Dienstag, 21. Mai 2013

Leo und ich

Die schwierigen Tage nenne ich jetzt: Tage der Horizonterweiterung. Während sich meine Kinder dauernd zweifelhafte Pop-Songs ins Ohr blasen, höre ich die Klassiker der Literatur. Das macht geduldig. Ich habe David Copperfield gehört, was nachhaltige Folgen auf meinen Gemütszustand hinterlassen hat und mich in Lebensgefahr gebracht hat, da ich während einer langen Autofahrt so sehr über Doras Tod weinen musste, dass ich die entgegenkommenden Autos kaum wahr nehmen konnte. Und jetzt "Krieg und Frieden". Pause. Pause. Pause. Krieg und Frieden. Krieg und Frieden. Krieg und Frieden. Krieg und Frieden. Ich hab das nie gelesen. Gibt es jemanden, der das getan hat?
Aber jetzt kann ich es hören, Eierphone sei Dank. Hätte es mein Leben verändert, wenn ich es früher gewusst hätte, was der Leo Tolstoj für einer ist? Wohl kaum, denn ich glaube, dass es erst jetzt, wo ich nicht mehr forever young bin, in mein Hirnkastel dringen kann. Also während der Fürst Andrej stirbt (hat der Tolstoj schon mal so was erlebt? MM sagt, er hätte Interviews gemacht, wie meint MM das? Der Tolstoj mit einem kleinen Diktiergerät, oder wie?), habe ich einen sehr anstrengenden Tag weil nämlich die Autobusfahrer streiken und zwar zu Recht, denn die Region Kalabrien hat beschlossen, die Hälfte ihres öffentlichen Verkehrs nicht mehr zu bezahlen. An  dieser Stelle möchte ich laut und anhaltend lachen. Ich bin ein echter Fan des öffentlichen Verkehrs, obwohl es in unserer Familie zwangsweise zwei Autos gibt. Die Hauptstadt der Region Kalabrien heißt Catanzaro und ist mit öffentlichen Verkehrmitteln praktisch unerreichbar. Das weiß ich, weil ich nämlich ein Tablet, das Garantie hat, umtauschen will und alle dazu berechtigten Geschäfte befinden sich in dieser unsäglichen Stadt in die nur frühmorgens (sehr früh morgens) Busse fahren und wenn man aus diesen Bussen steigt, muss man über Straßen gehen, die Google maps nicht für Fußgäger vorsieht. Wenn ich dann dort gehen würde, dann wäre ich eine dieser wunderlichen Personen, über die man lange nachdenkt, wenn man sie am Straßenrand wanken sieht. Also im aktuellen Fall will ich aber gar nicht nach Catanzaro, ich habe beschlossen, dass ich in Rom viel eher und leichter vorbeikomme, in diesem Fall will ich einfach in unserer Provinzhauptstadt arbeiten.
Bevor ich den Bus betrete, ruft MM an und sagt, ich soll mich wegen dem Streik erkundigen. Habe ich an dieser Stelle schon einmal geschrieben, dass alle meine Kinder immer schon das Wort Streik (sciopero) schreiben, verstehen und interpretieren konnten? Das Wort equilateral (gleichseitig) ist vergleichsweise anspruchsvoll für sie. Also erkundige ich ich wegen dem Streik. Streik? sagt der Busfahrer auf seine Art unwillig. Consorzio Autolinee streikt, die Buslinie, mit der ich fahre, nicht. Ok. In der Stadt lässt er uns aber früher aussteigen, weil der Autobusbahnhof besetzt ist und den Fahrgästen schwant Böses. Ich plaudere mit einem netten Fahrer und sage zum Schluss noch "speriamo bene" (hoffen wir Gutes). Die gute Hoffnung lasse ich aber fahren, als ich ins Büro der Busgesellschaft gehe, um mich zu erkundigen. Der Mann dort ist nahe an einem Kollaps und mir wird die Tragweite von 52 Prozent bewusst, die will die Region nämlich nicht mehr zahlen. Ich erfahre, dass der Streik vom Consorzio Autolinee ausgegangen ist und dass sich andere Busfahrer angeschlossen haben, aber welche und für wie lange wisse man nicht und außerdem hänge das von ihrer Gewerkschaft ab. Gewerkschaft, das Wort zergeht auf der Zunge. Ich bin nicht böse.
Ich will auch einmal pro Stunde in die Provinzhauptstadt fahren können und nicht nur alle 2 Stunden oder zum doppelten Preis.
Aber wie komme ich nach meiner Arbeit wieder nach Hause? Als ich auf dem Busbahnhof vorbeischaue, sagt mir eine Frau Carabiniere, dass dies ein "sciopero ad oltranza" sei. Offenbar geht der Streik, bis eine Übereinkunft erzielt wird. Ich habe noch die Hoffnung, dass einer der Fahrer nicht mitmacht, der, der seinen Autobus zum richtigen Zeitpunkt vor mich hinstellen wird. Aber alle Autobusfahrer sitzen in ihren hellblauen Hemden in einem kleinen Lokal, das "Tavola calda" (warme Küche) verspricht und manch einer schaut auf einen vielversprechenden Teller mit Gnocchi con sugo (e basilico). Ich gehe zur nächsten Haltstestelle und warte gemeinsam mit ein paar Leuten, zufälligerweise aus dem selben Ort wie ich, obwohl der Bus ca. 110 km zurücklegt. Nein, da kommt kein Bus. Also gehen wir zum Bahnhof. Das geht eine Zeit lang ganz gut und dann über in einen Weg neben einer Baustelle entlang an lieblos gestutzten Dornen. Ich verspreche, dass ich hier nicht meine ganz persönliche Beziehung zu den italienischen Staatsbahnen schreiben werde. Aber ich schwöre, es wird hier auch noch Raum finden.
Das Eierphone dient nun nicht mehr dazu, Fürst Andrejs langsamen Tod zu erzählen, sondern zur Organisation eines Mittagessens für das Kind, das eigentlich mit mir eine Pizza hätte essen sollen und zur Verschiebung eines wichtigen Zahnarzttermins. Und dann verschiebt sich der Horizont: aus dem Zug schaut unser Dorf auf eine Art mondän aus und es gibt wunderbare Strände. Das ist einfach die richtige Distanz.
Der Schaffner gestikuliert bedrohlich: Es ist alles seine Schuld. Nein nicht die des Schaffners, die von Berlusconi, un venditore di fumo, eines Rauchverkäufers, heiße Luft würde man bei mir zu Hause sagen.
Ja, aber das Problem ist das Klonen, denn in der Region Kalabrien sitzt nicht das berlusce Wesen, sondern ein fescher junger Mann namens Scopelliti und wie man sich denken kann, wurde der gewählt. Und wenn Pierre in "Krieg und Frieden" auszieht, um Napoleon zu erschießen, wünsche ich mir, jemand würde zumindest das Regionsparlament besetzen.

