Dienstag, 19. Dezember 2017

Ti regalo una rosa

Mein Titel hier ist der Titel eines Liedes von Simone Cristicchi, das 2007 beim italienischen Liederfestival in San Remo gewonnen hat. Es erzählt von einem Brief, den ein alter Mann, der 54 Jahre in einem Irrenhaus lebte, an seine Geliebte geschrieben hat. Schreiben würde, geschrieben hätte, ich weiß es nicht. Eigentlich heißt es: Ti regelerò una rosa. Ich werde dir eine Rose schenken. Ich muss seit gestern dauernd an das Lied denken, es schwirrt durch meinen Kopf.

In der nun folgenden kleinen Geschichte geht es um einen Jungen, der meinem Sohn eine Rose schenkt. Mein Sohn ist der einzige Beweis für mich, dass sich die Gesellschaft in den letzten 35 Jahren weiter entwickelt hat, denn mein Sohn wusste mit 15 Jahren, wen er begehrte und was er machen wollte. Hätte ich das in seinem Alter gewusst, dann hätte ich es garantiert nicht meiner Mutter erzählt. Aber mein wunderbares Kind, Ex-Tänzer, Ex-Harfespieler, Ex-Reluctant-Fußballer ist zu einem langbeinigen Herzensbrecher mit perfekt reguliertem Gebiss (dessen Geschichte hier in zahlreichen Einträgen, die nach endlosen Fahrten in die Zahnklinik entstanden sind, nachzulesen ist) und Bartanflug geworden.

Am Sonntag fragt er mich, was ich antworten würde, wenn mir jemand ein Geschenk machen wolle und ich wolle das nicht und der andere würde wissen wollen, warum nicht. Perchè? Ich schaue lange aus dem Fenster. Ich antworte: Du könntest sagen, es bedarf keiner Geschenke.
Er gibt einen Laut zurück, der mir signalsiert, dass ich nicht den Punkt getroffen habe.
Ich versuche es noch einmal: Du könntest sagen, es gibt keinen Grund, es gibt kein Perchè, du möchtest es einfach nicht.
Komischerweise wird das akzeptiert.

Ich denke nicht weiter über diese Episode nach, ich habe mich in den letzten 2 Jahren so ausgiebig mit Ringen und Geburtstagen und stundenlangen monotonen nächtlichen Telefonaten aufhalten müssen, dass ich über jede Beziehungskrise meiner Söhne, über die ich nicht informiert werde, dankbar bin.

Aber dann steigt das Kind gestern mit einer Rose aus dem Autobus, er hält sie in der Hand und schaut unangenehm berührt. Aber er hat sie nicht weggeworfen.
Ein Junge aus seiner Schule ist zu ihm in die Klasse gekommen und hat ihm, vor allen anderen, diese riesige rote Rose geschenkt. Aber mein Sohn empfindet nichts für ihn.
Der Junge hat meinen Sohn gefragt, ob er ihn umarmen wolle. Mein Sohn antwortete, dass er ihn nur wie einen Freund umarmen könne. Daraufhin hat der Junge gesagt, dann wolle er keine Umarmung und er hatte Tränen in den Augen. Ein paar Mädels aus der Klasse haben ihn dann umarmt. Zum Trost.

Ganz abgesehen davon, dass ich mich frage, was das für öffentliche Umarmungen zwischen zwei Jungs sein sollen, die über die Freundschaft hinausgehen, rührt mich die Vorstellung, dass ein Junge, der vielleicht auch 15 oder 16 ist, einem anderen eine Rose gibt. Er muss entweder verrückt sein, oder mutig. Vielleicht hat das eine mit dem anderen zu tun.

Ich sage: Ist aber mutig von ihm, oder ist er dumm?
Nein, er ist nicht dumm, antwortet mein zerknirschter Sohn. "Was soll ich tun, wenn ich nichts spüre, wenn ich an ihn denke?"
Der Junge hat ihn am Vortag gefragt, welche CD von Taylor Swift mein Sohn nicht besitzt, um ihm diese zu kaufen. Vor meinem inneren Auge eilt ein Junge in einen Multimediastore, wie ich annehme dass die Läden heute heißen, die zu meiner Zeit Plattengeschäfte waren. Dort gibt er sein Taschengeld für eine CD von Taylor Swift aus, um meinem Sohn eine Freude zu bereiten. Warum bewegt mich dieses Vorhaben so?

Als ich noch ein Vorschulkind war, sang mir meine Mutter manchmal ein Lied vor, in dem ein junger Mann seiner Geliebten ein Edelweiß pflücken wollte, auf einen Berg stieg, abstürzte und tot war. Ich war dabei sehr ergriffen und schluchzte in die Kleiderschürze meiner Mutter. Manchmal bat ich sie sogar, mir das Lied vorzusingen, weil ich Rotz und Wasser heulen wollte.

Ich habe aber noch nie über jemand anders weinen müssen, der bei einem Bergunfall ums Leben gekommen war. Es geht um die Liebe, die uns dazu bringt, unfassbare Dinge zu tun, auf Berge zu steigen, in Plattengeschäfte zu gehen, Playlists zu gestalten, Briefe zu schreiben, Rosen zu kaufen. Sich auszuliefern, Geständnisse zu machen, sich öffentlich zu blamieren. Die Liebe macht uns mutig, anders kann es nicht sein.

P.S.: Ich habe mir überlegt, ob diese Episode aus dem Leben meines Sohns zu privat ist, um so zugänglich gemacht zu werden, aber erstens hat mich das sowieso noch nie gekümmert, weil das Private ja eh politisch ist, zumindest war das einmal so, und zweitens kennt eh niemanden die Beteiligten, und wer meinen Sohn kennt, dem hätte ich die Geschichte auch persönlich erzählt.


Montag, 18. Dezember 2017

Dal Parrucchiere

Eigentlich hatte ich mir vorgestellt, mein nächster Blogeintrag trüge den Titel "Schluss mit der Italophilie" und würde ganz und gar unwitzig darlegen, warum die Italiener nicht ein Volk sind, das zu leben versteht, sondern vielmehr ein Haufen von Baby-Greisen, die sich nach dem Mittagessen niederlegen müssen, nicht einzelne Persönlichkeiten mit Hang zum Drama, sondern viele Menschen, die an einem befreundeten Partner schreiend ausprobieren, was sie sich dem richtigen Gegner nicht zu sagen trauen, nicht Feinschmecker, sondern übergewichtige Menschen, die ihr Auto immer in dritter Spur vor dem Alimentari parken, weil sie sonst ein paar Schritte zu Fuß gehen müssten usw. Man sieht, keine gute Laune in Bezug auf mein Gastland. Doch es kam nicht zu diesem Pamphlet, denn zuvor bin ich zum Friseur gegangen und dadurch ist mein Blick angenehmer Weise ein wenig unscharf geworden und ich habe noch dazu eine super Frisur.

