charlotte Wolff hat ein Buch mit dem Titel: "Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit" geschrieben, aber ich zweifle an dieser Aussage. Für mich sind es Fenster aus der Zeit, aus denen wir auf etwas schauen, was auch möglich ist. So ein Moment ist, wenn man das Resultat des Referendums erfährt, das Quorum ist erreicht und es fühlt sich an, wie wie wenn etwas Neues beginnen würde, eine vielversprechende Reise. Doch sie sind alle noch da, die schrecklichen Politiker und Journalisten und gleich sagen sie Dinge ohne Fundament.

Ein anderer Moment ist der, als auf einer dunklen Bühne das Licht angeht und dort steht ganz allein das Kind und beginnt mit strahlendem Lächeln trotz ewiger Zahnlücke entfesselt zu tanzen. Schluck. "Monday, Tuesday, Happy Days" heißt es in der wohlbekannten Melodie. Die kleinen Mädcchen kommen dazu, das Kind mimt Fonzie aus der Fernsehserie "Happy Days". Später ist es beim klassischen Ballett als Don Quijote in einem wunderbaren kleinen Kostüm zu sehen, in dem es aussieht wie ein Torero. Es gibt Zwischenapplaus, als er das leichteste der kleinen Mädchen in den Armen hält. Ihre Arme und Beine sind ballerinenartig gestreckt in der Luft. Davor Atemlosigkeit. Ich bin sicher, dass 500 Personen das Gleiche denken wie ich: "Jetzt lässt er sie fallen!"

Die vielen Fahrten in die Ballettschule sausen durch meinen Kopf, die vielen Male, die ich das Kind in die Strumpfhose gequetscht habe. Der Groll über Maria Assunta. Die vielen Kalorien in Form von Schleckern, die man dem Kind unmittelbar nach der Tanzstunde in den Mund stopfen muss, weil es sont augenblicklich schlecht gelaunt ist. Es hat sich gelohnt. Das ist ein anderes Kind, das ist ein Teil des Kindes, ein wunderbarer Teil des Kindes, der morgen nicht mehr da sein wird.

Unbekannte Menschen raunen: Wer ist denn dieses Kind?

Mein großer Sohn raunt auch: Das Kind tanzt wirklich gut, nicht wahr Mamma?

Wie eine Perle taucht der Moment langsam in den Ozean, versinkt und bleibt eine Erinnerung.

Am nächsten Tag werfen sich die Brüder bereits wieder Morddrohungen an den Kopf. Und ich hasse die Strumpfhose.