Mittwoch, 15. Mai 2013

Forever young


Ich bringe die Jugendlichen zur Probe des Orchesters, dorthin, wo der begnadete Dirigent wirkt, der leider so nach Zigarren stinkt. Aber daran denke ich nicht, als ich den Hügel hinunter zum Meer fahre. Ich höre Radio und da ist ein Lied, das ich schon lange kenne: Forever young. Der Name der Gruppe fällt mir nicht ein, aber sie singen auch ein anderes Lied mit dem Titel "Big in Japan". Das Lied ist aus den 1980er Jahren. Ich kenne das Lied auswendig. Ich drehe lauter. Die Jugendlichen schweigen beschämt. Schon wieder einer der peinlichen Ausfälle der Mutter. Mit laut schmetterndem Radio Auto fahren. Oh nein, bitte nicht.
"Let us die young or let us live forever, we don't have the power but we never say never." Ein Schock breitet sich in mir aus: Es ist zu spät. Ich kann nicht mehr um die Gnade eines frühen Tods bitten, ich bin nicht mehr jung. Janis Joplin und Jimi Hendrix waren halb so alt wie ich, als sie gestorben sind. Mir wird heiß. Was hab ich in den letzten 25 Jahren gemacht und wieso kann ich nicht mehr sagen: Love hard, live fast, die young? Ich bin überrascht. Dass mir das erst jetzt auffällt!
Eine Gnade ist mir doch zuteil geworden, wenn man es als solche bezeichnen kann: abgrundtiefe Naivität. Ich glaube immer noch, dass alles möglich ist und sich das Genie in mir doch noch ausdrücken wird können. Manches, was möglich oder auch nicht ist, interessiert mich eh nicht mehr. "But we never say never."
Mit der 1980er Boygroup im Ohr stürze ich in die Orchesterprobe und klopfe inmitten der Kakophonie dem Schlagzeug-Prof. gegenüber deutlich auf die Uhr. Mein Ziel ist, zu signalisieren, dass ich echt keine Zeit habe und das gelingt mir ganz gut. Ich muss meine Kinder kaum mehr wohin verfrachten, das machen jetzt immer die Profs selber, weil ich eine Art Girlande der Hysterie und Gereiztheit um mich geworfen habe, die kaum jemand zu ignorieren wagt. Ich schwebe wieder weg, die Girlande wippt leicht, wie blasierte Kusshände, um mich. Weder der Dirigent, noch der Schlagzeuglehrer, noch der Schulwart werden in diesem Leben meine Geliebten sein und darüber bin ich sehr froh, denn als ich dem frühen Tod entgegeneilte hätte ich das auch noch unterbringen müssen und heute habe ich Zeit, "Krieg und Frieden", wenn schon nicht zu lesen, dann doch immerhin zu hören. Das hätte ich nicht gekonnt, wenn ich jung gestorben wäre.
Aber jetzt habe ich Angst, dass ich für immer leben muss.
Meine Mutter sagt: "So wie die Buben manchmal Fieber bekommen und danach gewachsen sind, geht es mir manchmal schlecht und ich entwickle mich rückwärts. Ich bin jetzt alt und hässlich." "Aber nein, hässlich bist du nicht." sage ich automatisch. "Doch", sagt meine Mutter.
"Let us die young or let us live forever." Ein Fluch, anyway.