Ja, ich habe den Mann gefunden, der mich versteht. Zuvor war ich noch ein wenig grantig, da bei den drei Bankomaten beim Banco di Napoli die Leute so lange gebraucht haben, weil sie sich gegenseitig erzählen mussten, wie lange sie letztes Mal vor dem Schalter warten mussten  (45 Minuten!) und dass der Schwager des Mannes, der vor mir Geld behoben hatte und dem ich noch seine vergessene Quittung reichen musste, an einem Herzinfarkt gestorben war, obwohl er doch Bankbeamter war, was also ja wirklich ein Witz sei.

Ich war in die Stadt gefahren mit etwa 50 alten Schulbüchern, also alt, aus den letzten Jahren halt, die ich gedachte zu verkaufen. Die Frau in dem Buchgeschäft schaute mit mitleidig (abfällig?) an und kaufte mir ein Buch für 6 € ab, alle anderen waren nicht mehr in Gebrauch. Ich sagte zu der Frau "Im Business der Schulbücher müsste man arbeiten" und schämte mich dann für meine Geschmacklosigkeit. Ich beschloss allerdings, aus der Not eine Tugend zu machen und die viele Zeit, die ich durch die extrem rasche Abhandlung des Schulbuchverkaufs gewonnen hatte, zu nutzen und zur mutigsten Tat der letzten 10 Jahre zu schreiten. Ich würde zum Friseur gehen und sagen, dass ich meine Haare assymetrisch schneiden lassen wollte.

Ich hatte schon einen Coiffeur ausgesucht, was sehr schwierig ist, denn in der Stadt gibt es definitiv mehr Friseure als Lebensmittelgeschäfte. Sogar mehr als Läden für Telefonie.

Man muss wissen, dass ich eigentlich einen sehr unkomlizierten Umgang mit meinen Haaren hatte, bis vor etwas mehr als 10 Jahren eine Friseurin in einem Ort an der Küste mir zu einem Trauma verhalf. Fröhlich vor sich hinquatschend und mit anderen Kundinnen über andere Kundinnen redend schnitt sie mir die Haare zu kurz. Ich sagte: "Das ist zu kurz." Ich hätte auch sagen können: "Der Krieg ist verloren." Und sie sagte: "Aber was, das ist gut so." Ich fand es nicht gut und trug eine Woche lang ununterbrochen eine Wollmütze. Ja, auch in der Nacht. Nein, nicht einmal mein Mann wusste, wie es auf meinem Kopf aussah und wie es in meinem Kopf aussah sowieso nicht.

Später, als die Haare wieder gewachsen waren, habe ich Friseurinnen nur mehr erlaubt, alle Haare unten gerade abzuschneiden. Dieser Zustand dauerte eben um die 10 Jahre und hat mir Beleidigungen von wohlmeinenden Kolleginnen an der Universität von Kalabrien eingebracht, die mich fragten, ob ich nicht mal zum Friseur gehen wolle, denn ich sähe aus wie eine traurige Madonna und ob ich nicht auch an meinen Mann denken müsste. Nein, fand ich nicht, aber wenn ich es genau betrachte, hat sich mein Mann vielleicht genau für diese meine Ingnoranz gerächt, indem er auch nicht mehr zum Friseur gegangen ist und sein mittlerweile wallendes Haar zu einem Zopf zusammenfasst.

Auf jeden Fall war es soweit, ich war bereit, mich wieder auszuliefern. Ich hatte bei diesem Friseur schon vor zwei Wochen gefragt, wieviel ein Haarschnitt kosten würde. 28 €. Das war mir das Risiko wert. Die junge Frau, der Lehrling vermutlich, bat mich 15 Minuten zu warten, eine Frau mit reichlich Alufolie auf dem Kopf musste noch fertig betreut werden. Ich nahm Platz und kurz darauf stellte ein Mann, von dem ich nicht wusste, in welchem Verhältnis er zu dem Laden stand, die Frage, wer einen Kaffee wolle. Das war die einzige richtige passende und alles ins richtige Licht rückende Frage. Die Lehrlingsfrau, der Friseur, der 2. Friseur, die Frau mit dem Alu auf dem Kopf und eine andere Kundin äußerten ihre Wünsche. Nahm der Mann mich wahr? "Und Sie, Signora?" "Ja, gern!" schrie ich. Schrie ich? "Macchiato?" "Ja, gut." Ich trinke keinen Kaffee mit Milch, aber normalerweise esse ich etwas zum Kaffee, das konnte ich hier nicht verlangen. Kaffee mit geschäumter Milch war ok. Und dann kam ich auch schon dran. Ich durfte mich in einen Friseurstuhl setzen und der Friseur, der hinter der Frau mit der Alufolie stand und etwas unter die Folie schmierte, sagte: "Signora, haben Sie schon etwas gesehen?" Gesehen? "Ja", sagte ich. "Aber nur in meinem Gehirn." Oje, falsche Aussage. Der Friseur wusste nicht, ob er lachen sollte oder die Carabinieri anrufen. "Ich will eine Seite kurz und eine lang." Ok, er hielt mich für verrückt. Eh klar. Aber, ich schwitzte nicht, ich war nicht hochrot im Gesicht, alles sprach dafür, dass ich dieses Erlebnis mit der nötigen, 10 Jahre lang trainierten Resilienz hinter mich bringen würde. Ich dachte, ich könnte, wenn alles schief ginge, danach auch zur Parrucchiera Giovanna gehen, die sogar einmal eine kleine Abweichung in meine nur gerade abzuschneidenden Haare bringen durfte, die aber nicht als erste Wahl galt, weil auch sie dauernd mit Kundinnen über TV-Sendungen redete.
Alles war noch gut, außer dass der Kaffee nicht kam. Wieso das denn? Der Mann war doch in die nächste Bar gegangen und wieder zurückgekommen. Es stellte sich heraus, dass er der Mann der Frau mit der Alufolie auf dem Kopf war. Das Ehepaar schaute auf seine jeweiligen Smartphones. "Ich finde kein Spiel mit 4K." sagte der Mann. "Giovanni, vergiss nicht, dass wir am Montag eine Präsentation haben." Die Frau wurde mir sympathisch, obwohl sie sich kurz vorher ins Out geschossen hatte, weil sie mit der Lehrlingsfrau über der Gesundheitszustand einer Präsentatorin einer Fernsehsendung unterhalten hatte. Aber nein, sie sah nicht nur fern, sie präsentierte selbst etwas, wenn ich auch nicht herausgefunden habe, was.

