Samstag, 27. Februar 2010

Primavera

Auf der Baustelle wuseln die Maurerjungs beglückt außen herum, endlich Sonnenschein, endlich kein Schlamm mehr, endlich wird verputzt, sie stehen nicht mehr zu fünft in einem Zimmer. MMs Arbeitszimmer ist fertig und ich bin neidisch. Da die Steinwände nicht gerade sind, sondern sich nach oben verjüngen, enstehen Nischen. Die für die kalabresische Architektur typischen Ausnehmungen in den Mauern, in die die Arbeiter früher die Gerüstbalken gesteckt haben, kamen zum Vorschein und geben dem Zimmer etwas Aufregendes, das ihm mit Verputz so sehr gefehlt hat, dass ich es nie als Arbeitszimmer wollte, was mir jetzt leid tut. Aber gut, ich habe das rosa Zimmer und eine Zukunft im Schweinestall. Ein junger Mann hat uns zum Thema Solarenergie beraten und heute ist ein Tag, an dem man schreien möchte: her mit der Solarenergie, koste sie was sie wolle. Da der untere Schweinestall, auf dessen Dach die Solarzellen installiert werden sollen, noch nicht im Kataster steht, können wir das aktuelle Supergoofy-Angebot des jungen Mannes nicht nutzen, aber wir haben ohnehin schon auf jeder Flamme einen Topf stehen, vielleicht muss ja nicht alles auf einmal passieren.

Entflammt sind alle, allen voran meine Buben, die am Samstag bei einer Riesenparty eingeladen waren und gestern Besuch von ihren drei Freundinnen hatten. Bereits vor dem Mittagessen steckte mir der verlobungsunwillige zukünftige Rallyefahrer zu, dass er mir was sagen müsse, aber nicht könne, weil ich sonst in Ohnmacht fallen würde....
An der Strandpromenade gröhlen die Jugendlichen ausgelassen, Motorräder heulen bis spät nachts durch die Gegend und tagsüber ist die Sonnenbrille endlich wieder im Dauereinsatz. Also beschließe auch ich, dass mir zu meinem Glück oder Eustress nur noch ein Geliebter fehlt. Da mein perfekter Ritter aber Qualitäten haben müsste, die nur ein überirdisches Wesen in der Gestalt eines Mannes aufweisen kann, muss ich ihn mir nun erfinden:
Er darf nur auftreten, wenn es für mich opportun ist, er darf keinerlei Ansprüche stellen, er darf nicht sein Leben mit mir teilen oder neu beginnen wollen, er darf nicht allzu viel aus seinem Leben erzählen, soll sich im Gegenzug aber alles aus meinem Leben anhören. Er muss Verständnis dafür haben, dass ich wenig Zeit habe und nicht immer am Telefon antworten kann. Er soll möglichst wenig Ticks haben, besonders häufiges Räuspern oder Krachen mit den Fingerknöcheln ist ein Ausscheidunsgrund. Er soll maßlos sein, ohne je die Grenzen zu überschreiten. Er soll im richtigen Moment anrufen und sagen: "Ich stehe im Supermarkt und ich liebe dich so sehr, dass ich sterbe, wenn ich dich nicht innerhalb der nächsten 24, 48, 96 Stunden (oder auch innerhalb einer Woche) sehen kann." Das reicht eigentlich. Von mir aus kann er immer im Supermarkt stehen und mir sagen, dass er mich liebt. Das verhindert, dass er in unangemessenen Augenblicken allzu anzüglich wird. Vielleicht sollte er der Einfachheit halber in einem Supermarkt arbeiten?
Er muss sehr gewieft sein, damit ich nicht drauf komme, dass mein Ehemann eventuell charmanter als er ist, oder gar meine Kinder. Und meine Kinder sind schwer zu toppen: "Mamma, ich liebe dich so sehr, dass ich dich fast heiraten möchte."

Ich überlege, ob es besser wäre, einen Brieffreund als Geliebten zu haben, zumal ich gestern Daniel Glattauers Buch "Gut gegen Nordwind" auf italienisch übersetzt in der Buchhandlung gesehen habe, worauf ich dieses Buch zum ersten Mal interessant fand. Auf dem Einband stand, dass Schreiben wie Küssen ist, nur ohne Lippen, oder so ähnlich. Diese Ansicht teile ich nicht, da ich auf Stimmen abfahre. Ich kann mir gut vorstellen, durch halb Italien zu fahren, um den Telecom-Mitarbeiter mit der erotischen Stimme kennenzulernen oder um festzustellen, ob der Techniker (noch immer Telecom), der meine ADSL-Leitung zum Funktionieren gebracht hat, auch in anderer Hinsicht ein Mann ist, dem ich mein Schicksal in die Hände legen möchte.
Margaret Atwood schreibt, dass nicht der Sex das Problem ist , sondern die Sprache. Ich nehme an, sie meint die gemeinsame Sprache, aber ich denke an die Sprache an sich. Der Geliebte muss also mit aufregender Stimme grammatikalisch einwandfrei und inspiriert sprechen. Kann ich das von einem Supermarktmitarbeiter erwarten?
Mein idealer Geliebter soll mir gute Ratschäge geben, aber nur, wenn ich sie hören will. Er soll keine Ratschläge von mir wollen und mich nicht in die Situation bringen, dass ich welche geben will. Er soll kompetent in seinem Arbeitsbereich sein, aber auch im öffentlichen Raum ein gute Figur abgeben. Ich will ihn nur so oft sehen, dass ich seine Eigenheiten nicht mitbekomme. Ich will nicht bei ihm zu Hause sein, außer er ist Junggeselle und die Putzfrau ist gerade erst gegangen. Er soll kein Freund von meinem Mann sein und seine Frau soll nicht meine Freundin sein. Wenn es leicht geht, soll er nicht zwanzig Jahre jünger als ich sein. Wenn er zwanzig Jahre älter als ich ist, soll er nicht übergewichtig sein.
Und sonst? Er soll freundlich sein und das bitte immer. Er soll oft lachen (aber nicht blöd, sondern weil ich so lustig bin!).

Ich werde ihn nicht suchen, ich weiß, dass ich ihn nicht finden kann. Aber ich werde mich umschauen und einen Probeflirt beginnen. Ich habe letzthin schon einem Mann in einem original Alfa Romeo Giulietta zugewunken. Das Auto hat er wahrscheinlich gekauft, als er jung war. Jetzt muss er um die 80 sein. Von ihm kann ich mir schlecht erwarten, dass er mir sagt, er stirbt, wenn ich ihn nicht erhöre. Ich glaub, ich lass es. Zum Glück ziehen schon ein paar Wolken auf.

Donnerstag, 25. Februar 2010

Umzüge und Familienverhältnisse

MM und ich streiten um den ersten Platz im Leiden. Ich finde, ihm geht es gut, da er seinen Tag mit 7 (sieben!) Maurern und 3 Elektrikern verbringt, während ich heute zwei unterschiedlich, aber gleich stark parfümierte Herren begrüße, die einen Kostenvoranschlag für den Umzug machen. Der erste hat keine Angst vor dem Hund und sagt, seine Tochter hätte auch zwei Hunde und sie hätte gesagt, sie hätte die Hunde lieber als ihn. Ich sage: "So kann's einem gehen."Der zweite hat Angst vor dem Hund. Beide haben sie Angst vor den Büchern. Der erste ist cooler, er ruft mich nach seinem Besuch noch mal an und sagt, es sei ihm eingefallen, dass er ein Archiv mit Plastikkisten übersiedelt hätte, die könne ich schon vorher haben, um die Bücher einzuladen. Der zweite ist fassungslos: "Avete tanti libri, da paura!." Ich hätte ihm sagen sollen, dass er die Bücher nicht lesen, sondern nur transportieren soll, aber ich bin müde. "Das sind 300 Kartons voll Bücher", sagt er mit vor Entsetzen geweiteten Augen. "Das kostet allein 300 Euro für die Kartons!" Ansonsten will er noch 2300 Euro, denn der Umzug dieser Bücher würde drei Tage dauren, und das Haus sei mit einem LKW schlecht zu erreichen. Wenn ich die Bücher selber einpacke, kann ich mir 600 Euro sparen. Diese Arbeit war dem ersten 500 Euro wert, aber der hat das ganze Unterfangen nur mit 1700 Euro veranschlagt. Wenn ich die Bücher selber packe. Und immer die Schwierigkeiten mit dem Transport...Hierher kann nur ein kleiner Transporter kommen, der die Kisten dann in einen schönen großen LKW bringt. Und dabei haben sie noch nicht die Zufahrt zu unserem neuen Haus gesehen, die Straße, auf der nur ein Auto fahren kann. Da lob ich mir doch wieder unsere tapferen Maurer und den Baumateriallieferanten, die ihre LKWs dort hinschaffen und dort auch stoisch wenden. Der zweite parfümierte Herr meint, wir hätten 96 Kubikmeter Bücher, was ein Blödsinn sein muss. Wie geht das auf 110 Quadratmetern Wohnfläche? Und dass der Umzug drei Tage dauern würde, das sagen sie mir alle beide.

MM ist genervt. Von den Parfümierten, von mir, von dem, was ihm tagsüber passiert ist, was ich nicht weiß. Ich sage:"Bleib ganz ruhig, wer hat denn all die Bücher hierher geschafft?" "Du." antwortet er wahrheitsgemäß. Die eigentliche Umzugsspezialistin bin nämlich ich. Und ich werde das Ding schon schaukeln. Mit Stefano. Im Grunde genommen mit allen willigen Hilfskräften, außer mit meiner Putzfrau, die es schafft, sogar das Buch, das mir abends aus der Hand fällt, ins Regal zu ordnen, so dass ich es nie wieder finde. Besonders gern ordnet sie Bücher mit dem Rücken nach hinten ein.

Als der Parfümgeruch nur noch schwach in der Luft hängt und ich erfahre, dass des Obermaurers genialer Obersohn den Feinputz anbringt, die Glasziegeln gesetzt sind und die Elektriker einen Schlauch falsch verlegt haben, frage ich harmlos: "Und Skandale? Tratsch?" Ich weiß nämlich, dass die Testosteronbande in meiner Abwesenheit intime Details austauscht. Großartige Dinge, die mich auf eine Zukunft hoffen lassen: der junge Elektriker und der schöne Maurer Adriano leben mit einer Frau zusammen, ohne verheiratet zu sein. In Kalabrien undenkbar, zumindest denken das eben alle. Seit ich hier lebe, und das werden heuer 15 Jahre, hat es viele Hochzeiten gegeben ( zum Glück habe ich nicht an allen teilgenommen), wenig Trennungen und kein einziges "uneheliches" Kind. Ich kenne wenig Leute, die ein "Zusammenleben" fühen, aber einige, die behauptet hätten, sie würden nicht in der Kirche heiraten, und wenn dann nur als unbeteiligte Partner ihres katholischen Ehepartners (wenn sie drauf besteht...), aber keinen, der es ausgeführt hat. Sogar meine junge deutsche Freundin, die in Deutschland aus der Kirche ausgetreten ist, besucht nun den Katechismus und bereitet sich auf das waschechte kalabresische Hochzeitsevent vor, für das man sich entweder hoch verschuldet oder so lange drauf spart, dass einem eigentlich die Lust abhanden gekommen ist. Wo gibt es noch eine Messeausstellung für Bräute, wo boomen noch Bekleidungsgeschäfte "für den schönsten Tag des Lebens?". Wo sonst kann eine ganze Generation von Fotografen von der Herstellung dramatisch inszenierter Hochzeitsalben leben. Und die Friseure, die Blumenläden, die Restaurants, die für ein Hochzeitsessen für 300 Personen (kleiner Kreis) pro Kopf mehr verlangen, als wenn jeder à la carte essen würde? Die Priester, denen die kleine "bustarella" (das Kuvert mit dem Geld) zugesteckt wird. MM hat mir erzählt, dass ihm und seinen Geschwistern jeweils neue Kleider für eine Hochzeit gekauft wurden und deren gab es einige pro Jahr. Und er meint damit nicht ein neues Paar Jeans. Und die Reisebüros, die die Kreuzfahrten als Hochzeitsreise verkaufen? Die könnten zusperren, wenn die Kalabresen alle dem Beispiel unserer beiden Handwerker folgen würden. Wissen die eigentlich, wie sehr sie der hiesigen Wirtschaft schaden?
Die meisten meiner verheirateten Freunde haben irgendwann die Augen gerollt, wenn man das Thema Hochzeit erwähnte und dann haben sie sich alle eine Kirche oder gleich den Dom ausgesucht. Den Eltern zuliebe. Meiner deutschen Freundin scheint man gar eingeredet zu haben, dass es eine standesamtliche Ehe in Italien nicht gibt.
Und natürlich gibt es kein Zusammenleben vor der Ehe. Die Wohnung muss neu und tipptopp sein und bitte nicht gemietet, sondern Eigentum. Vor der Eheschließung haben Mutter und Schwiegermutter viel zu tun, denn sie müssen das Schlafzimmer herrichten, das Bett überziehen und Blumen drauf streuen etc. Aber das Leintuch wird meines Wissens nicht nach der ersten Nacht auf jungfräuliche Blutspuren untersucht.
Unsere Nachbarn in dem Ort, in dem wir noch wohnen, haben kürzlich eine Tochter verheiratet. Die Tochter ist Architektin, der Mann ist auch Architekt. Die haben eine echte Grenzüberschreitung gemacht, denn während sie auf der Kreuzfahrt waren, wurde erst die Wohnung in der Stadt fertig gestellt! Und für dieses Event haben sie sich jahrelang zurückgehalten und/oder im Auto miteinander geschlafen. Und jetzt kommt die berühmte Zahnpastatube. Was für eine Einsamkeit.