Samstag, 11. Mai 2013

Pazienza

heißt auf italienisch Geduld und wird häufig gebraucht. Seit vielen Jahren versuche ich zu verstehen, ob Pazienza heißt: "Man muss Geduld haben, dann werden sich alle Probleme lösen.", oder ob Pazienza heißt: "Da kann man halt nichts machen."
Wenn ich zwei Mal pro Jahr das Zugticket in die große Stadt kaufe, wappne ich mich mit viel Pazienza. Ich muss dazu auf einen 20 Minuten entfernten Bahnhof fahren und ich weiß schon, dass ich das mehrmals tun muss, denn es klappt nie beim ersten Mal, aber immer passiert auf diesem Bahnhof etwas, was wert wäre, aufgeschrieben zu werden. Diesmal handelt es sich um den Aushang, den ich vor dem unbesetzten Schalter finde: Dieser Ticketverkauf ist vom 7.- 10.5 von 13:43 - 20:57 geöffnet. Da bekommt man Lust zu rechnen, stimmts? Und es ist tatsächlich keiner da um 12 Uhr. Es handelt sich um einen Aushang der Ferrovie dello stato, also kann man auch keinen abwesenden Schalterbeamten beschuldigen. Aber der Bahnhof ist groß, sonst wäre ich ja nicht hier. Kleinere Bahnhöfe sind ja schon lange mit nicht funktionierenden Self-Service-Ticket-Maschinen ausgestattet. Immerhin habe ich damit gerechnet und bin nicht weiter beunruhigt.
Ich will die frei gewordene Zeit nutzen und die Fotos von der Tanzveranstaltung im letzten Jahr abholen. Bezahlt sind sie schon, muss ich zu meiner Ehrenrettung sagen. Ich fahre eine Straße hinauf und bleibe vor großen Betonblöcken stehen. Dahinter befindet sich ein großer Erdhaufen, der auf die Straße gerutscht ist. Aha, daher kam mir das kleine Auto mit der erinnerungswürdigen Aufschrift "Nannini", das vor dem Bahnhof an mir vorbeigefahren ist, kurz darauf wieder entgegen. Noch einer, der nicht automatisch wusste, dass diese Straße gesperrt ist. Kein Schild weist auf die nicht benutzbare Straße hin. Wozu auch, wenn man davor steht merkt man es ohnehin und so eilig wird man's schon nicht haben, oder?
Auf einem Umweg gelange ich doch zum Fotografen. Sein Geschäft ist ein enger, langer Schlauch, in dem gerade zwei Personen nebeneinanders stehen können, wenn sie sich kennen. Unbekannte Kunden stehen hintereinander. Vor mir steht einer, zu dem der gutaussehende, wenn auch in die Jahre gekommene Fotograf, Tonino genannt, soeben sagt: "Das ist ein Grund! Mein Vater, dem INDAP (ich glaube, das ist die staatliche Pensionsstelle) 200 Euro Pension gibt und er sitzt im (pantomimische Darstellung eines Rollstuhls, der mit 80 kmh dahin fetzt)." Wofür das ein Grund ist, weiß ich noch nicht, aber als der andere Kunde den Laden verläßt, nachdem ich böse geschaut habe und Tonino mich auch böse angeschaut hat, erfahre ich es: "Man braucht ein Maschinengewehr. Finden Sie nicht?" sagt Tonino, während er die Fotos sucht. Da bin ich aber ganz seiner Meinung. "Ja, manchmal schon." sage ich zurückhaltend. Ich kann ihm ja jetzt nicht sagen, dass ich eine Pumpgun will, ich weiß nicht, auf wessen Seite er steht. "Anders geht's nicht mehr." Er durchsucht erfolglos die Reihen an Kuverts, die da lagern und ich bekomme Herzklopfen. Nicht meine schon bezahlten Fotos nicht finden, bitte! Er unterbricht seine Suche und wendet sich mir zu. "Ich sage nicht, dass der Mann, der auf die Carabinieri geschossen hat, recht hat." Aha, es gab also einen inspirierenden Vorfall. "Nein", sage ich. Soll ich sagen, dass Carabinieri auch nur Menschen sind? Tonino nimmt mir die Entscheidung ab und sagt: "Ich sage auch nicht, dass man wirklich schießen soll, aber man muss ihnen Angst machen. Timore!" Ich nicke. Ich habe Angst, dass er meine Fotos nicht findet. Mir ist immer noch nicht klar, wem er Angst machen will. "Wir Bürger