Die Lehrlingsfrau hängte mir ein schwarzes Tuch um die Schultern. Sie fragte mich, ob es zu eng um den Hals sei und ich fand sie nett. Der Friseur schaute mich streng über den Spiegel an und fuhr mir mit dem Kamm durchs Haar. Ich hatte die Haare nicht gewaschen. Er begann, zu schneiden. Die Seite, die ich kurz wollte. Ob man hier nicht das Haar gewaschen bekam? War das nicht Teil des potentiellen Vergnügens? Und der schnitt einfach so drauf los? Ich hatte ihm erklärt, welche Seite kurz sein sollte und welche lang. Ich fühlte mich nicht elend. Ich war noch immer nicht rot im Gesicht. Ich sah den Friseur bei seiner Arbeit, er war aufmerksam. Keine Erwähnung von Fernsehsendungen, keine anderen Kundinnen. Der Ober aus der Bar von nebenan kam und er hatte ein Tablett mit einigen Kaffeetassen, die mit Alufolie bedeckt waren, wie der Kopf der Frau im Nebenstuhl. "Trinken Sie ruhig Ihren Kaffee, Signora." Wir tranken alle Kaffee, die Frau mit der Alu-Verzierung auf dem Kopf hatte auch ein Croissant bekommen. Sie bot der Lehrlingsfrau ein Stück davon an. "Nein, danke", sagte die. "Wirklich nicht, aber es ist so, als hätte ich es angenommen." "Und Sie, Signora? Möchten Sie ein Stück?" "Nein, danke," beeilte ich mich zu sagen. In Wirklichkeit hätte ich sagen müssen: Danke. Danke. Danke. Sie haben mich mit meinem Leben versöhnt. Ich weiß schon die längste Zeit nicht mehr, was ich in Kalabrien mache und was mir da je gefallen hat. Aber es ist das: Man bekommt beim Friseur von einem Kunden einen Kaffee angeboten, ein Kellner kommt und bringt richtig guten heißen Kaffee und Sie bieten mir ein Stück von Ihrem Kipferl an, als wären wir im selben Boot und aufeinander angewiesen. Das gibt es sonst nirgendwo.

Ab dann ging alles nur noch gut. Der Friseur schnitt und schwieg. Er redete nur einmal über Lasagne. Das war ok. Er wollte nichts von mir wissen. Ich musste nicht einmal über das Wetter reden. Nach dem Schneiden wusch mit die Lehrlingsfrau die Haare. Sie sang dabei.
Danach fragte mich der Friseur, ob ich die Haare glatt geföhnt haben wollte. Nein, sagte ich, denn so seien sie ohnehin nur einmal. Der Friseur ließ mich nicht wirklich spüren, dass er mich für verrückt hielt. Er föhnte mir die Haare lockig. Er fuhr mit seinen kräftigen Händen durch mein Haar und ich hätte fast zu schnurren begonnen. Ich wollte eigentlich sagen: "Strengen Sie sich nicht so an, ich muss nicht so engelhaft aussehen." Zum Schluss fragte er mich, ob ich eine Locke akzentuiert haben wolle. Er zeigte mir den Lockenstab, um seine Frage plastisch zu gestalten, aber weder der Lockenstab noch das Wort "akzentuiert" lösten ein Bild in mir aus und ich lachte nur. Er lachte auch. Ich hatte plötzlich einen assymetrischen Lockenkopf. Ich fühlte mich wie der absolute Winner. He Leute, ich habe einen Friseur gefunden, der mich versteht! Der Friseur, der übrigens eine Warze mitten auf der Nase hatte und einen kleinen Bauch, der ausschaute, wie ein verschluckter Santos-Fußball, war mindestens so guter Laune wie ich.

Es gab nur noch eine Hürde zu überwinden: Konnte dieses mich in vielerlei Hinsicht vollkommen zufriedenstellende Event wirklich nur 28 € kosten? Musste ich meine neue Freundschaft durch Insistieren auf dem mir genannten Preis zerstören? Nein, musste ich nicht. 28 €. Ich lief noch einmal mit meinen wippenden Locken durch den Laden und bedankte mich bei der Frau mit der Alufolie. Ich war sehr froh, keine andere Haarfarbe als meine eigene zu wollen, denn die Prozedur der Dame war viel aufwendiger als mein kleiner Wirbelwindschnitt.

Ich versuchte sogar, Selfies von mir zu machen, und selbst dabei fand mich niemand komisch. Ich holte das Kind von der Schule ab und er sagte: "Was für seltsames Haar!"
Nicht einmal diese Aussage erschütterte mein neues Glück aufgrund meinr Versöhnung mit der Welt der Frisiersalons und meines zeitweiligen Waffenstillstands mit Kalabrien und seinen 2 Millionen Einwohnern.

Samstag, 18. November 2017

Humor bitte!

Ich habe auf vielen Seiten das Leben mit meinen Kindern beschrieben und habe dabei versucht, ehrlich zu sein. Mein Freund der Schriftsteller, der diese Seiten gelesen hat, war enttäuscht. Erstens ginge es allen Eltern so. Das hat mich überrascht. Wieso wusste ich das nicht? Zweitens könne man das, was ich da beschreibe, nämlich wie sich die aufführen, ja auch anders sehen, mit Humor zum Beispiel, dann wolle es jemand anders vielleicht auch lesen.

Heute Morgen habe ich im Radio gehört, dass die türkische Autorin Elif Shafak den vom Österreichischen Buchhandel gestifteten Preis für Toleranz in Denken und Handeln erhalten hat. Mit ihren Büchern hat sie sich in der Türkei alles andere als beliebt gemacht. Ihre Fotos wurden verbrannt und ihren Romanfiguren der Prozess gemacht. Das könne man ja schon wieder lustig finden, meinte der Gestalter des Beitrags. Doch  Frau Shafak, und nicht nur ihr, mangelt es am entsprechenden Humor. Wenn ein Land seine Demokratie verliere, verliere es auch seinen Humor, stellt sie im Interview fest.

Ich bleibe mit den Tellern, die ich gerade aus dem Geschirrspüler genommen habe, stehen. Ich glaube das auch. Auch wenn ich weiß, dass in Albanien, bevor das Land zu einer Demokratie wurde, viele Witze erzählt wurden. Vielleicht, weil man nach vorne schaute, und nicht zurück.

Eines Tages werden wir über all das lachen. Wirklich?

Was hat aber nun der folgenschwere Verlust der Demokratie in einem Land wie der Türkei mit dem Verlust meines Humors im Alltag zu tun?