Dienstag, 7. Juni 2011

Referendum

Am 11. Juni hätte der Meilenstein der Geschichte des Theaters südlich der Alpen stattfinden sollen: Die Schulaufführung von "I promessi sposi", in der meine großen Kinder Don Rodrigo und L'Innominato geben. Aber: "Es findet ja das Referendum statt" blafft mich die Direktorin vor ein paar Wochen auf das Datum befragt an. Ich schrecke zurück. Referendum? Habe ich das einberufen? Müssen meine Kinder zu einem Referendum? Nein, die Schule ist Wahllokal ("Sie haben uns den 10., 11. und blabla genommen!" beschwert sich die Direktorin. So eifrige Lehrer gibt es selten.) Am 11. Juni ist offiziell Schulschluss. Meine Kinder werden die Aufführung am 19. haben und an jedem Tag, an dem die Schule weder vorbereitet wird, noch als Wahllokal dient, noch wieder geputzt wird, proben, proben, proben. Außerdem werden sie, da sie in diesem Jahr Null Turnstunden hatten, Jugendspiele abhalten (da dürfen sie dann endlich laufen!). Aber es werden, anlässlich der feierlichen Begehung von 150 Jahren Einheit Italiens, Spiele sein, wie anno dazumal. Sackhüpfen. Für uns heißt das: Jutesäcke besorgen (neben den Theaterkostümen). Erstaunlicherweise gibt es keine Jutesäcke mehr. Aber die weißen, geflochtenen Plastiksäcke, in denen heutzutage Tierfutter transportiert wird, will der Herr Lehrer nicht.
In diesen Tagen muss ich oft an einen Satz von Hans Magnus Enzensberger denken: "Das Gegenteil von gut ist gut gemeint". Ich kann diesen Satz aber nicht ins Italienische übersetzen und daher versteht MM meine Genialität (nämlich die, Enzensberger zu zitieren) nicht.
MM freut sich auf den 12. Juni. Er wird früh aufstehen, frühstücken und anschließend zum Referendum gehen. Er wird einen Trendsetter abgeben. Befragt werden die Menschen, ob die Verwaltung des Wassers in öffentlicher Hand bleiben soll (soll es nämlich nicht, und man muss ein bereits bestehendes Gesetz außer Kraft setzen), ob Italien atomfrei bleiben soll (soll es nämlich nicht) und ob man Politikern Gerichtsprozesse machen darf (was nämlich aus Gründen der Immunität nicht gehen soll). Das Referendum ist also nicht nur eine Möglichkeit der Bürger, Stellung zu beziehen, sondern durchaus dringlich für die, die nicht wünschen, dass Herrn Berlusconis Freunde unser Trinkwasser verwalten und verkaufen, dass Herrn Berlusconis Freunde Atomkraftwerke bauen und Herr Berlusconi selbst sich vor Gericht nicht verteidigen muss. Unumgänglich für eine Bewertung des Referendums ist die Teilnahme von 50% aller Wahlberechtigten plus eine Person, das sogenannte Quorum, das erreicht werden muss. Es wäre zu schön. Sarebbe troppo bello!