Bei diesen coming outs macht sich MM wichtig und sagt, er hätte auch vor seiner Heirat "zusammengelebt". "Aber mit der Signora?!" fragt der Obermaurer ängstlich. Sodom und Gomorrha in Reichweite. Gratulation den Damen dieser coolen, unkonventionellen Jungs und umgekehrt.

Und dann gibt es den sprichwörtlichen "Mammone", der aus dem Film "Tinguy", der einfach den elterlichen Haushalt nicht verlassen will. Eigentlich ist er unverlobt (schon der Ausdruck für "eine Freundin haben" spricht Bände), aber selbst wenn er eine Freundin hätte - wie soll er es denn schaffen, ein eigenes Haus auf die Beine zu stellen, die sündteure Hochzeit und anschließend seine Stromrechnungen zu bezahlen?

Ich weiß wenig über das Begehren in den süditalienischen Haushalten. Ich habe eine Freundin, die Mutter eines Schulfreundes meiner Kinder, die "getrennt" lebt. Sie hat mit einem ebenfalls getrennten Mann zusammengelebt, was aber nicht gut funktionierte. Jetzt treffen sie sich mittels chat. Früher habe ich manchmal eine Frau neben einem Mann im Auto gesehen, die Frau hatte eine Zeitung vor dem Gesicht. Mir fiel das nur auf, weil ich immer dachte, mir würde schlecht werden, wenn ich beim Autofahren Zeitung läse. (Und noch dazu die Sportzeitung). Irgendwann wurde mir klar, dass es sich um Tarnung handelt, Ehebruch also, sehr spannend.
Meine Freundin steht immer noch auf den Ex. Wenn sie mehr lesen würde, würde sie weniger leiden, denke ich. Aber dann hätte sie viele Bücher und könnte nicht übersiedeln.

Das Ziel der Mütter ist es, die Söhne unter die Haube zu bringen. In der Schultasche meines achtjährigen Sohns finde ich Zettel, auf denen steht: "Giorgia, Miriam und Luigia, ihr seid wunderschön. Ich liebe euch." Glaubt er, dass das gutgehen kann? Wahrscheinlich nicht, sonst hätte er den Zettel abgegeben. Der zwölfjährige Sohn organisiert zu meiner allergrößten Überraschung einen Wettbewerb in seiner Klasse für das hübscheste Mädchen. Und morgen findet im Ausgleich der Wettbewerb für den hübschesten Jungen statt. Also morgen früh aufstehen und Gel ins Haar schmieren. Nur der Zehnjährige bleibt seinen Prinzipien treu und brummt: "Ich will kein Verlobte. Ich werde schnelle Autos fahren und früh sterben." Amore di Mamma.

Dienstag, 23. Februar 2010

Dialog an die Palme

Es tut mir leid, dass ich ihren Sohn nie einlade, sage ich gestern zur Mutter des besten Freundes unseres ältesten Kindes, aber wir leben von einem Tag zum anderen und ich sei nicht in der Lage, etwas zu organiseren. Wir leben von einem Tag zum anderen - klingt ein wenig nach Wohnwagen. Aber es ist so und heute war wieder einer dieser Tage, an denen am Vortag alles anders geplant war. Beim Frühstück um 6.15 schaut MM drein wie ein Kanaldeckel, mir geht es gut, denn das jüngste Kind hat mir gestern die Freude gemacht, mich in sein Bett einzuladen, in dem ich sofort eingeschlafen bin. Der Kanaldeckel braucht einen Tag Auszeit und ich fahre unverhofft und durchaus vergnügt auf die Baustelle auf der ich echten Ramba Zamba vorfinde. 4 Maurer, 3 Elektriker und 1 Installateur. Langsam wirds eng mit dem Platz. Da ich aber noch immer unter den Einwirkungen des Kulturschocks mit MM stehe, rede ich nicht viel, murmle einen unfreundlichen Gruß und begebe mich ins rosa Zimmer. Dort funktioniert die ADSL-Leitung schlecht, der Strom fällt auch aus und als ich wütend die Tür aufreisse, stehen schon ein Elektriker und ein Installateur vor dem Sicherungskasten. Wenn der Strom weg ist "siamo fottuti - a dir poco" (sind wir am Arsch, um es höflich auszudrücken), sagen die Jungs. Dann beginnt es auch noch in Strömen zu regnen. Der Regenschirm ist im Auto und das ist weit. Ich habe Lust, die Tür noch mal aufzureißen und den nächsten, der vorbeigeht, anzuschreien. Aber der Strom kommt wieder und auch die ADSL-Leitung. MM telefoniert aus seinem Krankenbett und ich gehe mit dem Telefon durchs Haus und hole Infos ein. Da es so viele Männer sind, die hier arbeiten, frage ich einen: "Sind die Elektriker hier?" "Ich bin Elektriker", sagt der Mann, aber woher soll ich das wissen, schließlich steht er im Badezimmer.

MM will auch den Obermaurer sprechen und als der mir das Telefon zurückgibt, startet er die voraussehbare unvermeidliche Attacke:"Was sagen sie zu der Wand?" Mittlerweile sind einige Wände fertig und sie schauen aus, als ob gleich der Fotograf der Zeitung "Glückliches Wohnen im Landhaus" käme. Die grenzenlose Loyalität zu MM läßt mich "Mhmmhm" grummeln. Er hat mich im Schlepptau. Wir starren eine Wand im Kinderzimmer an. Im Zentrum des Raums sind der Zement und der Sand oder Schlamm, ein Gemisch, das aussieht wie Dinosaurierscheiße, mit dem die freigelegten Steine verbunden werden. Der Architekt hat gesagt, sie müssen mehr Sand nehmen, sonst wird es zu dunkel. Da ich nichts zur Wand sage, wechselt der Obermaurer das Thema und wir reden über das Wetter, das wirklich einiges hergibt. In diesen Tagen reden alle über das Wetter, aber nicht einfach so. Es macht uns fertig. Es hört nicht mehr zu regnen auf. Man kann nichts mehr tun, schon gar kein Haus bauen. Vielleicht kann man Rechtsanwalt sein oder in einer Bank arbeiten. "Auch das Gewand trocknet nicht", sagt der Obermaurer mit Blick auf seine Mitarbeiter. Hängen die alle die feuchten Arbeitshosen bei ihm auf? Mir braucht er da nichts zu erzählen. "Immer diese Wäscheständer in der Wohnung, das geht gar nicht mehr."
Aber er denke immer daran, dass es vielen schlechter ginge auf dieser Welt. Und nicht mal so weit weg. Ich sage, ich hätte gestern mit einem Typen vom Umzugsservice telefoniert, der gerade einen Umzug für Leute aus einem Erdrutsch machte. Das sind die echten Probleme, darüber sind wir uns einig. Ich schaue zu unserer Decke, die wir immerhin noch über dem Kopf haben.
"Geht es um die Möbel?" will er wissen. "Nein, es geht um die Bücher." Er kann nicht wissen, dass wir außer ein paar Küchenschränken, 2 Tischen, Stühlen und ein paar Kommoden keine Möbel besitzen. Zumindest tut MM immer so, als hätten wir keine Möbel. Wir haben doch auch Betten.
Im Süden ist es schwierig, sagt er. Und es gibt keine Perspektive, sage ich. Die Jungen haben keine Zukunft. Und ohne Matura ist man heute gar nichts, sagt er. Das muss er jetzt sagen, weil er keine hat und ich von Büchern geredet habe. Ich sage, aber an der Uni sind viele Studenten, die gar nicht qualifiziert sind, sondern nur einfach noch ein paar Jahre untergebracht. Und das stimmt. Und was machen die dann? Mit 25 einen Handwerkerberuf zu lernen ist erniedrigend, sagt er. Und mit 30 sollte eine Frau eine Familie gegründet haben, und ein Mann auch. Aber ein Handwerker zu sein, ist doch besser als ein Akademiker ohne Zukunft, sage ich. Lieber Gott, lass meine Kinder glückliche Maurer werden!
Leider wollen meine Kinder, zumindest aus heutiger Sicht, rasende Autofahrer werden ("ich brauche keine Verlobte, ich werde Rallyefahrer und werde früh sterben"), Erfinder oder Lehrer und Erfinder gleichzeitig ("am Vormittag unterrichte ich, am Nachmittag erfinde ich").
Nach einer Weile Süden (ganz ohne Politik) sage ich: "Wir müssen das Thema wechseln, sonst bekommen wir Depressionen". Das kann er und es geht weiter. Immer wenn wir etwas Wichtiges oder nichts mehr zu sagen haben, starren wir die Palme vor dem nicht vorhandenen Fenster an. Er macht mir Komplimente zum Haus, das sicher eines der schönsten der Gegend würde, und dass die Leute hier leider nicht den Verstand hätten, es so zu machen, oder es sich nicht leisten könnten. Und manche würden sich zu weit aus dem Fenster lehnen. Da wird mir trotz des kalten Wetters heiß und ich möchte sagen: "Bauen Sie ihr Gerüst besser gleich ab, denn den Verputz können wir glaub ich eh nicht zahlen."

Ich sollte einen Ofen im rosa Zimmer haben. Ja, sage ich, ich dachte, der Winter gehe schneller vorbei und ich sei weniger hier.
Ich verschränke die Arme vor der Brust, er auch.
Er sagt, er sei von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends auf den Baustellen im Winter und im Sommer noch mehr. Ich starre ihn an. "Es ist, weil ich nichts anderes kann" sagt er mir direkt ins Auge. Ich müsste sagen: "Aber das können Sie verdammt gut." Aber er spricht weiter: "Ich mag die Natur und ich habe ein bisschen was angebaut, aber ich kann nicht einmal kochen."
(In einer Art flashback erinnere ich mich an meine Putzfrau, die angesichts der Tatsache, dass MM bügelt, meint, ihr Mann könne ein Bügeleisen nicht einmal einschalten. Ich bin versucht, ihr zu antworten:"Was kann der eigentlich?") Hier bin ich aber zutiefst entspannt und sage zur Palme: "Es geht doch gar nicht darum, etwas nicht zu können, sondern vielmehr darum, was einen interessiert." Es wäre auch nie notwendig gewesen zu kochen, sagt er, denn das mache schließlich seine Signora. Das wäre eigentlich meine Antwort gewesen, naja.
"Gehen wir wieder arbeiten", sage ich. "Ja", sagt er. "Ci siamo ricaricati". Wir haben uns wieder aufgeladen. Das kann er eigentlich nur für sich behaupten, aber auch mir geht es gut und nach einigem Nachdenken, erkenne ich, warum: er hat mich nicht unterbrochen. Alle, alle, alle Italiener unterbrechen einen dauernd. Meistens schreien sie "No!", wenn man beginnt, etwas auszuführen, denn sie wissen es besser. Oft berühren sie einen dabei am Arm oder an der Schulter. Manche kletzeln einem auch zerstreut Haare von der Jacke. Da Italiener meistens mit Italienern reden, berühren sie einander gegenseitig am Arm, schreien abwechselnd "No!", unterbrechen sich nach wenigen Worten, fuchteln mit den Armen in der Luft und drehen sich im dramaturgisch ausgewählten Moment vom Gesprächspartner weg, um mit dem Fuß im Staub zu scharren. Echte Italiener schaffen es, sich sofort nach einer Unterbrechung wieder einzubringen oder parallel zum Gesprächspartner zu reden oder Einsprengsel wie "Nein", "Schön wäre es, aber es ist nicht so!" und "Hab ich dir doch gesagt!" sowie "Hör mir zu, denn das weiß ich!" einzuflechten.
Das Gespräch zwischen dem Obermaurer und mir plätscherte gelassen vor sich hin, mit Pausen nach dem Gesagten, sicker sicker, dann sagt der andere was und so weiter. Ist das so, wenn man vor einer Palme redet?
Ich gehe ins rosa Zimmer und frage mich ob das outing von wegen, ich kann nichts anderes, im Gegenzug ein outing von mir verlangt. Ich bin sicher, er will wissen, was genau ich im rosa Zimmer mache.
Ich höre ihn singen. So aufladen wollte ich ihn nun auch wieder nicht...Dass Handwerker gerne singen, halte ich für eine nicht unbedingt notwendige Leidenschaft. Zumal schon zu Beginn des Tages einer der Arbeiter vor dem rosa Zimmer immer wieder den Reim eines Kinderlieds sang, das meine Kinder viel besser können: "Il coccodrillo come fa? è che nessuno non lo sa!" Niemand weiß, welche Geräusche ein Krokodil von sich gibt.