Ich kann nicht mehr lachen, weil ich, um meine Kinder auf Schulen zu schicken, sehr viel arbeiten muss. Meine Kinder bekommen in Italien, seit sie 18 sind, keine Unterstützung vom Staat. Davor haben wir 70 € im Monat für sie bekommen, etwa die Summe, die ich für einen Sohn pro Monat für den Autobus zahle. Für jenen Sohn, der in der Provinzhauptstadt in die Schule geht, gebe ich über 100 € im Monat für Transportkosten aus. Seit 10 Jahren kaufe ich jeden Herbst um mehrere hundert € Schulbücher. Ich spreche von Pflichtschulen, nicht von Universität.
Na und? Italien ist schließlich eine Demokratie, mach dich nicht wichtig, Dattilografa.
Nein, Italien ist nur auf dem Papier demokratisch, denn ein demokratisches Land müsste aktiv für die Bildung ihrer Bewohner sorgen und diese nicht durch Gesetze vorschreiben, durch Taten aber verhindern. In einem demokratischen Land müssten die erwachsenen Menschen und vor allem die Lehrer, den jungen Menschen das Gefühl geben, dass ihre Anstrengungen etwas wert sind, dass Bildung ihnen die Welt öffnet. Dass ihnen die Welt prinzipiell offen ist und dass sie diese und natürlich ihr eigenes Leben kraft ihres Geistes gestalten könnten.
Meine Kinder sind jedoch mit wenig Instrumentarien zur Autonomie ausgerüstet worden und ich will mir nicht mehr die Schuld dafür geben. Vielleicht bin ich aber schuld daran, weil mir das Lachen vergangen ist.

Meine Kinder wollen weg, weil sie wissen, dass in Süditalien die Jugendarbeitslosigkeit extrem hoch ist. Aber sie ziehen keine Konsequenzen aus diesem Wissen. Sie setzen keine Schritte, wie beispielsweise Fremdsprachen lernen, seinen Führerschein als wertvolles Gut erhalten und ihn sich nicht bei Drogenkontrollen wegnehmen lassen.

In einem Land ohne Demokratie gibt es kein freies Denken mehr.

Natürlich kann ich nicht behaupten, ich würde von der Polizei abgeführt werden, wenn ich mich vor das Rathaus unseres Ortes stelle und schreie: "Ihr Arschlöcher habt mir den Humor geraubt und außerdem werde ich euch verklagen, weil ich hunderte von Euro für die Mülltrennung zahle, die überhaupt nicht stattfindet, ihr STRONZI!" Beim letzten Teil des Satzes wird meine Stimme überkippen und ich werde mich schämen, dass ich so grausliche Worte verwende und vielleicht wird ein Wachmann kommen und sagen: "Signora, beruhigen sie sich, machen sie sich keine Sorgen." Nein, er wird mich nicht schlagen. Vielleicht gehen wir sogar einen Kaffee trinken, denn solange ein Kaffee 80 Cent kostet, kann man noch großzügig sein und Einladungen aussprechen. Es wird ihm sehr leid tun, dass ich für alles so viel zahlen muss, weil mein Mann ein staatliches Einommen hat und wir keine eigene Steuererklärung abgeben können und nicht so arm und unterstützenswert sind, wie viele Anwälte und Ärzte, deren Mercedes auf Großtanten angemeldet sind.
Nein, das ist nicht erfunden, und es ist nicht lustig.

Der Verlust der Demokratie bedeutet den Verlust des Humors und der Verlust der Demokratie beginnt mit dem Glauben, nichts verändern zu können. Dieser Glaube herrscht in Süditalien seit über 100 Jahren und hat das Entstehen einer Parallelmacht ermöglicht. Das Wahlverhalten wird durch persönliche Bekanntschaften, Versprechungen und Einschüchterung beeinflusst.

Ich freue mich, dass es noch Preise gibt, in denen Toleranz im Denken und Handeln gewürdigt werden, ich freue mich, dass ich in der Früh Radio hören kann und ich bin dankbar über meinen Geschirrspüler. Ich werde die Teller in den Schrank stellen und mich den Rest des Tages mit Strategien zur Rückeroberung des Humors beschäftigen. Ich weiß jetzt, dass diese mit dem Bestehen auf demokratischen Strukturen zu tun haben müssen.


Sonntag, 10. September 2017

Nonno Saverio

Meer rauscht. Zikaden reiben ihre Beine. Sommer verschissen. So müde, aber keine Chance auf eine Einlieferung ins Spital und das weiße Nachthemd.

MM steht im Keller. Ich klettere die Treppe hinunter. Er presst die Weintrauben aus. Er sagt: Du kommst mit einem Glas in der Hand, das freut mich. Ich sage, ja, das ist, was man in einem Keller macht.
Gestern hat er die Weintrauben abgeschnitten und ich habe sie mit dem ehemaligen Kind durch eine Weinpresse gejagt. Ich habe sie zerquetscht, aber erst heute wurden sie in dieser pittoresken Weinpresse gepresst.  Es werden über 150 l sein, was mich frohlocken lässt. Es ist ein wunderbarer tiefroter Saft.
Als ich mit dem Weinglas dastehe, weil dieser Keller der einzige Ort ist, an dem wir reden können, weil überall Jugendliche sind, die uns belauschen, über die genau wir aber reden wollen, sagt MM, er müsse an seinen Großvater denken, einen eleganten Mann im Schnürlsamtanzug, der mit zwei Weingläsern vor seinem Keller gesessen sei und alle zum Trinken eingeladen hätte. Sogar der Bus der Linie hätte gehalten und ein Glas mit ihm getrunken. Ich nehme an, nicht der Bus, sondern der Fahrer. Und dennoch hätte er seinen Goßvater nie betrunken gesehen.
Das sind romantische Geschichten von früher.
Ich mag das. Aber gleichzeitig sagt mir Großvater Saverio nichts darüber, was ich jetzt machen soll. Wo die Freundin meines Sohnes von zu Hause weggelaufen ist und im Zimmer des ehemaligen Kindes mit meinem Sohn nächtigt, während das ehemalige Kind im Fernsehzimmer auf einem Sofa schläft.

Das ist auch nicht das Problem. Das Problem ist, dass dieses Mädchen von zu Hause weggelaufen ist und die Eltern sich keine Sorgen machen. MM sagt: sag ihnen, dass sie gut angekommen ist. Aber das sage ich nicht. Denn heute morgen, als ich mit der Mutter mit dem hohen Blutdruck telefoniere, und ihr sage: Bleib ruhig, nichts ist passiert, niemand ist verletzt und niemand hat Entscheidungen getroffen, die nicht mehr rückgängig sind, sagt sie: Doch, mein Mann und ich sind verletzt, uns geht es schlechter als schlecht.