Mittwoch, 1. Juni 2011

Keine Rosen, nur Dornen

"Sie wird diesem Mann verzeihen, so wie sie Lorenzo verzeihen wird. Du kennst sie doch. Sie macht das nicht, weil sie so ein guter Mensch ist, sondern weil sie die Freiheit liebt. Der Groll ist wie eine Eisenkugel am Fuß, und sie ist eine, die rennen will." So oder so ähnlich schreibt Olivia Corio in dem Roman, den ich gerade fertig gelesen habe, er heißt "Colpiscimi", was ich jetzt gerade nicht übersetzen kann, da ich nämlich vom Groll übermannt bin. Könnte ich ihn ablegen, wäre ich weniger müde, davon bin ich überzeugt. Vielleicht bin ich nicht so freiheitsliebend wie Mariasole, die Heldin des Buchs, die 90% der Seiten im Koma verbringt. Meinen Groll hat Maria Assunta verursacht, die Tanzlehrerin des Kindes, von der ich noch bis gestern behauptet hätte, sie sei der ernsthafteste Mensch südlich von Bozen bis nach Tamanrasset. Jetzt möchte ich sagen, dass sie genauso ist, wie alle anderen und ich merke, dass mir die letzten Wochen geballten Italientums zugesetzt haben. Ich kann nicht mehr. Ich brauche eine Auszeit, ich brauche einen Kulturwechsel.
Ich muss hier die Schule anrufen, um zu erfahren, wann meine Kinder aus haben, später werde ich aber ohnehin angerufen, dass sie vier Stunden früher abzuholen sind. Das passiert zwei bis drei Mal pro Woche. Ich plane etwas, ich plane alle Eventualitäten ein, aber es gibt immer eine Variante, die ich nicht bedenken konnte. Ich breche meine Arbeit ab, bitte meine Schüler um Verzeihung, arbeite die verlorene Zeit später ein. Wir leben alle für den Tag, nicht für die nächste Woche. Was bei der Regierung beginnt, setzt sich bis zu meinem Mikrokosmus fort.
Eine beruhigende Ausnahme war die seriöse junge Tanzlehrerin, die immer gut vorbereitet ist und rechtzeitig höfliche Briefe schreibt.
Rückblende: Vor zwei Wochen kommt das Kind um fünf Uhr nachmittags nach Hause und sagt: Morgen musst du mich um elf Uhr zu einer Tanzprobe von der Schule aus bringen, wir tanzen Tarantella. Das sind die Sätze, die ich liebe. Ich greife nur nicht nach einem Maschinengewehr, weil ich immer daran denke, dass meine Freundin in der hochzivilisierten mitteleuropäischen Großstadt eines Tages von ihrer Tochter gesagt bekam, sie, die Tochter, müsse übermorgen in einem Leopardenkostüm in der Schule erscheinen, und das im Mai. Meine Freundin hat am nächsten Tag das Leopardenkostüm in einem Second Hand Shop gefunden, es schnell gewaschen und die Lehrerin gefragt, ob sie noch alle Tassen im Schrank hat. Die Lehrerin hat sich entschuldigt. Der Unterschied zu mir ist also nicht SO groß. Ich lebe in keiner Großstadt, habe immer nur bis morgen Zeit und die Lehrerinnen halten sich für völlig normal.
Aber da das Kind gerne tanzt, nehme ich mir am nächsten Tag um elf Uhr Zeit und gehe zur Schule. Ich erfahre, es handelt sich um Proben für eine festliche Aufführung anlässlich des hundertsten Jahrestags der Gründung des Ortskerns der Marina, nachdem die ursprüngliche Siedlung von einem Erdbeben zerstört worden war. Ich erfahre, dass ich das Kind drei Mal pro Woche zur Probe bringen soll, immer am Vormittag. Ich bin irgendwie erschlagen, aber auch enthusiastisch. Das Kind läuft aus der Klasse, gefolgt von seiner Freundin, einem Mädchen, dessen Beschäftigung es bereits mit 9 Jahren ist, sich in alles einzumischen. "Ich kann nicht zur Probe!" ruft das Kind, atemlos, sekundiert von der eifrigen Freundin, "Wir, die wir bei Maria Assunta sind, können nicht, wegen des Balletts!" Ich beruhige das Kind:"Jetzt bin ich schon mal da, gehen wir zur Probe und fragen später Maria Assunta, wo die Unvereinbarkeit liegt." Im Auto weint das Kind, aus Aufregung, aus Angst, etwas Unrechtes Maria Assunta gegenüber zu tun. Seine Lehrerin hat mir erklärt, dass es ausgewählt worden war, an einer Gruppe Tarantellatanz teilzunehmen, andere Kinder singen, andere machen gar nichts. Tarantella ist der hier übliche Volkstanz und es gefällt mir sehr, dass das Kind seine Zeit mit Tarantella statt mit Mathematik verbringen soll. Selbst MM tanzt auf entzückende Weise Tarantella. Ich will die Fähigkeit zu diesem Tanz auch in die DNA des Kindes einprägen. Das Kind hört auf zu schluchzen und wird von mir in einen Saal mit vielen anderen Kindern entlassen. Während der Tarantellastunde telefoniere ich mit MM. Wir sind uns einig, dass es keine Diskrepanz zwischen der Ballettstunde und der Tarantella geben kann und dass wir uns mit anderen Müttern organisieren werden, um