Samstag, 20. Februar 2010

Kulturelle Missverständnisse

Ein interessanter Nebeneffekt der Baustelle sind die anthropologischen und soziologischen Studien, die MM dort betreibt, ich bin leider zu wenig dort, um viel dazu beizutragen, aber lang genug, um Unruhe zu stiften. "Si tacuisses, filosofus mansisses" (Hättest du geschwiegen, wärst du ein Philosoph geblieben) ist einer der beiden lateinischen Sprüche, an die ich mich noch erinnere, der zweite heißt:"Nihil, nisi bene" (Nichts, außer das Gute). Den zweiten wende ich häufig an, den ersten vergesse ich dauernd. Dass ich also zum Obermaurer gesagt habe, dass die Steinwand schöner ist, als ich sie mir vorgestellt habe, wurde als: sie sah besser als auf den Fotos aus, weitergegeben, worauf MM zu OM sagte: "Na dann habe ich doch gute Arbeit geleistet, denn ich musste viele Zeichnungen anfertigen, um meine Frau zu überzeugen, dass freiliegende Steinwände toll sind." Der OM sagt zu MM: "Ach so? Ich dachte, die Signora hätte die Steinwände gewollt."

La Dattilografa versteht diesen Dialog nicht, aber sie hält ihn fest.

Was ich verstehe: MM lobt die Maurer nicht, sie wollen das von mir. Ich verstehe sie und lobe sie, meiner Meinung nach viel zu wenig.

Ich frage MM, wieso er sie nicht lobt. Er sagt, das sei so in seiner Kultur. Man darf einem Kalabresen nichts Gutes sagen, weil er sich augenblicklich so viel einbilden würde, dass er sich nicht mehr anstrengen würde. Siehe Putzfrau.

Tja, was soll man da tun? Jetzt habe ich mindestens fünf Tage hintereinander nicht ans Auswandern gedacht und nun das! Kanada!!!!

Vielleicht bin ich ja auch von den Kindern deformiert und will dauernd sagen: Bravo! Das hast du gut gemacht, weiter so! Alles falsch im kleinen Einmaleins? Macht nichts, das nächste Mal geht's besser.
Aber so bin ich gar nicht. Ich stehe da, als hätte ich der Putzfrau gesagt, sie sei eine unverzichtbare Perle, wäre dem Obermaurer um den Hals gefallen und hätte dem Tankwart "Danke danke danke fürs Selbertanken zu überhöhten Preisen" entgegengerufen und womöglich auch meine Schwägerin umarmt.
In meinem Selbstverständnis bin ich eine unfreundliche Misanthropin, aber offenbar ist sogar das relativ.
"Was hätte ich denn sagen sollen?", frage ich MM. Seine Antwort läßt vermuten, er hätte den Verstand verloren: "Du sagst einfach, du könntest es nicht beurteilen, man könne es erst sehen, wenn das Ganze fertig sei."
Ich sehe mich vor einer wunderbaren Steinwand stehen und sagen, dass ich nicht beurteilen kann, wie diese Steinwand aussieht. Ich sage: "Wissen Sie, diese Steinwand - ich weiß einfach nicht. Fragen Sie lieber meinen Mann."
Es gibt zwei Möglichkeiten: ich nehme mir einen Rechtswanwalt und klage MM wegen seelischer Grausamkeit oder ich nehme einen Kalenderspruch von Jesper Juul als Mantra mit in den Tag:
"Männer und Frauen haben eine so unterschiedliche Ausdrucksweise, dass es fast einem Wunder gleicht, dass sie einander wirklich verstehen."
An manchen Tagen tritt dieses Wunder nicht ein.

Aber ist es denn die Ausdrucksweise? Wenn ich sage: "Schön, gefällt mir", sagt MM dann:"Hmhm, mal sehen"? Ja, aber wegen der strategischen Kriegsführung. Die ist aus seiner Sicht auch ok, womöglich reißt ihm der OM wirklich die kleinen Zettel mit der Kostenaufschlüsselung aus der Hand und schreibt gleich eine Null dazu, weil der Signora die Wand gefallen hat.

Trotz dieser schwerwiegenden Uneinigkeiten suchen wir heute die Fliesen für die Badezimmer und für die Treppe (50 qm Klinkerboden!) aus und die Frau, die uns berät, ist wie eine Wahrsagerin, wie eine Therapeutin, die uns auf das Richtige zugehen läßt. Sie sagt: "Wenn ich es richtig verstanden habe, wollen sie wenige Materialien, um den Charakter des Hauses zu betonen." Sie führt uns weg vom ziegelroten Klinkerboden zu einem grauen, der eher was mit den Steinen zu tun hat und dem Haus sicher Leichtigkeit und Eleganz verleihen wird. Ich fühle mich auch schon leichter. Ihr ist es auch zu verdanken, dass ich MM verzeihe, dass er meinen kreativen Vorschlag, im Badezimmer einen orangefarbenen Streifen anzubringen, abgeschmettert hat. "Wenige Materialien" ist das Stichwort.

Erst wollte ich beleidigt NIE MEHR ein Wort zu den Maurern sagen, einen Gruß murmelnd vorbeigehen (eine Burqa könnte mir dabei helfen), aber mittlerweile verstehe ich, dass es wie so oft um "Il giuoco delle parti" (Dt.: wer das Spiel verstanden hat) geht. "Pirandello!" ruft MM manchmal mit dem Blick "Hast du es immer noch nicht verstanden?"

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