Nein, sie machen sich keine Sorgen um ihre Tochter. Ihre Tochter schläft in den Armen meines Sohnes und das ist ihnen ganz egal. Sie haben, wie sie mir sagen, einen Studienabschluss für ihre Tochter vorgesehen. Sie sagen mir mehrmals, dass sie absolut nichts gegen meinen Sohn haben. Sie sagen das so oft, dass ich sagen muss, das wäre mir auch im Traum nicht eingefallen.

Ich bin auch sehr oft verletzt. Manchmal bin ich unverzeihlich getroffen und es kommt vor, dass ich unversöhnlich bin. Wenn es um Erwachsene geht, ziehe ich Konsequenzen. Wenn es um Jugendliche geht, ziehe ich Konsequenzen, die ich revidiere.

Wenn ich meine, es ist nichts passiert, dann meine ich, niemand ist an einem Drogentod gestorben, niemand hat sich vor einen Zug gestürzt. Es gibt keine Schwangerschaft.

Die Mutter der Freundin meines Sohns fragt mich, ob man sich, für alles, was man getan hat, nicht doch ein bisschen Anerkennung erwarten könne. Ich bin verzagt mit meiner Antwort, ich glaube, ich will ihr nicht die Antwort geben, die ich weiß. Ich sage, vielleicht später einmal.

Ich denke, dass Nonno Saverio das ähnlich gesehen hat. Und ich hoffe, er hätte mir das zweite Glas angeboten, auch wenn ich daran zweifel, denn in Süditalien ist Weintrinken eine Sache für Männer und Familie eine Sache für Frauen.

Samstag, 9. September 2017

High Pressure

Die Mutter der Freundin meines Sohnes hat jetzt, nach den diversen Auseinandersetzungen, die wir einen halben Tag lang telefonisch diskutieren mussten, einen so hohen Blutdruck, dass selbst ihr Mann sagt: "Ich habe jetzt wichtigeres im Kopf, als an die Kaprizen meiner Tochter zu denken."

Nun stelle ich mir vor, wie angenehm, es sein muss, mit einem weißen Nachthemd in einem Emergency Room gerollt zu werden, mit einem so hohen Blutdruck, dass alle sagen, wurscht, was sonst passiert, das ist jetzt das Wichtigste.

Ich würde mich dann im Nachthemd zusammenrollen und denken: Leute, lasst mich schlafen.

Meine Mutter macht das regelmäßig: Sie ruft die Rettung, weil sie einen zu hohen Blutdruck hat. Dann kommt sie ins Spital. Dann bekommt sie Tabletten.  Ich verstehe nicht, dass es nicht gelingt, meiner Mutter die richtigen Tabletten zu geben, damit sie nicht mehr die Rettung rufen muss.

Ich verstehe das alles überhaupt nicht.

Dabei ist es noch nicht so lange her, dass ich aufgewacht bin, mit einem solchen Ärger über einen meiner Söhne, und mein Herz so heftig klopfte, dass ich dachte, jetzt und jetzt springt es mir aus der Brust. Vielleicht hatte ich da auch hohen Blutdruck.

Tage später habe ich den leuchtenden Kreis im Auge gesehen, aber der Blutdruck war normal. Vielleicht ist der leuchtende Kreis ja doch der Ruf einer außerirdischen Organisation, doch ich habe keine Zeit, diesem Ruf zu folgen.

Der Gedanke, Wichtigeres im Kopf als die Kaprizen seiner Kinder zu haben, erfüllt mich mit außergewöhnlichem Wohlbefinden. Leider ist der Gedanke im Vater der Freundin meines Sohns erst spät aufgetaucht, eben als seine Frau den hohen Blutdruck bekam.

Die Vorstellung, in einem weißen Nachthemd in einem Spital zu liegen, wo es allen anderen schlechter geht, was im Fall meiner Mutter meistens so ist, und jemanden an der Seite zu haben, der jetzt an mich denkt und nicht an die Kaprizen seiner Tochter hat für mich eine beruhigende Wirkung. Schlafen, beschützt schlafen.

Ich hetze meinen Sohn auf: Hör mal, die Mutter deiner Freundin kommt wegen hohen Blutdrucks ins Krankenhaus. Ihr müsst da sein. Dafür sind Kinder da.

Schlafen, in einem weißen Nachthemd, mit einem hohen Blutdruck, an Wichtigeres denken.
Das muss mit Katharsis gemeint sein.
Wir niederes Volk in Bezug auf den Blutdruck heben die Hände schützend über den Kopf. Alles prasselt auf uns ein, ohne dass wir abwinken können.


Samstag, 2. September 2017

Laster, Nr. 1 - Eifersucht

Ein langer Sommer mit vielen, nicht immer positiven Erfahrungen neigt sich dem Ende zu. Die Söhne kommen nach Hause. Über die Freundinnen wird berichtet.

Giovanna, naja. Die sowieso. Das wissen wir schon lange, dass in ihrem molligen Körper eine von Eifersucht getriebene arme Seele steckt. Aber auch die Freundin des anderen Sohnes meint, alles zu dürfen, während der gepeinigte Sohn (zumindest seiner Meinung nach) nichts darf.

Ist das der Stolz der italienischen Frauen, den Ulla Meinecke in den 1980er Jahren aus unerfindlichen Gründen besang?

In den 1970er Jahren habe ich als 13-jährige das erste Mal bewusst Eifersucht erlebt. Ich war auf einem Ferienlager, so nannte man damals Sommercamps ohne bösen Hintergedanken. Er war 13, ich war 14, sie war 15. Er war mit mir zusammen, er hatte SEX mit mir, was sich so manifestierte, dass wir miteinander auf dem Bett lagen und unsere nackten Füße sich berührten.
Und dann waren wir alle einkaufen, ich kam aus einem Laden, er wartete auf einem Mäuerchen auf den Autobus und sie saß neben ihm. Meine Söhne stellen ihre Freundinnen so dar, als würde diese Tatsache sie bereits zum Verlust jeder Kontrolle bringen. Nicht bei mir! Das kam mir nicht abartig vor. Aber als ich mich setzte, fragte ich mich, ob sein Knie da eigentlich ihr Knie berührte. Ich neigte den Kopf: Sein Knie lehnte an ihrem. Er hatte eine kurze Hose an, sie einen Rock. Kein Irrtum möglich. Fotogramm geht in Flammen auf. Herz hämmert. Dummdumm. Schweiß auf der Stirn. Kloß im Hals. Was sagen? Ich meine: soll man was sagen? Und wenn, was? Es ist die Scham über sich selbst. Ich gehe in einen Laden und der Junge, dessen Füße sich mit meinen auf erotische Art treffen, legt sein Knie an das Knie eines Mädchens, noch dazu eines so alten! Er betrügt mich mit seinem Knie. Ich bin seiner Füße nicht würdig.