Samstag, 20. Februar 2010

Kulturelle Missverständnisse

Ein interessanter Nebeneffekt der Baustelle sind die anthropologischen und soziologischen Studien, die MM dort betreibt, ich bin leider zu wenig dort, um viel dazu beizutragen, aber lang genug, um Unruhe zu stiften. "Si tacuisses, filosofus mansisses" (Hättest du geschwiegen, wärst du ein Philosoph geblieben) ist einer der beiden lateinischen Sprüche, an die ich mich noch erinnere, der zweite heißt:"Nihil, nisi bene" (Nichts, außer das Gute). Den zweiten wende ich häufig an, den ersten vergesse ich dauernd. Dass ich also zum Obermaurer gesagt habe, dass die Steinwand schöner ist, als ich sie mir vorgestellt habe, wurde als: sie sah besser als auf den Fotos aus, weitergegeben, worauf MM zu OM sagte: "Na dann habe ich doch gute Arbeit geleistet, denn ich musste viele Zeichnungen anfertigen, um meine Frau zu überzeugen, dass freiliegende Steinwände toll sind." Der OM sagt zu MM: "Ach so? Ich dachte, die Signora hätte die Steinwände gewollt."

La Dattilografa versteht diesen Dialog nicht, aber sie hält ihn fest.

Was ich verstehe: MM lobt die Maurer nicht, sie wollen das von mir. Ich verstehe sie und lobe sie, meiner Meinung nach viel zu wenig.

Ich frage MM, wieso er sie nicht lobt. Er sagt, das sei so in seiner Kultur. Man darf einem Kalabresen nichts Gutes sagen, weil er sich augenblicklich so viel einbilden würde, dass er sich nicht mehr anstrengen würde. Siehe Putzfrau.

Tja, was soll man da tun? Jetzt habe ich mindestens fünf Tage hintereinander nicht ans Auswandern gedacht und nun das! Kanada!!!!

Vielleicht bin ich ja auch von den Kindern deformiert und will dauernd sagen: Bravo! Das hast du gut gemacht, weiter so! Alles falsch im kleinen Einmaleins? Macht nichts, das nächste Mal geht's besser.
Aber so bin ich gar nicht. Ich stehe da, als hätte ich der Putzfrau gesagt, sie sei eine unverzichtbare Perle, wäre dem Obermaurer um den Hals gefallen und hätte dem Tankwart "Danke danke danke fürs Selbertanken zu überhöhten Preisen" entgegengerufen und womöglich auch meine Schwägerin umarmt.
In meinem Selbstverständnis bin ich eine unfreundliche Misanthropin, aber offenbar ist sogar das relativ.
"Was hätte ich denn sagen sollen?", frage ich MM. Seine Antwort läßt vermuten, er hätte den Verstand verloren: "Du sagst einfach, du könntest es nicht beurteilen, man könne es erst sehen, wenn das Ganze fertig sei."
Ich sehe mich vor einer wunderbaren Steinwand stehen und sagen, dass ich nicht beurteilen kann, wie diese Steinwand aussieht. Ich sage: "Wissen Sie, diese Steinwand - ich weiß einfach nicht. Fragen Sie lieber meinen Mann."
Es gibt zwei Möglichkeiten: ich nehme mir einen Rechtswanwalt und klage MM wegen seelischer Grausamkeit oder ich nehme einen Kalenderspruch von Jesper Juul als Mantra mit in den Tag:
"Männer und Frauen haben eine so unterschiedliche Ausdrucksweise, dass es fast einem Wunder gleicht, dass sie einander wirklich verstehen."
An manchen Tagen tritt dieses Wunder nicht ein.

Aber ist es denn die Ausdrucksweise? Wenn ich sage: "Schön, gefällt mir", sagt MM dann:"Hmhm, mal sehen"? Ja, aber wegen der strategischen Kriegsführung. Die ist aus seiner Sicht auch ok, womöglich reißt ihm der OM wirklich die kleinen Zettel mit der Kostenaufschlüsselung aus der Hand und schreibt gleich eine Null dazu, weil der Signora die Wand gefallen hat.

Trotz dieser schwerwiegenden Uneinigkeiten suchen wir heute die Fliesen für die Badezimmer und für die Treppe (50 qm Klinkerboden!) aus und die Frau, die uns berät, ist wie eine Wahrsagerin, wie eine Therapeutin, die uns auf das Richtige zugehen läßt. Sie sagt: "Wenn ich es richtig verstanden habe, wollen sie wenige Materialien, um den Charakter des Hauses zu betonen." Sie führt uns weg vom ziegelroten Klinkerboden zu einem grauen, der eher was mit den Steinen zu tun hat und dem Haus sicher Leichtigkeit und Eleganz verleihen wird. Ich fühle mich auch schon leichter. Ihr ist es auch zu verdanken, dass ich MM verzeihe, dass er meinen kreativen Vorschlag, im Badezimmer einen orangefarbenen Streifen anzubringen, abgeschmettert hat. "Wenige Materialien" ist das Stichwort.

Erst wollte ich beleidigt NIE MEHR ein Wort zu den Maurern sagen, einen Gruß murmelnd vorbeigehen (eine Burqa könnte mir dabei helfen), aber mittlerweile verstehe ich, dass es wie so oft um "Il giuoco delle parti" (Dt.: wer das Spiel verstanden hat) geht. "Pirandello!" ruft MM manchmal mit dem Blick "Hast du es immer noch nicht verstanden?"

Freitag, 19. Februar 2010

La signora prende un'aperitivo

Eine Welle nicht gleich sichtbaren Erfolgs hat mich auf den Hauptplatz der Stadt geführt, wo ich nun im ersten Stock eines wunderbaren Cafès sitze und auf den zähflüssigen Mittagsverkehr schaue. Ich frage die Kellnerin, ob ich hier oben essen muss, oder ob ich auch nur einen Aperitif einnehmen kann und ob es stört, wenn ich meinen Computer auspacke. Sie gibt mir eine Antwort, die eine höflichere Formulierung von "Bitte machen Sie was Sie wollen, nichts ist mir gleichgültiger als das" ist, aber sie ist sehr nett und setzt mich neben die Steckdose. Manchmal liebe ich die italienische Wurschtigkeit.

Erster Erfolg: nachdem ich bereits frühmorgens an der Schwelle zu einem Wutanfall stehe (Immer ich, immer ich, immer ich habe keine Zeit zum Zähneputzen und schnappe mir parallel zu der im Dauereinsatz stehenden elektrischen Zahnbürste ein Vorgängermodell dessen Bürste kaum in den Mund passt, so groß ist sie) sagt ein Kind, als ich meinen Computer (schon wieder 7.15 statt 7.10) in den Kofferraum werfe: "Wie bist du schön!". Es wird benebelt von der Parfümwolke sein, in die ich mich zähneknirschend gehüllt habe, oder ist es, weil ich heute zum ersten Mal seit drei Monaten keinen Rollkragenpullover anhabe? Heute morgen wurden wir von 21 Grad überrascht, und bereits die zweite aus dem Kasten gerissene Bluse passt zur Hose. Ich bin also sehr milde gestimmt. Das Kind wird sicherlich einmal in die Politik gehen.

Zweiter Erfolg mit Hindernissen: ich komme auf unserer Baustelle an und muss das Auto rückwärts auf einer steilen Auffahrt parken. Der Motor stirbt dreimal ab, die Reifen drehen im Schlamm durch, beim Aussteigen muss ich fast aus dem Auto springen, so hoch steht es, ich hasse MM, der sich sowas blödes hat einfallen lassen, ich bin überzeugt, dass mir mindestens 8 Maurer zugeschaut haben, die sich in ihren völlig ungerechtfertigten Vorurteilen bestätigt fühlen, ich gehe also mit rotem Kopf durch "il fango", den Schlamm, der sich in diesen Tagen gebildet hat, springe über die großen roten Schläuche und rede mir ein, dass ich das mit dem Parken sehr gut hingekriegt habe. Vor der (grünen) Tür zum rosa Zimmer stehen der Obermaurer und Maurer Adriano, der in die Kunst der Steinwandrenovierung eingeführt wird. Der Obermaurer begrüßt mich mit veritabler Begeisterung:"Ooh, Signora!"Das ist aber noch nicht der Erfolg. Auch die wirklich wunderbare Steinwand rund um unsere Schlafzimmertür ist es noch nicht. Ich sage es ihm, sie ist schöner, als ich es mir vorgestellt habe. Ich sage: "Können Sie sich jetzt verwirklichen?" Er sagt: "Wie bitte?" Ich sage: "Ist es nicht schöner, solche Mauern zu machen, als Ziegelwände?" Jetzt versteht er mich, aber wahrscheinlich hat er Angst, er müsste nun mir was zahlen, wie Tom Sawyer, der sich beschenken ließ, um den anderen Jungs die Erlaubnis zu geben, den Zaun der Tante zu streichen. Natürlich macht ihm das mehr Spaß und am meisten hasst er Rigipswände, aber die Leute wollen halt schnell bauen und die wenigsten Maurer könnten überhaupt noch Steinwände machen. Alles was ich mir über diese Steinwände denke, fällt mir nicht mehr ein und ich sage also: "Na dann gute Arbeit noch." Er sagt: "Ihnen auch, Sie sind ja auch zum Arbeiten hier."
You made my day!!
"Oh ja", sage ich. Aber dass er das weiß?! Dass ein Mann wahrnimmt, dass eine Frau, die Stunden allein in einem Zimmer verbringt, arbeitet?!

Und jetzt hier im Cafè Renzelli mit einem Olivenkern im Mund, vor mir ein halb gegessener Aperitiv mit kleinem Bätterteiggebäck, Oliven, Salzmandeln und Chips. In einer halben Stunde muss ich zu arbeiten beginnen, hoffentlich vergesse ich nicht, hier wieder wegzugehen.

Gestern kam MM nachmittags heim und legte sich sofort aufs Sofa, das Kind, dankbar vor seinen mathematischen Problemen fliehend, zog ihm die Schuhe aus, da schlief er bereits. MM hatte auch mit seinem kleinen Hammer namens "Bicozza" Verputz von den Wänden geschlagen. Als er wieder aufwachte, erzählte er, dass jetzt das Haus zu erkennen wäre. Auch der Obermaurer und der Architekt würden es schön finden. MM scherzte, er könne es ihnen ja verkaufen. Der Architekt meinte, es gäbe viele alte Häuser zu renovieren. Ich sage, na dann können sie ja loslegen, der Architekt und der Obermaurer, nachdem wir den Prototyp geschaffen haben. Oder gefiele das den Leuten nicht? MM glaubt, dass es allen Männern gefallen würde, aber den Ehefrauen nicht. Ich bin beunruhigt.
Aber es stimmt gar nicht, dass es so viele alte Häuser zu renovieren gibt. Alte Häuser gibt es zwar genug, aber sie werden nicht verkauft. Weil für die 7-8 Erben einzeln wenig rausschaut. Die lassen dann lieber das Dach einstürzen. Oder sie haben eben viel zu hohe Preise und warten auf den legendären Engländer, der genug Geld hat. Alte Häuser im Familienbesitz hingegen bleiben stehen und daneben wird dann der Neubau aufgezogen. Das wurde zum Sinnbild der kalabresischen Architektur. Das andere Sinnbild sind die unverputzten Häuser, was ich jetzt gut verstehen kann, seit ich weiß, was das Verputzen kostet. Wir allerdings haben bereits die Farbe des Verputzes ausgesucht. Und das Gerüst steht ja auch schon, ein weiterer gigantischer Kostenfaktor. Deshalb wird die Seite zum Nachbarn hin unverputzt bleiben. Das ist ein wenig unverschämt, aber so kennt er das Haus jetzt seit mehr als 17 Jahren, denn solange sind die Vorbesitzer schon weggezogen. MM war allerdings so freundlich oder so besonnen, die Maurer wieder Regenabflüsse abreißen zu lassen, die diese frech in den Garten des Nachbarn gerichtet haben.