sollten uns vereinigen und Gewehre nehmen. (Hat er gesagt "unsere" Gewehre?) Und dann stellen wir die Politiker in einer Reihe auf. Und dann werden wir ja sehen, ob sich die Polizei vor sie oder hinter sie stellt. Wenn sie sich vor sie stellt, dann heißt das: Krieg!" Ich nicke wie einer von diesen Spielzeughunden, die in den 70er Jahren auf den Autoablagen standen und ununterbrochen den Kopf auf und abbewegten. "Aber dann müsste man ihnen einen Katheter ansetzen!" sagt Tonino verächtlich. Wieso wechselt er das Thema jetzt zum Krankenhaus, denke ich, dann verstehe auch ich. Ich lache. Das feuert Tonino an: "Windeln muss man ihnen anlegen, weil sie sich anmachen werden vor Angst!" Ich weiß immer noch nicht wer, die Politiker oder die Polizei, aber ziemlich wahrscheinlich beide. "Die Carabinieri," sagt er und blättert wieder in den Kuverts herum, nachdem wir ein paar Varianten des Namens der Kinder durchgegangen sind, "die Carabinieri halten auf der Autobahn LKWs auf und konfiszieren Computer. Die behalten sie dann selber und geben sie ihren Kindern. Oder in der Schule. Zuerst bekommen die Professoren und ihre Kinder. Und wenn ich sage: und meine Kinder? Leider nichts mehr da." Klingt nach Albanien, stimmt aber wahrscheinlich.
Er hat die Fotos gefunden und knallt sie mir vor die Nase. Sie waren unter einer originellen Version des Vornamens des Kindes eingeordnet. Die Fotos sind gut, er ist ein guter Fotograf und jetzt macht er wieder das Zeichen des Durchladens eines Gewehrs. "Man kann nur schießen, sage ich. Habe ich nicht recht? Und dabei bin ich Demokrat!" Jetzt, wo ich die Fotos habe, mache ich mir Sorgen, dass ich den Autobus in die Provinzhauptstadt verpasse. Ich nicke jetzt rascher, in der Hoffnung, dass ich so schneller aus dem Laden komme. Aber Tonino weiht mich nun ein: "In unserer Stadt gibt es 2800 Grillini, Sie wissen schon, die Grillo gewählt haben. Ich sage zu ihnen: wenn wir unser großes Fest habe, warum stellen wir uns nicht schweigend auf die Straße, um zu protestieren. Aber nein, da ziehen sie sich lieber für 200 Euro, und wer weiß, wann sie die bekommen, eine Verkehrshilfe-Jacke an und pfeifen die Autos herum. Nichts haben sie gemacht. Also wundern Sie sich nicht, wenn ich finde, man kann hier Probleme nur mehr mit dem Gewehr lösen. Wie in Amerika." Auweia, jetzt hat er mir mein Argument, sollte ich aufgefordert werden, zu sprechen, aus dem Mund genommen und ich muss aufhören zu nicken. "Demokratisch, wie in Amerika. Mit der Waffe in der Hand, aber demokratisch." In seinen Ausführungen stellt er gerade Indianer und Weiße mit großen Gesten gegenüber, als ein alter Mann mit einem adretten blauen Blazer den Laden betritt. Am Revers trägt er eine Nadel, die für etwas steht, das Toninos Aufmerksamkeit erregt. "Donnerwetter, wie elegant..." beginnt er den Alten in ein Gespräch zu ziehen. Ich bin nicht beleidigt. "Arrivederci!" rufe ich fröhlich und laufe erleichtert auf die Straße. Das nächste Mal schießen wir in Gedanken weiter, Tonino.
Dem ist eindeutig die Pazienza abhanden gekommen.

Übrigens ist am Sonntag Muttertag und anlässlich dessen hat das Kind in seiner Klasse mir ein Zeugnis ausgestellt. Ich habe unverhofft gute Noten bekommen, vor allem die Bestnote in Sportlichkeit und Autofahren freut mich, für Geduld habe ich aber nur die Note 9 statt 10. Neben der Wertung hat das Kind eine Frau mit zu Berge stehendem Haar gezeichnet, aus deren Kopf Rauchschwaden dringen. Die Augen sind extrem vergößert, ich nehme an, es handelt sich um die Illustration des Satzes: Die Augen quollen aus ihren Höhlen. Ich trage dieses Urteil mit Fassung und immenser Pazienza.