Es ist die Scham über sich selbst. Ich bin es nicht wert. Ich bin so dumm, dass die beiden Knieaneinanderleger nicht einmal finden, sie müssen diese öffentlich ausgelebte Obszönität vor mir verstecken.

Ich weiß nicht mehr, wie ich in Folge auf dieses erstmals erlebte Gefühl reagiert habe. Habe ich ihn verlassen? Habe ich sie verprügelt? Habe ich ihn zur Rede gestellt? Nichts von dem ist mir in Erinnerung. Was wäre möglich gewesen?

Ich: He, du hast dein Knie an ihres gelegt.
Er: a) Stimmt gar nicht, das bildest du dir ein.
Ich: a) Was? Ich bin doch nicht blöd? Ich hab es doch gesehen.
Er: b) Das war ein Zufall.
Ich: b) Der hat aber lange gedauert.
Er: c) Na und? Ich kann machen, was ich will.
Ich: c) Ja, aber ohne mich.
Er: c) Was bist du altmodisch. Ich mag keine altmodischen Frauen.
Ich: c) Ich will nicht, dass du dein Knie an das anderer Frauen legst. Nein, hätte ich nie gesagt, hätte ich nie zugegeben.

Warum wollen wir, dass der Mensch unseres Herzens, unserer Füße, unserer Knie nur uns, uns, uns will?
Meine Freundin sagt: Wenn er nicht bei anderen Frauen beliebt wäre, würde ich ihn vielleicht auch nicht so toll finden.
(Ja, aber muss er deswegen sein Knie, seine Hand, seinen Penis auf andere Frauen legen?)
Meine Freundin hat eine Zeitlang neben dem Mann ihrer Füße, ihrer Knie und vor allem ihres Herzens ausgeharrt, während dieser die Gegenwart anderer Frauen genoss. (Also sein Knie, seine Hand, seinen Penis an diese presste.)
Was hast du während dieser Zeit gemacht, frage ich sie.
Ich war sehr belesen, lautet die Antwort.
Literatur als Antidot gegen Eifersucht.

Gibt es Menschen, die nicht eifersüchtig sind? Wenn ja, sind sie blöd? Oder blind? Nicht wirklich interessiert? Gibt es eine evolutionsbiologisch relevante Antwort auf diese Frage?

Aber gehen wir einen Schritt zurück. Das Knie neben dem anderen Knie war ja eine Tatsache. Eigentlich auch ein ccoler Typ mein 13-jähriger Fuß-Geliebter. Ich sollte ihn googeln. Vielleicht hat er seine Libido ja produktiv verwerten können.

Jetzt gibt es aber noch ganz andere Auslöser für dieses Gefühl von Dummdumm im Herzen und der Hitze im Brustkorb. Bei Giovanna waren es Fotos, die sie gesehen hat, Gesten, die sie beobachtet hat. Ich bin weit davon entfernt, meinen Sohn, den Rallyfahrer zu verteidigen. Es mag durchaus sein, dass er anderen Mädels gegenüber verbindlich wirkt. Ich finde auch, dass er anderen Menschen gegenüber netter ist, als zu mir.
Was passiert? Ein Moment rationalen Vakuums entsteht. Das Knie wird vergrößert, der Gruß einer anderen Person aufgebläht und mit einer Geschichte versehen, mit einer lebenslangen Parallelgeschichte, von der man bis jetzt keine Ahnung hatte. Betrug. Man ist ja so blöd und hat es bis jetzt nicht gemerkt.

Punkt 1: Ich bin es nicht wert.
Punkt 2: Ich habe es bis jetzt nicht gemerkt. Alles, was ich bis jetzt erlebt habe ist ein Zerrbild der Wirklichkeit.

Und dann. Reaktion.

Giftige Worte.
Schweigen.
Rückzug.
Auch: Handgreiflichkeiten, wie angeblich im Fall von Giovanna.

Aus der Ferne sage ich: Es kann nicht gut gehen.
Aus der Nähe sage ich: Es wird nicht gut werden.

So what the fuck can we do?
Zum Rationalisieren bleibt oft zu wenig Zeit. Wenn das Blut rauscht, kann man meistens nicht sagen:  Ich bin super, warum sollte er jemand anders wollen?

Muss man Eifersucht als Prinzip bekämpfen? Muss man eine monogame Beziehung an sich an den Pranger stellen? Was ist mit der Angst, verlassen zu werden? Und wieso drückt sich diese in dem aggressiven Gefühl der Eifersucht aus?

Sind das die Fragen, die sich Giovanna stellt?

Der Verdacht besteht, dass italienische Mädchen ihre Boyfriends als ihr Spielzeug betrachten, sonst würden sie nie auf die Idee kommen, ihnen am Strand Pickel auszudrücken. Sowas macht man mit seinen Brüdern, nicht mit seinen Lovern, girls! Distanz ist erotisch.

Woher kommt das Gefühl, dass von einem Moment auf den anderen alles aus sein könnte. Dass er eine andere lieben könnte, obwohl wir am Morgen noch ein glückliches Paar waren. Muss man tolerant sein? Kann der Teil eines glücklichen Paars sein Knie auf das Knie eines aussenstehenden Elements legen wollen?

Viele dieser Fragen interessieren mich nicht mehr. Als ich so alt war wie meine Söhne und Giovanna, hat man Bump getanzt. Naja, fast.
Knie haben für mich jetzt in erster Linie beim Laufen durchzuhalten. Dass man sie an jemand anderen pressen könnte ist nicht der Normalfall.

Kann man sich Eifersucht nur leisten, wenn man viel Zeit hat? Ist Eifersucht ein Laster, das man aus Mangel an Zeit ablegt? Sind Leute ohne manifestierte Eifersucht interessanter als andere? Hat jemand schon gesagt, ich liebe sie so, weil sie überhaupt nicht eifersüchtig ist?

In fortgeschrittenem Alter verwendet man den Ausdruck "Am Ende des Tages". Ich nehme an, dass für junge Menschen die Tage nicht enden. Für mich schon. An ihrem Ende bin ich müde. Es ist mir lieber, wenn man mich gern hat, aber wenn nicht - so what? Auch das Freundschaftsband von meinen jungen Kolleginnen erfreut mich.

Ich glaube nicht, dass die Laster im Alter geringer werden. Wobei die Verdauung wichtiger wird.
Und ja, am Ende des Tages gibt es keine Zeit mehr für Eifersucht.
Ein Knie am Knie eines anderen?
Es ist vorbei, bye bye Junimond. 1986. Eben.