Unser Haus besteht aus drei Teilen. Dem Kern, der mehr als hundert Jahre alt ist und in Form eines "Torrione" gebaut ist, das heißt, die Wände sind unten breit und verjüngen sich nach oben. Das sind vier Räume: was unverdächtig als Esszimmer gedacht sein könnte, wird unser Medienraum (Computer und Fernseher), dann die Küche, oben das Schlafzimmer und ein Zimmer, das auf italienisch Studio heißt, ein Arbeitszimmer. Seitlich wurde ein Haus angebaut, das sicherlich auch sechzig Jahre alt ist. Für uns heißt es "Das Haus der Schwester". Das können wir derzeit nicht renovieren, sonst hätten wir dort eine schöne Küche gemacht. So wird es der Eingang (mit der alten Holztür und dem großen Schlüssel, wie bei der Uroma) und oben ist das rosa Zimmer, das mein Arbeitszimmer wird, solange der Schweinestall unrenoviert bleibt. Dann haben die Vorbesitzer, um die Verwinkelung zur Perfektion zu treiben, einen Neubau hingestellt, der die berühmte Treppe beinhaltet, oben ein Zimmer und ein Bad vorsah, woraus wir ein Zimmer und zwei Bäder gemacht haben und unten eine überdachte Terrasse, was unser "Salon" mit den großen Fensterfronten und einem Badezimmer wird. Anschließend kommen "il forno", ein kleines Häuschen mit einem riesigen Holzofen für Pizza und Brot und "il magazzino", ein langgezogener Raum mit einem Fenster ohne Glas, nur mit Holz. Unterhalb gibt es noch "la cantina", den Keller, der aber nicht unter der Erde ist, und in dem ich schon lange nicht mehr war. Dort haben die Vorbesitzer netterweise ungefähr 100 l sauren Wein gelassen. Vielleicht sollte ich mich in der Essigproduktion versuchen. Am Beginn des Obstgartens steht noch ein Schweinestall, aber nicht meiner, meiner ist neben dem Haus. Im unteren Schweinestall wollten die Künstler in der Familie einmal ein Atelier machen. Außerdem gibt es noch eine Garage und daneben einen überdachten Platz, an dem die Freiluftdusche stehen wird. Wo früher eine Treppe zu "la cantina" hinunter führte, gibt es jetzt eine Terrasse. Die 50 qm Terrasse oben ist eigentlich das Dach des Neubaus. Über dem rosa Zimmer gibt es auch ein Flachdach, wo im Moment "la passerella", der Übergang, den die Maurer geschaffen haben, endet. Über dem alten Teil gibt es einen Dachboden mit einem Dach mit alten Dachschindeln. Ich denke, dass in den nächsten Jahren das größte Kind dort einziehen könnte. Hauptsache, es macht mir keiner den Schweinestall abspenstig! Eigentlich wollten wir ein begrüntes Dach, aber das hat uns der Architekt verboten, denn das Dach ist nicht stabil genug, um das große Gewicht auszuhalten. Der Neubau muss nämlich viel mehr renoviert werden als der alte Teil und als der Obermaurer den Boden der überdachten Terrasse aufstemmen musste, die jetzt unser Salon wird, hätte er angeblich fast geflucht. Geflucht wird nämlich nicht auf seinen Baustellen. Aber der Zement war so unverwüstlich, wie man es sich von den tragenden Säulen gewünscht hätte.
Nicht zu fluchen macht orginell: zwischen zusammengebissenen Zähnen hätte er gesagt, er müsse demnächst einen Kredit aufnehmen, um die Leute zu zahlen, die diesen Zement aufrissen. Vielleicht auch ein neues Lebensmotto: statt "porca puttana!" und "per la miseria!" zu rufen, schieben wir jetzt ein bonmot nach dem andern raus. Ich schlage das den Kindern vor, ich habe ohnehin schon drei Worte, die mit C beginnen, auf die schwarze Liste gesetzt.

Dienstag, 16. Februar 2010

Hurra!

Auf MMs Computer, der vor mir steht, sehe ich ein Foto von unserer Terrasse. Die kleinen "Iglus" sind schon zu einem Drittel verlegt, die Eisenstangen sind eingesetzt, ich sehe im Hintergrund das Meer, im Mittelgrund die Palme vor dem grünen Hügel auf der anderen Seite des Flusses, im Vordergrund einen gelben Maurerkübel. Rechts vor dem Meer steht die große Eiche, UNSERE Eiche. Die Terrasse (eigentlich das Dach unseres Hauses, denn es wird noch eine Terrasse vor dem Haus geben, misst 50 qm. MM sagt, der Obermaurer hätte sich soweit vorgewagt, zu sagen, wir hätten die schönste Terrasse des ganzen Ortsteils. Der ganze Ortsteil? Wieviel Häuser mögen das sein? Das ist zu wenig! Ich gehe nachfragen. Nein, die schönste Terrasse dieses Teils des Hügels, also jetzt geht es schon um 200 Häuser. Trotzdem zu wenig. Aber immerhin, das ist seine Welt, diese Terrassen kennt der Maurer, insofern ist dieses Urteil glaubwürdig. Er hat auch noch ein anderes Urteil abgegeben und zwar, dass er glaubt, zu Ostern nichts mehr am Haus zu tun zu haben. Ostern. Das hab ich doch gesagt: zuerst war Weihnachten als Umzug angedacht, das wars nicht, dann eben Ostern. Gut, wenn die Maurer weg sind, dann heißt das immer noch: Fenster, Fußböden, Türen. Es heißt nicht: Fliesen, denn die legen komischerweise auch die Maurer. Irgendwann dazwischen müssen die Elektroleitungen eingezogen werden, die Schläuche wurden bereits verlegt und der Installateur muss fertig machen. Die Heizkörper kaufen wir erst nach dem Sommer und ich hoffe wir werden nicht einer der vielen kalabresischen Haushalte, in denen die Anschlüsse für die Heizkörper jahrelang verwaist aus der Wand rausstehen.
Dass ich ein noch nicht ganz fixes Jobangebot für die Monate April bis Juni habe, führt meine Hände irgendwie automatisch zum Kopf, wo ich mir das Haar ausreißen möchte. Wird meine Familie allein übersiedeln? Werde ich dann ankommen und einen drei Tage dauernden Schrei ausstoßen? Wird in meinem Bett IM NEUEN SCHLAFZIMMER ein Teddybär schlafen? Im neuen Schlafzimmer wurde heute eine Steinwand gebaut, die mich vor Freude ganz verliebt macht. Vielleicht dauert aber doch alles länger und wir werden im Juni mit weniger hohen Schulden Kisten schleppen. Wer weiß.

Der Obermaurer hat angeboten, den hinteren Teil des Hauses vom Verputz freizulegen, auf dass die Steinwand herauskommt, und das jetzt zu machen, auch wenn wir es erst später bezahlen würden. Denn wenn sie das später machen würden, hätten wir erst recht wieder Dreck im Haus. "Leider," sagt er mit beschämtem Blick, "wir Maurer machen Schmutz". "Aber das macht doch nichts!" möchte ich rufen. Hätte er nur nie so unvorsichtige Statements vor dem Kind abgegeben, das später im Auto zu mir sagt: "Weißt du, die Maurer sind tüchtig. Aber es sind SCHMUTZFINKEN!" Und er wird es den Maurern reindrücken, dessen bin ich mir sicher.

Andere aufregende Fotos zeigen den Bagger der Gemeinde, der den Erdrutsch beseitigt. Ein drohender Erdrutsch in unserem neuen Ort war auch der Grund für die Straßensperre der Staatsstraße, auf der ohnehin schon alle LKWs fahren, weil die Autobahn gesperrt ist. All dieser Verkehr zwängte sich durch die engen Gassen der Marina des Orts. Laut MM kam man in 10min 10m weiter.

Eine Szene, die ich gerne miterlebt hätte, ist die Abfahrt der Maurer in ihrem praktischen Fiat Fiorino, der leider nicht mehr fährt, wenn die Tankuhr Reserve anzeigt. Der Sohn beschuldigte den Vater, nicht getankt zu haben, der Vater war wieder mal "distratto", zerstreut, wie es eben echte Genies sind, die es auch unter Maurern gibt. Angeblich sind sie den ganzen Weg zu sich nach Hause im Retourgang gefahren, denn dann steht das Auto so, dass Diesel in den Motor strömt. Ich werde die Strecke abmessen, aber es handelt sich um etwa einen Kilometer auf einer engen kurvigen Straße. Kompliment.
MM sagt, er hätte an mich gedacht, als er das gesehen hätte, und dass ich das Auto angezündet hätte. Immer wenn MM an mich denkt, kommt dabei ein schreckliches Bild von mir heraus. In der Vorstellung von mir selbst würde ich diesen Fiorino einfach immer schön tanken, in Wirklichkeit bin ich aber wahrscheinlich auch jemand, der gern auf Reserve fährt.
Letztens hat er an mich gedacht, als er erfuhr, dass unsere Nachbarin ein Mittagessen für 27 Personen zubereitet hat. Aber das ist ein eigenes Thema.

Seit ein paar Stunden weht Scirocco, der warme Wind aus Afrika, wenn man aus dem Haus geht, weht einem heiße Kuft wie aus einem Fön ins Gesicht. Die Scheiben des Autos sind mit Wüstensand verschmiert. Hoffentlich trocknet der Schaden, den der Dauerregen angerichtet hat. Und so ein Glück, dass Aschermittwoch sein wird und wir nicht mehr feiern müssen.

Montag, 15. Februar 2010

non tutto il male viene per nuocere

Habe ich gestern noch gedacht, zum Glück ist heute Montag? Was genau hat mich veranlasst zu denken, ein Montag wäre super?
Als der Wecker läutet, beende ich eben einen Traum, in dem ich versuche eine Schnellbahn zu erreichen, von der über Lautsprecher angekündigt wird, dass sie zum Abfahren bereits ist. Die Kinder (und der Hund?) laufen schnell eine Treppe hoch, ich sehe nur das Geländer, an dem ich mich mit beiden Händen festhalte und mich mühsam hochziehe, meine Beine sind bleischwer und ich komme nicht voran. Ich denke, dass mein Handy in einem Rucksack ist, den die Kinder tragen, ich kann ihnen also nicht einmal sagen, dass sie an der nächsten Station aussteigen und warten sollen. Ich glaube, am Ende des Traums ziehen sie mich die Treppe hoch. Ich interpretiere den Traum mit Müdigkeit.

Um 7.15 statt um 7.10 renne ich aus dem Haus und springe ins Auto, in dem die Kinder schon sitzen. Ich bin die einzige, die sich die Zähne nicht putzen konnte, ich habe kein Unterhemd unter dem Pullover und ich denke, wurst, ich hab eh mit niemandem zu tun. Zuerst scheint das zuzutreffen, denn nicht einmal der Schulbus steht mehr an der üblichen Stelle, obwohl wir dort nur drei Minuten zu spät ankommen. Ich fahre die Kinder in den Ort, in dem sie umsteigen müssen, gleichzeitig kommt der leere Schulbus an. "Ich dachte, es kommt heute niemand!", sagt der Schulbusfahrer. Faschingsmontag. Morgen ist frei. Die Kinderlein sitzen vor dem Fernseher zu Hause. Außer die mit der Mutter mit den ungeputzten Zähnen. Ich sehe die Schulwartin auf die Schule zugehen und wir nähern und auch an. Die Kinder dürfen schon um 7.35 statt um 8.00 in die Schule und das dritte Kind und ich geben Gas. Auf halbem Weg blinkt uns ein Autobuschauffeur an und deutet, langsamer zu fahren. Aha, ein Unfall. MM, der schon lange vor uns den Zug in die Stadt genommen hat, glaubt nicht wie ich an Rucksäcke voller Schutzengel, aber er würde sagen:"Non tutto il male viene per nuocere". (Nicht alles Schlechte kommt, um Schaden anzurichten.) Wären wir 15 Minuten früher dran gewesen, wäre das nun zerdepschte Auto vielleicht auf uns gechleudert.