das Kind am Vormittag diese Proben absolvieren zu lassen. Nach der Probe ist das Kind aufgelöst und glücklich und ich telefoniere viel und schaue in meinen Kalender. Am nächsten Tag spreche ich mit Maria Assunta, sicher, dass das Problem nur im Kopf der kleinen Freundin existiert. Weit gefehlt. Die sanfte Maria Assunta hebt die Stimme: "Ich kann niemandem verbieten, dort hin zu gehen, aber die Aufführung der Tarantella ist am 9. Juni und bei uns ist die letzte Probe am 9. Juni und wer nicht zur Probe kommt, der darf an meinem Ballett nicht teilnehmen." Auf meiner Stirn leuchtet in Neonfarben die Schrift "110 Euro, in zwei Raten zu 55 Euro für Kostüm Modern und Kostüm Klassisch" auf und ich unterbreche den Redestrom Maria Assuntas kühl. "Dann ist es ja klar." Maria Assunta sagt, sie hätte ein Jahr für ihr Ballett gearbeitet. Ich sage: "Wir auch." Sie sagt, Tanz werde nie ernst genommen, nur wenn es darum ginge, etwas aufzufüllen, sei Tanz plötzlich wichtig. Aber Tanz sei Arbeit und sie arbeite das ganze Jahr und sie sehe nicht ein, wieso dieses Aufführungen immer dann seien, wenn ihr Ballett stattfinde. Aha, das ist also nichts Neues, denke ich. Ihr Ballett wurde tatsächlich bereits um Weihnachten angekündigt und das Leben unserer erweiterten Familie kreist um dieses Datum. In Kürze werden wir zu beten beginnen, dass das Kind nicht krank wird. Ich finde, dass mich Maria Assunta unter Druck gesetzt hat und sie ist mir nicht mehr so sympathisch, aber ich respektiere ihre Arbeit und ihre Ernsthaftigkeit. Das Kind hat mitgehört und beteuert, es mache gar nichts, wenn es nicht mehr Tarantella üben geht. Ich denke, ich muss jetzt nichts mehr organisieren und so hat sich die Sache für mich erledigt.
Bis gestern.
Als ich in der Ballettschule das Kind abholen will, erfahre ich, dass am Donnerstag eine Lektion stattfindet, obwohl es sich um einen Feiertag handelt. Ja, sagen die beiden Mütter, die dort ebenfalls warten, Maria Assunta will den 9. Juni einarbeiten, an diesem Tag ist die Probe abgesagt. WAS?????? Von den anderen beiden Müttern, deren Töchter in die selbe Klasse wie das Kind gehen, erfahre ich, dass unsere Kinder die einzigen seien, die nicht an der Tarantella teilnehmen, andere Kinder der Ballettschule gingen sehr wohl zu beiden Veranstaltungen. Ich möchte mit Maria Assunta sprechen, aber sie ist im Gespräch mit einer anderen Frau, die auch sehr rasch aufgestanden ist, als sie gehört hat, dass (Ironie des Schicksals), die Tarantella vom 9. auf den 8. Juni verschoben wurde. Ich frage mich auch, woher die Leute das alles wissen. Ich schaue in der Bar jetzt manchmal auf die Lokalseite in der Zeitung, aber es hilft nichts, wer nicht regelmäßig eine halbe Stunde vor Schulschluss vor der Schule steht, um sich allen Tratsch anzuhören, wird in diesem Ort immer außen vor bleiben. Dann beschließe ich, nach Hause zu gehen, um mit MM zu sprechen. Seit fast 16 Jahren versucht MM mir beizubringen bis 10 zu zählen, bevor ich losdonnere und ich treffe ihn verschwitzt und mit Erde auf dem Hemd an, da er gerade den Garten bewässert hat: "Ich brauche ein therapeutisches Gespräch!". Wenn MM mich lächerlich findet, ist es fast angenehmer, als wenn er findet, jemand hätte ein schweres Unrecht an mir (an diesem Fall an unserem Kind) verübt. Schweres Unrecht begehen ja seiner Meinung nach nur die Herren (und Damen) rund um unseren Premierminister und ich habe mich schon ein bisschen daran gewöhnt, über diese Riege nur noch zu lachen. Ich bin überrascht, wenn aus Europa Verweise gegen Berlusconi kommen. Und jetzt hat Maria Assunta uns mit derselben Verachtung behandelt, wie Berlusconi die hirnlosen linken Wähler, die aus Milano eine Stadt der Zigeuner machen werden und die größte Moschee Europas dort errichten (womöglich an Stelle des Mailänder Doms...).
An diesem Abend versuche ich alles, um nicht immer daran denken zu müssen, dass Maria Assunta auch eine von denen ist, die schamlos mit der Zeit anderer Leute umgehen, die die glauben, dass ernsthafte Menschen sowieso eine Schraube locker haben. Die versuchen sich zu bereichern, egal an wem, Hauptsache bereichern. Die, die an heute denken, aber nicht an morgen.
Schlussendlich schreibe ich in meinen Kalender einen Termin nach der Ballettaufführung: Mit Maria Assunta reden. Ich hätte den Termin lieber schon heute in meinen Kalender gesetzt. Rancore heißt Groll auf italienisch. Aber ich werde ihr gegenüber das Wort Delusione, Enttäuschung gebrauchen.