Freitag, 1. September 2017

selbstbestimmt

Mir fällt dieses Wort ein, als ich an den ehemaligen Rallyfahrer und vielleicht wieder Fußballer denke. Er war nämlich nicht selbstbestimmt, sondern stand unter der Fuchtel von Giovanna aus Napoli und mit ihm wir alle irgendwie. Jetzt hat sie ihn (wieder einmal) verlassen und er muss weinen. Ich nicht.

Und plötzlich bin ich erschrocken. Nicht wegen meinem Sohn. Wegen mir. Ich bin überhaupt nicht selbstbestimmt, obwohl das einmal das einzige war, um das es ging. Das WICHTIGSTE. Mein Bauch gehört mir, aber genauso mein Herz, mein Schädel und das, was drin ist. Als ich feststelle, dass ich nur sehr zaghaft über all das bestimme, bekomme ich Herzklopfen. Wer bestimmt denn über mich? Abgesehen von meinen drei Söhnen und meinem einen Ehemann ist es, ist es, ist es, unbelievable, die Wirtschaft!

Ich habe einen Beruf gewählt, bei dem ich mich unabhängig fühlen wollte. Bloß nicht jeden Tag in ein Büro gehen, das ist ja schlimmer als in einer Mine zu arbeiten! Bloß nicht lebenslang mit unsympathischen Kollegen zusammen sein müssen. Ja keine Routine, da verblödet man doch. In einem Mietshaus wohnen? Nie und nimmer. Haus und Garten müssen her. Unabhängigkeit. Finger der Welt zeigen! Geld sparen? Bitte wozu, morgen sind wir vielleicht bleich und tot. Im Gegenteil,  das Konto überziehen, weil nämlich mit der um dieses Geld gemachten Lebenserfahrung das Leben derart bereichert wird, dass in Zukunft alles besser verstanden wird.

Das war ich. Ist das lange her?

Das mit der Selbstbestimmung fällt mir ein, als ich mich kurz aufs Bett lege. Ich muss mich manchmal kurz aufs Bett legen, sonst tut mir der Nacken weh und wenn mir der Nacken länger weh tut, bekomme ich ein Leuchten im Auge. Nein, das ist nicht wunderbar. Ich überlege, wann ich das letzte Mal einen freien Tag gehabt habe. Wollte ich nicht freiberuflich arbeiten, damit ich freie Tage haben kann, wann ich will?

Ich habe drei Kinder adoptiert, weil der Gedanke, Kindern ein zu Hause zu geben, eine Art Mission für mich war. dann war es eine Art Mission, diesen Kindern eine Schulbildung zu ermöglichen. Da diese drei Kinder zur zeit jeder auf seine Art in der Pubertät ist, geben sie mir das Gefühl, dass sie sich nicht wohl zu Hause fühlen, dass sie nicht in die Schule gehen wollen und dass sie im Moment (neben Giovanna und wie die alle heißen mögen) Geld brauchen.

Daher habe ich keine freien Tage und einen sensiblen Nacken.
Daher lebe ich am Meer und war doch kein einziges Mal schwimmen in diesem Sommer. Ich war die meiste Zeit nämlich gar nicht da, sondern habe, alles andere als selbstbestimmt, gearbeitet. Und jetzt bestimme ich selbst über meine Zeit und arbeite, arbeite, arbeite. Ich leide nicht unter der Arbeit, sie macht mir Spaß. Aber ehrlich gesagt wäre ich lieber unabhängig reich. Dann würde ich intensiv darüber nachdenken, warum ich nicht selbstbestimmt lebe und ob das doch wieder gehen kann.

Vielleicht kann man auch arm und selbstbestimmt sein. Da ich im Moment keine Alternative habe, würde ich sagen, es ist einen Versuch wert. Und Selbstversuche machen sowieso immer Spaß, weil man sie nämlich, genau, selbst bestimmt.


Sonntag, 29. Januar 2017

2 spiritulle Erfahrungen an 1 Tag

Samstag Morgen, ich setze die Kinder beim Bus ab. Der große Sohn eilt davon, ich weiß nicht wohin, das Kind wartet auf den Bus, die Freundin hat geschrieben, sie wird bald da sein mit dem Bus, der Fußballspieler ist in Neapale bei der Freundin. Mir fällt ein, dass ich den großen Sohn anrufen muss. Er hat zum zeiten Mal innerhalb von 5 Monaten sein Telefon verloren und wir haben ihm eine neue SIM-Card mit der alten Nummer gekauft. Ich muss prüfen, ob sie funktioniert. Sie funktioniert. Ein Mensch hebt ab, es ist meinSohn, er klingt, als wäre er ein normaler Mensch. Ich war zweimal bei einer Psychologin wegen ihm. Ich hätte gerne die Lizenz von ihr gehabt, dass ich meinem Sohn den Mittelfinger zeigen kann. Dass ich sagen kann: Oida he, ich habe alles getan, was ich tun konnte, ich habe alles gasagt, was ich sagen konnte. Wenn du dein Leben wegschmeißen willst, dann tu es. Schau, dass du dabei nicht im Rollstuhl landest, denn ich habe keine Lust, dich in diesem für den Rest meines Lebens zu schieben. Doch die Psychologin hat mir die Lizenz zu diesem verhalten nicht gegeben. Sie findet, ich soll ihm ein zu Hause geben und mit ihm kommunizieren. "Du erwartest aber nicht, dass ich zu ihm sage, wie war es in der Schule und er sagt zu mir, eh gut. Oder: wie immer." Nein, sie erwartet nicht von mir, dass ich etwas aus ihm herauspressem was er mir nicht sagen will. Zumindest gibt sie es nicht zu. Sie will aber, so meine ich zu verstehen, dass ich die Gelegenehit nütze, wenn es die Gelegenheit zur Kommunikation gibt.

Das habe ich getan und daher antwortet mir nun ein Mann, ein sehr junger Mann, wie es die Psychologin ausdrückt, der klingt, wie ein normaler Mensch, obwohl er doch sehr verwirrt ist und in mir ein Kontrollorgan haben will. "Er hat sehr viel Freiheit", sagt sie. Sie meint: "Du gibst ihm zu viel Freiheit." Er ist 19.

Aber egal. Jetzt antwortet er, als wäre es möglich, mit ihm zu kommunizieren. Die Sonne ist in spektakulären Farben aufgegangen. Ich fühle mich erleichtert und ich spüre, dass es das erste Mal seit Monaten ist. "Weihnachten ist, wann du willst", fällt mir ein. Ich habe diese Aussage vor kurzem gehört, als Antwort auf die insitierende Frage, wann endlich Weihnachten sei. So ein Glück. Denn ich kann nicht behaupten, dass ich im Jahr 2016 einen Moment ein Gefühl von Weihnachten hatte. Nicht einmal das Elementare: Morgen muss ich nicht aufstehen. Und schon gar nicht: And so this is Christmas And what have you done?
Und dann beginnt er im Radio zu singen. John Lennon singt Imagine. Rote Wolkenfetzen am Himmel. Ich fahre bergauf. Weihnachten ist jetzt. Und ich verstehe zum ersten Mal: Imagine there's no heaven. Above us only sky.