Vor der Schule nähe ich im Auto schnell noch zwei Knöpfe auf die Schulschürze. Das Kind findet mich super und küsst mich nass auf die Nase. Es kennt eben keine Mutter, die das vor drei Tagen unauffällig und selbstverständlich gemacht hätte. Da heute der Geburtstag des Kindes ist, schleppen wir auch eine Einkaufstüte voll Aranciata und Salatini in die Schule, ich begegne also auch der Lehrerin, von der ich mich weit entfernt halte, wegen den ungeputzten Zähnen

Aus verschiedenen Gründen beschließe ich, den Vormittag im rosa Zimmer zu verbringen, einer der Gründe ist die Sonne, die auf unseren Ort schien, den ich schon aus 25 km Entfernung sehe, weil das Meer eine Bucht macht. Im Sonnenschein arbeitet Stefano mit der Spitzhacke am Wassergraben, ich kann ihm die Motorsäge aushändigen, auf dem Dach stehen drei Maurer zwischen weißen Säcken, die wie überdimensionierte Mozzarellapackungen aussehen, und winken. Ich arbeite, begleitet vom Hämmern und von unverständlichen Dialogen, darf mich kurz vor der Abreise noch nützlich machen und die Winkel für die Dachrinnen finden. Leider drücken sich die Maurer sehr seltsam aus, so dass ich nicht recht weiß, wonach ich in MMs kleinem Lager suchen soll. Ich kenne das Wort Dachrinne, aber das haben sie nicht gesagt, vielleicht haben sie geglaubt ich kenne es nicht und wollten sich einfacher ausdrücken? Am Ende suche ich etwas namens "stotz", das "testa di moro" ist. "Stotz" ist aber meiner Meinung nach ein Sicherungskasten und testa di moro könnte dunkelbraun sein, der Kopf des Mohren, Julius Meinl halt. Der Obermaurer, Gentleman wie immer, sagt: "Wir wollen Sie aber nicht länger aufhalten, Signora." Wahrscheinlich denkt er, jetzt ist sie schon drei Stunden da, ohne aufs Klo gegangen zu sein, bald geschieht ein Unglück. Aber da die Maurer dem Regen, der das Haus verwüstet, den Kampf angesagt haben, bin ich froh, dass ich auch etwas beitragen kann. Ich biete die Winkel an und der Obermaurer tut so, als hätte ich das Ei des Kolumbus gefunden. Mir gefällt die Maurerphilosophie, die erst in den Griff bekommen müssen, was sonst ihre Arbeit kaputt macht. Das kann man eigentlich auf jeden Lebensbereich anwenden.

Das erste, was die Kinder nach der Schule erzählen, ist, dass Giulia sich heute in die Hosen gemacht hat. Ich kenne das, diese neunjährigen Mädchen, die sich in die Hosen machen und anschließend mit dem touchscreen Handy ihre Mütter anrufen, damit sie ihnen neue Hosen bringen. Giulia ist offenbar anders und hat sich zu Unrecht angemacht, denn das Klo war zu lange besetzt, und die Mutter wegen den frischen Hosen wurde von der Maestra angerufen.
Da sieht man wieder, wie wichtig Klos sind. Da soll der Sohn des Maurers nicht sagen:"Professo', jetzt haben sie aber genug Badezimmer!"

Um halb vier Uhr putze ich mir endlich genussvoll die Zähne. Nach dem Nachhausekommen hasse ich kräftig die Putzfrau, die das schmutzige Geschirr zum sauberen in die Geschirrspülmaschine geordnet hat, so dass alle geputztenTeller mit Kakao bekleckert sind, vergieße zwei wütende Tränen zum Thema Sozialversicherung und Steuerberatung in Österreich. Würde lieber das von mir verlangte Geld den Maurern SCHENKEN, als dem österreichischen System zu geben.

Spät kommt MM mit dem Geburtstagskind, das auf einer Faschingsparty abgetanzt hat, oder was auch immer, und erzählt von einem Erdrutsch, den er live über unserem Haus miterlebt hat. Obwohl alle entsetzt zurückgesprungen seien und "Attenzione" geschrien hätten, wäre ich da gerne dabei gewesen. Die heruntergedonnerte Erde hat angeblich das Geräusch einer Lawine gemacht, aber da ich glaube, dass MM nie eine Lawine erlebt hat, ich aber schon, stellt er es sich wahrscheinlich so vor. Wie auch immer, unterstützt vom Nachbarn wird beschlossen, die Erde gleich in unser Haus einzubauen. Es wurde ohnehin schon von Maurerseite Erde gesucht, die in die Steinwände gemeinsam mit Zement eingearbeitet wird. Und da haben wir schon zum zweiten Mal die Bestätigung, dass nicht alles Schlechte kommt, um Schaden anzurichten. Wozu allerdinges meine Sozialversicherungsachzahlung für das Jahr 2007 gut ist, weiß ich noch nicht.

Sonntag, 14. Februar 2010

Feste, die ins Wasser fallen

Ich habs ja gewusst, dass sie nicht kommen werden. Aber sie waren so entschlossen gestern noch, die Gäste. Und deshalb war auch heute ein Tag vorgesehen, an dem der Wecker um halb sechs Uhr klingelt. Mindestens fünfundvierzig Minuten stelle ich mich noch tot und höre im Radio, wie Bertolaso sich den Anschuldigungen gegenüber verteidigt, und dass Frau Francesca ihm keine sexuellen Leistungen entgegenbrachte, sondern seine Halswirbelsäule massierte. Auch wenn dem nicht so wäre: ich bin weder an ihm noch an Francesca interessiert und ich glaube, dass die Italiener einfach voyeuristisch veranlagt sind. Ab halb acht beginnen wir eine Tour de Force was kulinarische Vorbereitung betrifft, die Kinder sind aufgeregt und deshalb unerträglich. Alle zehn Minuten werden sie zurecht gewiesen und/oder zum Arbeiten eingeteilt. Im Laufschritt kochen wir ein Festessen und putzen die Wohnung, alles Dinge, die man normalerweise eine Woche vorher beginnt. Um drei Uhr läutet das Telefon und wir erfahren, dass es auf der anderen Seite des Berges seit einer Stunde schneit und sie lieber ein anderes Mal kommen wollen. Ich bin hysterisch. Die Kinder haben eben Geschenke bekommen und sind daher abgelenkt, ziehen sich aber dennoch beleidigt zurück. Eine der guten Eigenschaften MMs ist, dass er auch verlieren kann. Er holt den Spumante aus dem Kühlschrank und zitiert eine alte Werbung: "Wenn ihre Mannschaft gewinnt, feiern Sie mit Stock 84, wenn ihre Mannschaft verliert, trösten Sie sich mit Stock 84." Das nenn ich Lebensphilosophie.
Unsere Nichte muss nur einen Erdrutsch und nicht den Schnee überwinden, um zu uns zu kommen und wir verwüsten die Wohnung zu sechst mit Konfetti und Chipsbröseln und ausgeschüttetem Coca Cola, als wären wir zu sechzigst. Die Sachertorte, die MM aus 12 Eiern (da freut sich das Cholesterin) gemacht hat, ist ausgezeichnet, die Mandarinen-Gelatine wabbelt wie die aus dem Zeichentrickfilm, in dem es Hamburger regnet und in dem der Held für seine Angebete in einer Riesengelatine erzeugt, in die die beiden eintreten und sich dann näher kommen wollen.

Zum Glück ist morgen Montag. Das Kind schläft mit seinem Spielzeug im Bett. Seine Puppensammlung hat sich erheblich vergrößert. "Donnerwetter, was für eine große Familie!"
Seine Brüder sagen, sie würden sich schämen, wenn sie mit Puppen spielen würden. Ich sage: "Wo steht das geschrieben, dass Buben nicht mit Puppen spielen dürfen?" Daraufhin schreiben sie es auf einen Zettel. Ich sage: "Und eure Freundin, die mit Autos spielt, muss sich die auch schämen?". Da schmeissen sie den Zettel in den Mistkübel.

Samstag, 13. Februar 2010

Sternstunden auf der Baustelle

Als wir heute morgen mit unserer grünen Spraydose auf der Baustelle anrücken, um die Heizkörper mit R wie Radiator oder Riscaldamento zu bezeichnen, stellen wir zu unserem Erstaunen fest, dass die Maurer ja doch gestern da waren. Fensterhalterungen wurden gesetzt, unbekannte Sandberge häufen sich, in den neu aufgezogenen Wänden befinden sich ordentliche Öffnungen, in die Glasziegel kommen werden, ich sehe zum ersten Mal die Tür, die vom mittelalten Teil in den ganz alten Teil führen wird, und mir wird ein wenig bang, hoffentlich haben sie sich das mit der Statik auch wirklich überlegt. Auf der eigentlich noch nicht vorhandenen Decke im Kinderzimmer ist es nass, auf dem Balkon steht der Regen. Aber der Grundtenor ist erbaulich und wir haben endlich Zeit, anläßlich der Heizkörper über einiges zu reden. Das Kind, das samstags schulfrei hat, macht währenddessen Modeschau auf den Brettern, die eigentlich für die Scheibtruhen vorgesehen sind. Es regnet und es ist grauenhaft kalt.
Als wir bereit sind, wieder zu gehen, eventuell noch auf den Markt, aber auf jeden Fall, um aufladbare Batterien für die in unserem Haushalt vielfach vorhandenen fernsteuerbaren Autos zu kaufen, taucht plötzlich he himself auf, der Obermaurer, der Sand von einer anderen Baustelle gebracht hat, weil der Sand bei uns zu nass geworden ist. Und so können wir auch mit ihm über einiges reden und vor allem: ich bin dabei. In Wirklichkeit ist das Paradies ja warm und mit üppigen Pflanzen versehen und mit diesen Menschen, die sich ihrer Nacktheit nicht schämen und wahrscheinlich schwirren zufriedene Insekten darin herum. Mein Paradies ist grau wie die grobverputzten Wände und es zieht ein eisiger Luftstrom durch. Wir stehen vor einem zukünftigen Fenster und setzen den Rahmen des Fensterglases an, von dem wir heute morgen ein Probestück mitgenommen haben. Das Kind will dem Obermaurer erzählen, dass in der Nacht sein Vorderzahn ausgefallen ist, aber es unterbricht niemanden. "Ich bin nämlich ein intelligentes Kind, ich warte." sagt das Kind. Ich bin erstaunt, diese Intelligenz wendet es mir gegenüber nur selten an. Kaum geht MM etwas holen, flieht auch das Kind, statt Konversation zu betreiben. Ich habe also Gelegenheit, eine lang gehegte Frage zu stellen: "Arbeiten Sie nie mit Handschuhen?", ich starre auf seine großen Hände. Die Antwort hätte ich mir auch selber geben können, nein, nur wenn er den LKW ablädt, es würde ihm sonst das Gefühl fehlen. Aber die Hände seien natürlich immer rau und die Konsequenzen würde er dann beim Schreiben merken. Beim Schreiben? Ich weiß schon, es geht um Kostenvoranschläge und Abrechnungen, aber die Vorstellung, dass er abends mit seinen vom Zement ausgetrockneten Händen Tagebücher, Briefe oder Memoiren schreibt, gefällt mir auch.
Das Kind stellt nun doch seine Zahnlücke vor und der Obermaurer sagt, dass jetzt die "Zahnmaus" kommen wird, die den Zahn gegen 2 Euro austauscht. Da das Kind zwar an den Weihnachtsmann und die Befana glaubt, aber davon überzeugt ist, dass ich das Geld unter den Kopfpolster lege, ist erst nach dieser kompetenten Auskunft bereit, mit den Worten:"Jetzt glaub ich's!" mir mit seinen 30 kg von einem Bretterstoß aus in den Arm zu springen, das aber dafür zehnmal.

Wir gehen von einem Badezimmer zum anderen und legen fest, wie hoch welche Fliesen verlegt werden und ich versuche, mich zu konzentrieren und schaffe es, das Kind mit dem Hinweis, dass im rosa Zimmer ein Block und ein Stift sei, von uns abzulenken. Was die Dusche betrifft, wollte ich immer schon einfach einen gefliesten Boden statt einer Duschtasse und das werden wir jetzt auch haben, es heißt: doccia artigianale. Dusche nach handwerklicher Methode, ha, oder Handwerkerdusche? MM wirft ein, dass der Installateur nicht ganz überzeugt sei, ob das Ding auch dicht werde, aber der Obermaurer bindet uns immer mit Geschichten aus seinem Umfeld ein, das lernt er wahrscheinlich bei Marktstrategen. So hat er zum Beispiel einen kleinen Wasserfleck auf einer Sesselleiste in seinem Bad, das er vor zwanzig Jahren gemacht hätte, an den er sich, wie soll er sagen - gewöhnt hätte (fällt MM nach angemessenem Schweigen und intensivem Gedenken an winzige Wasserflecken ein), und er hätte auch eine Duschtasse, also das Abdichten würde er deswegen auch bei Duschtassen machen und nicht nur bei den handwerklichen Duschen.

Das Kind präsentiert die erste Zeichnung: MM und ich sind mit Faschingsmasken verkleidet und zwischen uns steht etwas Essbares, ein Riesenkeks, und wir sehen auch aus, als hätten wir eben ein halbes Hochzeitsbuffet in die dicken Wangen gestopft. Um Zweifeln zuvorzukommen, stehen unsere Vornamen über unseren Köpfen. Sehr schön, weiter so.

Wir schreiten zum zweiten Bad. Die Höhe der Fliesen. Wieso sie nicht niedriger sein kann, so wie sie der Obermaurer vorschlägt. Das sage ich so nicht, sondern gebe mich entspannt: das kann ruhig niedriger sein. Ich sehe mich einen Quadratmeter Fliesen sparen. MM gibt alles: es handle sich um ein bühnenbildnerisches Element, so dass die Fliesen bis zu diesem und keinem anderen Vorsprung reichen müssten. Der Obermaurer und ich schweigen erschrocken. Über so hintergründige Dinge haben wir nicht nachgedacht. Einen Moment lang halte ich MM für erholungsbedürftig. Aber ich kenne ihn auch. Solche Antworten gibt er, wenn er nicht diskutieren will und meinen Subtext verstanden hat. Wenn ich insistiere, beginnt er womöglich Pasolini zu zitieren. Man wird ein anderes Mal darüber sprechen, wenn nötig.

Im dritten Bad prescht der Obermaurer mit seiner lang gehegten Frage vor: "Signora, wie finden Sie eigentlich unsere Arbeit?" Ich schneide verlegene Grimassen und stoße ein heiseres "Unglaublich" hervor. Was soll ich sagen? Ich liebe euch, ich liebe euch alle! Oder: Eh super. "Wir haben einiges getan," gibt sich der Obermaurer selbst eine bescheidene Antwort für die letzten drei Monate Herzblut und Wahnsinn.

Das Kind präsentiert die nächste Zeichnung, Mama und Papa, die sich küssen. Mir wird es langsam peinlich.

Wir stehen in der Küche, in der, wie im ganzen Haus, Steinwände Steinwände bleiben werden und andere Wände verputzt werden. Aber damit Steinwände Steinwände bleiben können, müssen zwei Maurer etwas machen, das ich mir noch nicht recht vorstellen kann, und das auch im Kostenvoranschlag noch nicht steht. Der Obermaurer sagt: "Da fällt mir auf, dass sich hier eigentlich eine recht schöner Teil Wand befindet." Er hat recht, ein perfektes Stück Mauer wie aus der Zeitschrift "Restaurieren im Countryhousestil" präsentiert sich dort, wo ich später einmal Geschirr waschen werde.

Auf der nächsten Kinderzeichnung gibt Papa Mama einen Strauß Rosen, "das ist bevor ihr heiratet." Ich möchte gehen. Eigentlich möchte ich hier bleiben. Aber wer weiß, was als nächstes kommt.

Also schönen Sonntag, ebenfalls.

Als wir wegfahren, steht er auf dem Dach, er plaudert mit unserem Nachbarn, dem Vater von Stefano, der ebenfalls Maurer ist. Er steht auf dem Dach, als wäre es seines, das ist gut so. Der Regen, der auf dem Balkon steht, geht ihm auf die Nerven, als ob es sein Haus wäre, sagt er. Und das größte Kompliment hat er unserem Haus vor ein paar Wochen gemacht, als er gesagt hat, wenn er von diesem Haus gewusst hätte, dann hätte er es seinem Sohn gekauft. Ein Auto würde er ihm nicht kaufen, aber dieses Haus schon.

Auf der Fahrt nach unten zeichnet das Kind die Maus neben dem schlafenden Kind, in einer Pfote hält sie den Zahn, in der anderen eine zwei-Euro-Münze.

Freitag, 12. Februar 2010

Aussitzen

Angesichts der Wetterlage geht es darum, zu überleben und auf bessere Zeiten zu hoffen. Italien ist im Schnee, wir im Regen, der Schnee über unseren Köpfen. Es ist eiskalt und meine Kinder fragen sich, was passiert, wenn das Meer einfriert. Ein Gewitter folgt dem anderen. Der Hund ist einem Nervenzusammenbruch nahe. Manche Kinder kommen nicht mehr in die Schule, weil Erdrutsche das Passieren des Schulbusses unmöglich machen, die Äolischen Inseln sind nicht mehr erreichbar, das Meer brüllt seit Tagen zu uns herauf. Heute morgen ein tiefblauer Himmel und ein grau-türkisgrünes Meer, beleuchtet von einem genialen Beleuchter. A pro pos: der Kameramann von Avatar, Mauro Fiore, stammt aus einem kleinen Ort im Gebirge in der Nähe. Er ist mit seiner Familie aber bereits weggegangen, als er sieben war. Glückwunsch.
Unser armes fenster- und türenloses neues Haus ist verwaist. Schon gestern kamen die Maurer nicht (aber die unverwüstlichen Installateure, die immer einen Zeitpunkt wählen, an dem sonst niemand dort ist), und heute schon gar nicht. Den Obermaurer sehe ich auf der Straße, als ich das Kind von der Schule abholen will. In zivil. Ich fasse es nicht. Er sieht aus wie er selbst, nur koloriert. Der Mann hat Stil. Alles ist gleich: die Jeans sind dunkel und nicht verwaschen, der Pullover ist schwarz und nicht grau, das Hemd ist weiß und nicht beige. Die Jacke ist dunkelblau und nicht blassviolett. Letztens vertraute er mir zerstreut an, dass er sein Gilet verloren hätte. Und dass er in der Jacke nicht arbeiten könne, aber nur im Pullover sei es zu kalt. "Es wird sich wieder finden." sage ich genauso zerstreut. "Was?" "Das Gilet." Er antwortet, sicher etwas denkwürdiges, aber ich kann nur zustimmend grinsen, denn leider verstehe ich ihn nicht, weil mir erschrocken klar wird, dass ich mit ihm rede, wie mit den Kindern, die auch immer alles verlieren und verlegen. So wie ich zum Kind sage: "Wenn ich zu deinen Schulkollegen nach Hause komme, dann kann ich dort einen Koffer voll deiner Kugelschreiber, Geodreiecke, Bunstifte, Filzstifte, Scheren, Spitzer, Lineale und Klebstoffe volladen", höre ich mich zu meinem Idol sagen: "Jetzt gehen wir mal überall dorthin, wo du deine Zementschleudern hingestellt hast und irgendwo wird es schon hängen, dein Gilet."
Morgen werden wir mit einem Spray die Position der Heizkörper bezeichnen, denn am Montag kommen wieder die Installateure, die wollen das wissen. Samstags gibt es immer einen Markt für Lebensmittel und für alles andere von Pflanzen bis Bekleidung im Ort, das hat uns anfangs gut gefallen, dann legte sich ein Schleier der Depression über alles, angesichts vermeintlicher Giftschiffe vor unseren Küsten, die Fischer, die ihre Ware von den dreirädrigen Fahrzeugen oder dem Koffer ihrer Autos aus verkauften, verschwanden. Jetzt ist es wieder netter, wie ich letzten Samstag auf unserem Blitzbesuch festgestellt habe. In nur fünf Minuten begegneten uns Schulkollege Natale mit seinen vier Geschwistern und dem fünften im Bauch der Mutter namens Candida, unterstützt von Oma Delfina, einer sympathischen Frau in meinem Alter. Im Hintergrund winkte der Architekt, dann flanierte auch die Religionslehrerin vorbei, die uns aber nicht sah, was das Kind quälte und mich freute. In diesen Tagen hat sie den Kindrn von der Madonna von "Sudes" erzählt, was ich als Lourdes interpretiere, nachdem ich erfahre, dass mein Kind mit heiligem Wasser von dort beträufelt wurde. Und das, weil ich ihn durch Abmeldung vom Religionsunterricht nicht ausgrenzen wollte. Nach zwei Jahren entschiedener Ablehnung von Kinderseite aus gegen den Besuch des Katechismus am Samstag nachmittag, ist derselbe nun durch eine Faschingsfeier zum ersten Mal attraktiv geworden. Fasching gibt es nämlich sonst wenig: der Umzug in unserem Dorf wurde abgesagt, weil der Sohn der Schneiderin, die die Kostüme für die Kinder machte (Pinocchio, Shrek) bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen ist, im Dorf über uns gibt es den Fasching nicht, weil sich im Sommer ein junger Mann aus Depression aufgehängt hat, in der Schule nicht, weil die Schwester der Englischlehrerin gestorben ist. Dabei habe ich heuer frühzeitig Schminkstifte gekauft und ich dilettiere also privat beim Schminken zum Clown und Katze und Pirat und MM schminkt kunstvolle Avatargesichter. Das ist gemütlich. So bringen wir (hoffentlich) diese anspruchsvollen Tage über die Runden. Am Valentinstag schminken wir uns Herzerln auf die Wangen und tun so als wär nix, weil die Gäste für das Geburtstagsfest wegen des Schnees in den Bergen nicht kommen, weil hier ja alle nur Sommerreifen haben, dafür aber ein Paar Schneeketten im Auto. Wir auch. Ob sie wer anlegen kann außer mir? Am Montag ist Schule mit Aufführungen oder ohne Fasching und am Faschingsdienstag ist frei und wir gehen ins Kino und schauen uns Avatar mit der Brille an. Also leider werden SIE Avatar sehen und ich werde mit dem kleinsten Kind, das keine 160 Minuten im Kino aushalten kann, einen Zeichentrickfilm sehen, was mich nicht stört, denn nach meinem ersten 3D Erlebnis im Kino (Piovono Polpette - es regnet Hamburger oder wie kann das heißen?) bin ich ohnehin noch rekonvaleszent.
Und dann ist auch der Fasching vorbei und bitte das Winterwetter.

Auf meinen langen Autofahrten höre ich oft ein zum Thema passendes tröstliches Lied, indem es darum geht, dass eben alles vorbeigeht und was dieser Winter bringen wird - wieder einen zerbrechlichen Frühling.

Passerà anche oggi passerà
come fosse una lacrima che scivola...
e dove andrà
forse tra i segni di un sorriso che amaro è,
ma passerà..

Questo inverno cosa porterà
un'altra primavera fragile

Donnerstag, 11. Februar 2010

Perfidie des Tages

«Siamo alla presenza di un imbarbarimento, di un avvelenamento della vita civile che è difficile da sopportare».
(Wir stehen einer Barbarisierung gegenüber, einer Vergiftung des bürgerlichen Lebens, die schwer auszuhalten ist).
Sagt Silvio Berlusconi. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Der eigentliche Text müsste lauten: Ich habe die Gesellschaft barbarisiert, ich habe das bürgerliche Leben vergiftet und ich bin schwer auszuhalten.
Und die Antwort lautet: du bist nicht schwer auszuhalten, du bist überhaupt nicht auszuhalten.