Above us only sky. Was für eine Erleichterung. Ich beginne hemmungslos zu weinen.
Ich fahre an einem Mädchen vorbei. Möglicherweise schaue ich aus, als hätte ich gerade vom Tod eines geliebten Menschen erfahren. Ich denke an den Tod von John Lennon, als ich 16 war. An die Mahnwache in meiner Heimatstadt. Nothing to kill or die for. Es ist mir eagl wie ich aussehe. Die Tränen verschleiern mir den Blick. Nach ein paar hundert Metern das zweite Mädchen, die Tochter des Obermaurers, auch sie wartet auf den Autobus, der sie vom Hügel runterbringt. And no religion too. Über mir immer noch der Himmel. Aber Hölle gibt es keine.

Ich verstehe, dass es nur dann möglich ist, spirituelle Erfahrungen zu machen, wenn man seine Sorgen für einen Moment vergisst, wie aber geht das?

Am Nachmittag besuche ich meine Schwiegermutter. Im Dorf, in dem sie lebt findet die Verhrung des San Rocco statt. eines Heiligen, der sich, wie sie erzählt, von seiner wohlhabenden Familie losgesagt hat, um in Armut in einer Hütte zu leben. Ich will auch in einer Hütte leben! Er hatte einen Hund, der bei anderen Häusern um Brot bettelte, dass er dann seinem Herrn brachte. Daher ist die Statue das San Rocco mit einem Hund ausgestattet, der ein Brötchen im Maul hält. San Rocco hat eine Schramme am Knie, das symbolisiert die Pest, vor der er sich retten konnte oder auch nicht, ich weiß es nicht. Jedenfalls versammeln sich seit einer Woche vor der Messe die Frauen des Orts um einen Sprechgesang zu Ehren ihres Heiligen abzuhalten. Ich kenne den Sprechgesang, der in zwei sich abewechselnden Gruppen im Dialekt stattfindet. Vor ein paar Jahren habe ich ihn mit den Kindern besucht, die kaum an sich halten konnten, so sehr mussten sie lachen. Manchmal fällt es uns auch zu Hause ein und wenn einer "Santo Ruocco" erwähnt, müssen alle losprusten. Diesmal gehe ich mit MM alleine. Der Fußballer ist in Neapel, der große Sohn will bei seinen Freunden bleiben, das Kind bleibt im Haus der Großmutter.

In der Kirche tritt Wasser vom Boden aus, man sieht die Fliesen feucht glänzen. Es ist kalt. Eiskalt. Es sind ungefähr 10 Frauen da, die jüngste ist in meinem Alter. Und ich bin ja leider auch nicht mehr jung. Aber so alt wie die Frauen mit den Kopftüchern nicht! Vor kurzem habe ich den Wikipedia-Eintrag über Alterssexualität gelesen. Demzufolge müsste die Hälfte dieser Frauen sexuelle Bedürfnisse haben. Im Moment aber beginnen sie zu singen: Santo Rocco, sagt die eine Bankreihe, in vier Zeilen, die andere antwortet mit vier Zeilen. Die Geschichte ist die, dass San Rocco, der geliebte, Anwalt seines Reichs, einen Stock in der Hand hat, den er gegen mich richtet, um mich vor der Pest zu bewahren. So geht es ewta 40 Minuten hin und her. Die Damen steigern sich. Am Anfang ein wenig müde, der Kälte trotzend, schwingen sie sich zu einem Feuer, gleich dem aus dem kleinen elektrischen Öfchen vor der ersten Reihe. Meine Schwiegermutter hat sich eine kleine Flasche mit Wasser mitgenommen, aus der sie ab und zu einen Schluck nimmt. Aus dem Sprechgesang wird ein Singsang, immer melodischer, Oh Maria kommt auch auch dazwischen vor, offenbar zählt jemand mit, denn ab und zu wechseln die Zeilen zwischen den Bankreihen.

Langsam fallen mir die Augen zu. Es ist wie in den Schlaf gewiegt werden. Wenn es nur nicht so kalt wäre! Ich reibe meine Knie. Ich denke an die Mönche, die greogorianische Chöre singen. An die Leute, die deshalb viele Kilometer zurücklegen. Da, meine Schwiegermutter und ihre Altergenossinnen bieten das Gleiche! Es hallt in der Kirche, dass einem die Gänsehaut kommt. Die Nichte meines Ehemanns, die, die in meinem Alter ist, dreht sich ab und zu um und sagt etwas mit verschmitztem Lächeln. Wie gut sich die Orchidee neben der Madonna hält oder wie niedrig hier der Altersdurchschnitt im Dorf sei. Ich versuche etwas an der Kirche zu finden, was mir gefällt. Der Priester, der schließlich kommt? Naja.Die Statuen. Oh Nein! Andere Bilder? Keine da. Eine schlichte Landkirche mit feuchten Wänden und nassem Boden. Der Priester hät die Messe. Mehr Leute sind da. Der Priester lächelt 2x. Ich erinnere mich an weiße Strumpfhosen, Kerzen, meine immer zu laut singende Mutter, wieder an die weißen Strumpfhosen. Nach der Messe verteilen zwei Frauen, eine davon meine Schwiegermutter, Brot, dass sie in großen Körben mitgebracht haben. Der Priester hat es freundlicherweise gesegnt. Nach der Messe. Er hat den heiligen Rocco auch nicht erwähnt. Meine Schwiegermutter hat beim Bäcker Brote machen lassen,die die Form eines Mannes haben. Zwei Kaffeebohnen sind die Augen. Er hat Arme, ich habe diese jahrelang für einen Schal gehalten. Er hat Beine, wenn auch kurze. Diese Brote hat sie in Stücke geschnitten. In viele Stücke, die sich alle Teilenhmer der Messe mitnehmen. Früher haben die Frauen, den San Rocco zu Hause gebacken. Früher gab es mehr Frauen, die Brot mitbrachten und sie tauschten sich die verschiedenen Brote untereinander aus. Heute sind es zwei Frauen und sie haben den Rocco in der gleichen Bäckerei machen lassen. Zu Hause nimmt meine Schwiegermutter die letzte Figur aus Brot aus dem Korb und küsst sie auf die Stirn. Ich bin bester Laune. Ich fühle mich frisch. Meine Schwiegermutter wirkt auch 10 Jahre jünger.

Nächstes Jahr gehe ich wieder! Und in der Zwischenzeit möge John Lennons Geist in mir hausen.