Mittwoch, 10. Februar 2010

...and into the blue

Aus Gründen, die gemeinhin Liebe genannt werden, habe ich vor mehr als 13 Jahren beschlossen, in Italien zu leben. Die Liebe zum Mann wird mit den Jahren immer leichter, die Liebe zum Land ist in letzter Zeit schwer mitgenommen und hängt wie ein vom Wind zerfetztes altes Geschirrtuch auf der Wäschleine.
"Jeden Tag," möchte ich zum fiktiven Therapeuten sagen, der zwischen mir und Italien vermitteln soll. "Jeden Tag die selben Vorkommnisse, ich halte das nicht mehr aus."
Im Oktober hat eine Demonstration in unserer Gegend stattgegefunden, die es bis dahin noch nicht gegeben hatte. In den ersten zehn Minuten habe ich nur geweint. Darüber, dass es Menschen gibt, die etwas für dieses Land tun wollen (oder wollten - einige leben nicht mehr). Dass es Menschen gibt, die nicht die Schultern hängen lassen, wenn vor unseren Küsten Schiffe mit unbekanntem Inhalt im Meer versunken lagern. Dass wir nicht allein sind. "Amazzateci tutti" (Bringt uns alle um) ist der Name einer von jungen Menschen gegründeten Organisation, die gegen die Mafia eintritt.
Auf Transparente haben die Menschen geschrieben: Ich will hier bleiben.
Roberto Saviano schreibt in The New York Times über die Revolte der Afrikaner in Rosarno. Die Immigranten würden sich den Regeln der Mafia widersetzen, so wie auch einige Italiener: "Es gibt die, die Widerstand leisten, und die, die über ausreichend Freiheit und Mittel verfügen, Orte wie Rosarno zu verlassen und ihrerseits auszuwandern."
Ich denke oft über die Worte Freiheit und Mittel nach (das hat aber nichts zu bedeuten, denn ich denke auch über das Wort Schlagloch nach). MM und ich reden manchmal darüber, wie es wäre, wegzugehen. Nachdem wir ein Haus gekauft haben, haben wir tatsächlich weder die Freiheit noch die Mittel, was aber nur einer der Gründe ist, nicht wegzugehen.
Aus der Küche kommt der Geruch der Brokkoli, die unsere neue Nachbarin Teresa MM mitgegeben hat, gemeinsam mit einem Sack Scarola, sechs Eiern und einem Glas Melanzane sott'olio, eingelegten Auberginen. Ich weiß, dass vierzig Kilometer von mir entfernt ein Gerüst aufgebaut wird, von dem aus der Grobverputz auf die Wände unseres Hauses geworfen wird, zumindest hab ich das so verstanden. Vor dem Eingang haben die Maurer eine wunderbare, perfekte Ebene geschaffen, die ich zuerst ablehnte und von der ich dann begriff, dass ich über ihr wie Cristo und Jeanne Claude Stoffbahnen wehen lassen kann, seitdem liebe ich sie.
Unsere Maurertruppe besteht aus lauter fähigen Männern, von denen keiner ausgebeutet zu werden scheint, und die alle aus der Gegend stammen. Am Nachmittag nimmt sich Teresas Sohn, der, nachdem er die Olivenbäume gestutzt hat, jetzt bei uns den Wassergraben aushackt, seine Ziege mit, die dann auf unserer Wiese frisst.
Darum will ich hier und nirgendwo anders leben. Auch wenn jetzt gegen Bertolaso, den Chef des Zivilschutzes ermittelt wird. Ach. Das ist die Verwirrungs- und Verunsicherungsmaschine: Personen, die wir bisher für anständig oder kompetent oder gar beides gehalten haben, stellen sich plötzlich als korrupt heraus. Oder sollen sich als solches herausstellen. "Ich weiß es nicht", sage ich zum fiktiven Therapeuten. Und er schweigt. Eine Antwort gibt der Rap von Gianna Nannini und Fabri Fibra (origineller Name) : Ci sono cose che nessuno ti dirà, ci sono cose che nessuno ti darà, sei nato e morto qua, sei nato e morto qua, nato nel paese delle mezze verità.
(Es gibt Dinge, die dir niemand sagen wird, es gibt Dinge, die dir niemand geben wird, du bist hier geboren und gestorben, geboren im Land der Halbwahrheiten.)

Samstag, 6. Februar 2010

Into the Wild

Trotz enormer Müdigkeit bin ich auch heute um sechs Uhr aufgestanden, da der Wecker um halb sechs Uhr läutete, und bin mit Kind und MM zur Baustelle gefahren, obwohl keine organisatorische Notwendigkeit bestand. Es tat gut, an einem Samstag dort zu sein, mit nur zwei Installateuren am Hämmern und dem Allroundstar aus der Nachbarschaft, der seit Tagen die Olivenbäume stutzt. Ich schwanke zwischen Verzweiflung und Enthusiasmus und MM versteht die Verzweiflung nicht. Er, der fast täglich hier troubles shootet, erwartet keine Verzweiflung von mir. Aber die unglaubliche Menge an Unfertigem, die immer noch große Menge an Schutt, die offen liegenden Schläuche überall, lassen eher verzweifeln als hoffen. Gleichzeitig sind aber echte Verbesserungen zu sehen. Auf dem Dach gab es bisher ein Mäuerchen, das jetzt weg ist, was dem Haus Größe verleiht und dem Auge Freiheit gibt. Die Treppe ist fertig ausgeglichen und es ist wirklich erstaunlich, wie leichtfüßig man jetzt auf ihr hochlaufen kann. In der ungeliebten Küche wurde auch eine Mauer umgerissen, was immer einen erstaunlichen Effekt hat, weil die Mauern einen Meter dick sind, und die Küche wirkt leichter, fröhlicher, und ich kann mir zum ersten Mal vorstellen, darin etwas buntes zu kochen.

Dann fahren wir in einen kleinen Weiler, ein paar Minuten entfernt, in dem der Mann wohnt, der im Sommer unseren Garten mit seinem Traktor umgegraben hat, und dem wir noch von damals Geld schulden. Seit kein Klo mehr in unserem Haus ist, habe ich die Natur der Umgebung studiert, und zu meinem Entstetzen festgestellt, dass alles, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so wirkt, bewirtschaftetes Land ist. Und dass überall Menschen wohnen. In Wirklichkeit teilen wir "the middle of nowhere" mit ziemlich vielen Leuten. Heute habe ich mein Paradies gefunden: nur ein wenig höher als unser Haus gelegen führt ein Sträßlein zu eben diesem Weiler, mitten durch die Natur, in die ich glaubte, gezogen zu sein, die sich dann eben voller Nachbarn entpuppte. Dort oben ist nichts außer Ginster, Felsen, Wasserfällen, Eichen und mickrigeren Bäumen, von Erdrutschen in Mitleidenschaft gezogenen Straßen, zum Teil ungepflastert, einem Steinbruch und herzigen wilden Blumen. Es gibt eine Quelle, die ein wenig oberhalb der Straße liegt, zu der man hochsteigt wie zu einem buddhistischen Tempel, unten an der Straße stehen Weiden und prall gefüllte Orangen- und Mandarinenbäume. Das ist die Oase in diesem von Gott und den Menschen verlassenen Abschnitt. Der Weiler, in dem noch drei Häuser bewohnt werden, heißt auf Deutsch "Verteidigung". Die 4x4 Pandas, mit denen hier alle fahren, haben extremes Profil an den Reifen, die Schuhe des Kindes vor dem Haus, das wir suchen, sind schlammig, es fährt stolz mit einem kleinen Fahrrad, das noch aus der Zeit seines Vaters zu stammen scheint. Die Mutter des Mannes erzählt uns, dass sie die Ofenrohre des Holzherdes putzt, was sie einmal im Monat tun muss, da die Rohre Kurven machten und sich dort Schmutz ablagert. Der Mann selbst ist "etwas erledigen", und seine Frau weiß nicht, ob er (mittags, nehme ich an) nach Hause komme. Obwohl es ganz ungewöhnlich ist, dass dieser Mann nicht erreichbar ist, da in Italien doch immer alle höchst wichtig an ihren zahlreichen Mobiltelefonen zu Gange sind, passt hier alles zusammen. Wir sind nur zehn oder fünfzehn Minuten von der Staatsstraße und gleichzeitig etwa fünfzig Jahre von dem raschen Leben dort entfernt.
An den Fenstern hängen getrocknete Paprikaschoten, ein freundlicher Sonnenschein versucht die seit Tagen aufgeweichte Erde zu trocknen. Der Wortoutput der Italiener sinkt mit steigenden Höhenmetern. Während in den Städten alle dauernd reden, wird in Hügelhöhe nur noch anfallsartig losgekreischt. Hier, wo man durchaus von Bergen reden kann, werden wir nicht zugetextet, sondern zuerst mißtrauisch begutachtet und dann interessiert eingeladen.

Unser Obermaurer stammt, glaube ich, aus diesem Weiler. Als er einen Lokalaugenschein für seinen Kostenvoranschlag in unserem Haus vornahm, habe ich ihn erst für einen Zeugen Jehovas gehalten. Später habe ich erfahren, dass er tatsächlich als Kind in einer Klosterschule war und Priester hätte werden sollen. Aber dann ist er Maurer geworden. Es müssen die Steine sein. Entweder man hasst sie, oder man liebt sie. Ich weiß aber nicht, ob ihm das klar ist, dass er Steine liebt.

Ich jedenfalls fühle mich besser aufgehoben. Ich mag es, wenn nicht offensichtlich alles zugeordent ist. Früher, als ich Gegenden bereiste, die ich gerne zu meiner Heimat gemacht hätte, wenn auch nur vorübergehend, habe ich mir immer die Frage gestellt, ob das Land den Menschen gehört, die es besitzen, oder denen, die es lieben. Ich weiß, nicht zuletzt aufgrund eines gescheiterten Kaufvertrags, dass alles besessen und alles aufgeteilt ist. Aber heute fühle ich seit langer Zeit wieder die Freiheit, ein Stück Land zu lieben und es als mir zugehörig zu empfinden.

P.S.: Manches wird aber erstaunlicherweise nicht besessen: in der Nähe unseres Hauses gibt es ein altes kleines Haus mit vermutlich umwerfendem Meerblick, das zwei Schwestern, zwei Lehrerinnen gehört hat, die beide seit etwa zwanzig Jahren gestorben sind. Heute weiß man nicht, zumindest erzählen das die Nachbarn, wem das Haus gehört, man kann es also weder kaufen noch verkaufen. Leider ist vor kurzem das Dach eingestürzt. Sicherlich gehört das Haus jemandem, es kümmert sich einfach niemand darum.

Freitag, 5. Februar 2010

Just a perfect day

Aus verschiedenen Gründen haben meine Kinder ein Verhältnis zur Religion, das erst seit kurzer Zeit besteht. Das führt zu erstaunlichen Unsicherheiten. Ein Kind fragt, angesichts eines Projekts in der Schule, das seiner Meinung nach "Anna Franka" heißt, ob wir Juden seien. Ein anderes Kind gesteht, dass es Jesus nicht einmal in seinem Herzen hört. Das kann ich gut verstehen, aber nach angemessenem Schweigen meine ich, für den Anfang sei es vielleicht schon genug, dass Jesus das Kind höre. Das Kind sagt, es hätte gebetet, für ein anderes Kind, das sich in der Schule den Kopf an einem Heizungskörpe blutig geschlagen hätte und dafür, dass die Puppe, die sich das Kind zum Geburtstag wünscht, eine Prinzessin sei. Ob Jesus Puppen zum Sprechen bringen könne? Ich denke an Pinocchio und sage nicht, dass ich glaube, Jesus interessiert sich nicht für Puppen . Dann sage ich, ich hätte gehört , dass Jesus Kranke heilte und aus Wasser Wein gemacht hätte und ich wisse nicht, wie er es mit Puppen halte.
MM musste heute auf das Begräbnis von Zio Luigi, was unseren Tagesablauf durcheinander gebracht hat. Ich war dankbar, dass ich trotz eingesprungenem Doppelaxel der Babysitterin nicht auf das Begräbnis gehen konnte. Begräbnisse hierzulande sind für mich so bewegend, dass ich anschließend eine Woche Krankenstand brauche. Noch dazu war Zio Luigi wirklich eine außergewöhnliche Person, und ich möchte ihn und nicht sein Begräbnis in Erinnerung behalten. Nachdem ich bei dem Begräbnis einer Tante von MM von der Familie zu einem Weinen angeregt wurde, das meiner Meinung nach unverhältnismäßig war, habe ich beschlossen, Begräbnisse und Hochzeiten auszulassen, obwohl ich das nicht super von mir finde. Sobald ich gelernt habe, weniger als die Witwe zu schluchzen, gehe ich wieder auf Begräbnisse.
Angesichts dieses Ereignisses fragte das Kind mehrmals, ob MM dem Zio Blumen gebracht hätte. Da wir uns darauf geeinigt haben, dass Verstorbene im Himmel sind, weilt jetzt auch Zio Luigi dort, was für uns sehr angenehm ist. In Süditalien findet ein Begräbnis innerhalb von 24 Stunden nach dem Tod statt, in diesen 24 Stunden kommen dann alle Verwandten und Bekannten und halten Wache neben dem Toten. Dann gibt es eine Messe und danach wird der Tote ziemlich unspektakulär in ein kleines Häuschen geschoben, denn aus mir nicht bekannten Gründen kommen hier die Toten nicht unter die Erde, auf dass sie zu Staube zerfallen können, sondern sie tun das in ihren kleinen Kojen. Wenn meine aus dem deutschprachigen Raum stammenden Freundinnen die Friedhöfe hier sehen, denken sie an kleine Puppenstädte, die der eigentlichen Stadt vorgelagert sind.
Da wir Zio Luigi noch am Sonntag gesehen haben, als er sich beklagte, dass er nicht sterben könne, fügt sich sein Tod wie ein Resultat in diese Woche ein, dass er nicht mehr ist, ist sicherlich ein Verlust.
Und all unsere Verluste werden annulliert durch die Zeit, die alles braucht, das wir zu tun haben, in der wir keinen Verlust, keinen Mangel spüren und nur darauf hinarbeiten, zu erreichen, was wir wollten, auch wenn diese Errungenschaften banaler nicht sein könnten: ich stehe 45 Min in der Post an, um 23 Euro für den Schulbus zu zahlen (war bis jetzt gratis) und 28 Euro für den Strom in unserem neuen Haus (da waren die Maurer mit ihren Presslufthammern und ihren Zementmischmaschinen und ihren Grubenlichtern doch recht sparsam). Zwei Menschen stehen hinter mir an, als eine Klosterschwester die Post betritt und erfreut auf eine Frau zueilt, die weiter vorne in der Reihe steht. Die beiden plaudern angeregt über Katechismus und Scouts, wie in Italien die Pfadfinder genannt werden, und die Klosterschwester kommt entsprechend früher an die Reihe, weil sie ihren Posten natürlich nicht aufgibt. Kein Mensch zuckt mit der Wimper. Ich stelle mir die selbe Szene mit einem afrikanischen Arbeiter vor.
Und dennoch liebe ich heute unseren neuen Ort hemmunsglos. Alles gelingt. Ich warte zwar 45 Minuten auf die Einzahlung, aber ich kann sie machen, es stürzt nicht eine Minute vorher das gesamte Betriebssystem der italienischen Post ab. Ich gehe in den Laden gegenüber, um eine Fotokopie für den Schulbusfahrer zu machen und außer dass die Kopie schief ist, geschieht nichts Furchterregendes. Ich protestiere im Supermarkt, dass mir diePreissenkung für den Ricotta nicht angerechnet wurde und der Mann an der Kasse gibt mir 76 Cent, auch ohne mit der Wimper zu zucken und vor allem, ohne mir das Gefühl zu geben, ich sei eine notorische Querulantin. Vor der Schmiedewerkstatt steht das Fiorino-Auto unseres braven Obermaurers, der versprochen hat, dem Schmied zu erklären, wie die Eisen für die Balkone gemacht werden sollen. Das haut mich um, ersten weil wir schon bei den Eisen für die Balkone sind, und zweitens weil es einen Menschen gibt, der macht, was er zugesagt hat. Gibt es einen Nobelpreis für Zuverlässigkeit? Nein, Nobelpreise will ich seit Obama nicht mehr.
Meinem Versuch, die Tickets für die Schulmensa zu kaufen, gehen zwar drei Rundfahrten durch den Stadtkern auf Parkplatzsuche voraus, aber dann gelingt mir auch dieses Unterfangen nach kurzer Wartezeit, was ich als Meilenstein in meiner persönlichen Geschichte verbuche, denn die Öffnunsgzeiten des Schalters sind gewiss nicht berufstätigen Menschen angepasst.
In der Apotheke wird das Teebaumöl bestellt und ist (angeblich) am selben Nachmittag da, heute ist einfach alles großartig und gekrönt wird dieser perfect day von der Tatsache, dass ich bei den vielen Kilometern, die ich dem Schulweg des Kindes zuliebe zurücklege, zweimal den gehenden Mann sehe, einmal um 11:28, da ist der auf dem Weg zu Wallfahrtsort und einmal um 14:15, zurück vom Wallfahrtsort, er bleibt auf der Straße stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. "Wie alt er aussieht!" stellt das Kind mit der Weisheit von Siebenjährigen fest. Er ist eben nicht alt, er sieht nur so aus. Warum eigentlich? Ich finde es fast infam, dass er sein Gehen unterbricht, um rauchen zu können, finde es ohnehin grauslich, dass er im Gehen raucht. Und dabei denke ich heute das erste Mal nach fast elf Jahren Nichtrauchen, dass ich wieder rauchen werde. Unser Haus wird fertig sein und ich werde den Gemüsegarten bestellt haben. Und abends, wenn das Licht weniger wird, was in unserer Lage früh ist (dafür gibt es Morgensonne, die wirklich nur von Menschen mit Schulkindern genossen werden kann), werde ich mich in die Wiese setzen und rauchen. Ich werde auf den Hafen schauen und jede Art von Sehnsucht wegblasen.

Dienstag, 2. Februar 2010

Sprengen!

Eigentlich bin ich eine Frau, die morgens hasst und sich im Lauf des Tages beruhigt. Es gibt aber Tage, an denen der Unmut sich während des Tages stets vergrößert, so dass dann abends nur noch der Wunsch nach Sprengung besteht. Vielleicht liegt diese Umkehrung daran, dass ich an diesen Tagen länger schlafe und daher die sechs Uhr Nachrichten versäume. Heute habe ich einen wunderbaren Vormittag mit meinem Kind verbracht, dass sich heldenhaft einer peinlichen Untersuchung seines Geschlechtsteils unterzog, die ein Arzt vornahm, der zu denen gehört, "die einen nicht einmal anschauen". Der Stoizisimus des Kindes überwog aber bei weitem den Abscheu, den der Arzt erzeugte und wir belohnten uns mit einer größeren Ausgabe in der Buchhandlung und einem anschließenden Besuch auf dem Spielplatz, einem dieser höchstens nachts von heroinsüchtigen Menschen frequentierten Orte. Ich entdeckte das Vergnügen, auf wackelnden Holzbalken zu gehen, die Freude, das Kind auf der Schaukel hochhüpfen zu lassen und dabei das Gefühl für meine Oberschenkel wiederzugewinnen, erinnerte mich daran, wie es war hoch zu schaukeln, wofür meine Beine komischerweise zu lang sind, obwohl sie das in Wirklichkeit nicht sind, und die Seligkeit auf einem Ringelspiel oder wie das heute heißt, die Augen zu schließen und immer orange zu sehen, wenn die Sonne aufs Gesicht kommt. Mit diesen freundlichen Gefühlen holten wir die anderen Kinder von der Schule ab und ab da ging's los. "Mamma hat euch ein Geschenk gemacht!" (Comix von Dragonball), Kind 2 sieht sofort die Unwürdigkeit ein, beschenkt zu werden: "Du musst aber etwas unterschreiben, weil ich nämlich vergessen habe, dir zu sagen, dass ich gestern Geometrie hätte lernen müssen."
Jetzt, nachdem dieser Tag überstanden ist, frage ich mich, wieso mich das aus der Bahn geworfen hat, aber in dem Moment war ich hochgradig verärgert, mehr, weil mein Plan aus dem Ruder lief. Wie soll ich einem Kind, das nicht Geometrie gelernt hat, Dragonballcomix schenken, was mach ich jetzt und wie gehe ich mit der Enttäuschung des Kindes um. Was ich hätte unterschreiben sollen, fand sich aber nicht mehr in der Schultasche, daher musste ich die Mathematiklehererin anrufen, die ich eigentlich hätte anschreien wollen, wieso sie mir meinen Tag so vergällen will. Mittlerweile hatte ich erfahren, dass alle Kinder in der Klasse den selben Verweis bekommen hatten, halb so wild also. Die Lehrerin ist eigentlich ok und ich habe sie nicht angeschrien. Das hätte sie sich wahrscheinlich auch nicht gefallen lassen. Das Kind war recht gelb im Gesicht. In meiner langen Rede über die Sinnhaftigkeit von Gedächntnis, Mitteilungsheften und dem Lernen von Geometrie kam auch der Satz vor, dass er, wenn es ihn schon nicht interessierte, bitte immerhin für uns lernen sollte, denn wir (sein Vater) würden ihm den Sonntag zu Verfügung stellen für diese (Scheiß-) Drei- und Vierecke, die er dann am nächsten Tag nicht wiederholte. Aus zwei Gründen hat mich der Gipfel meiner Rede sehr zufrieden gestellt: 1) war ich selbst in der Schule sehr schlecht in Geometrie, konnte keinen geraden Strich mit einem Lineal machen und merke mir bis heute nicht die Namen der Formen - daher alle Schuld der Geometrie an sich und 2) erinnerte ich mich an die Aussage eine Freundin, die ihren Kindern erklärte, sie würden schließlich nicht für die Eltern, sondern für sich selbst lernen, worauf die Mutter der Freundin, eine pensionierte Lehrerin, ihr erklärte, dass Kinder nicht für sich selbst lernen wollten, sondern eventuell, um ihren Eltern eine Freude zu machen.
Dieser Schachzug funktionierte, das Herz des Kindes wurde weich, es entschuldigte sich und weinte ein paar bittere Tränen in meine Achsel. Wegen der Gemeinheit der Romben und Parallelogramme oder weil der arme Papa so viel Zeit investiert hatte oder wegen dem verlorenen Dragonball werden wir nicht erfahren.
Beim Versuch, den Lernstoff nachzuholen, stellte sich heraus, dass auch das Geometrieheft, ebenso wie das Mitteilungsheft verschwunden war und als Schuldige wurde Schulkollegin Maria Rita genannt, die alles in ihre Schultasche gepackt hat. Ärger! Maria Rita hatte also meine Grundlage in ihrer Schultasche und ich versuchte mühsam mein Unwissen über die Benennung gewisser Winkel zu verbergen. Als Resümee dieses Tages kann ich sagen: ich kenne jeden Winkel, habe, glaube ich, endlich verstanden, was ein Trapez ist, habe zwei Gedichte auf italienisch auswendig gelernt, eines handelt vom Schnee, der weich und ohne Eile fällt, das andere von der Natur, die, weil sie nicht respektiert wird, ihre Scherze mit den Menschen treibt.
Ich habe mein Wissen über Vulkane bereichert und endlich begriffen, was ein complemento diretto (Frage: wer, was?) und ein complemento indiretto (mit Präposition) ist.
Der Arzt hat mir gesagt, dass das Kind operiert werden soll, was ich seit der letzten Erfarhung mit der Leber des andereb Kindes gelassen aufnehme. MM hat mit gesagt, dass das Zeugnis des Kindes, das meiner Meinung nach ein Genie ist, gar nicht genial ausfällt, was mich zum Weinen bringt.
Ich habe gehört, dass die Kinder meiner Freundin aus Rom hier sind und jeden Nachmittag schifahren, während ich meinen androhe, dass, wenn sie nicht mehr lernen, sitzen bleiben werden. In Italien sind nämlich keine Ferien.
MM kommt blass und gleichzeitig braun gebrannt von der Baustelle und in mir lodert die Eifersucht: Sonne, Menschen, Mittagspause mit Hulk genannten Maurern, Olivenbäume stutzen, wichtige Gespräche mit dem Obermaurer führen. Das alles wird nicht aufgewogen von der Buchhandlung, der Sonne auf dem Spielplatz, den Telefonaten mit der Mathematiklehrerin, dem von Nonna gekochtem Sugo auf der Pasta, anstelle der Panini, die mein Mann neben Hulk verzehrte. Möglicherweise bin ich nicht so arm, sondern selbstmitleidig und Tage, an denen ich die Erhaltung meiner Familie im konkreten Sinn als Hauptarbeit ansehen muss, entsetzen mich zutiefst. Daher setze ich zur Sprengung an: 1) das Gesundheitsambulatorium, 2) die Schule, 3) Maria Ritas Schultasche, 4) das Haus, in dem wir jetzt noch wohnen, auf dass das neue möglichst bald fertig wird.