Sonntag, 24. Juni 2012

Weichseln



Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das besagt, dass wer immer glücklich in seinem Leben sein will, Gärtner werden soll. Damit sind bestimmt Gärtner im Stadtgartenamt einer wohlhabenden Stadt im nördlichen Teil Europas gemeint. Sie pflanzen im Sommer von 8 Uhr bis 16 Uhr (eine halbe Stunde Mittagspause bezahlt) Blumen. Im Winter trinken sie Tee und mulchen. Sie haben ein fixes Einkommen und sind im besten Fall unkündbar. Wenn sie Karriere machen, dürfen sie planen, welche Blumen im Park gesetzt werden.
Uns kann man vielleicht nicht als Gärtner bezeichnen, sondern eher als Opfer eines gewissen Landbesitzes. "Wir wollten ein bisschen Land haben", sage ich oft, um unseren Hauskauf zu rechtfertigen, der uns in the middle of nowhere geführt und uns eben ein bisschen Land, nämlich 5000 qm, was zu viel für einen Blumengarten und zu wenig für eine Landwirtschaft ist, beschert hat. Auf dem bisschen Land stehen ein paar Obstbäume. Nach der Heimsuchung der Pflaumen, die immer noch andauert, sind nun auch die Weichseln reif. Möglicherweise gehört der Weichselbaum sogar den Nachbarn, aber auf unserer kleinen Straße stellen wir die Leiter auf und zurren die Weichseln in den Korb. Ich erkläre mir meine extreme Unlust, die Weichseln ins Körbchen zu holen, damit, dass letztes Jahr an dem Tag, als wir die Weichseln ernteten, unsere Nachbarin Teresa unverhofft vor mir auf die Knie gegangen ist, aber nicht, weil sie mich so bewundernswert findet, sondern weil ihr plötzlich schwarz vor den Augen geworden ist. Was dann geschah und wie das Kind alle kräftigenden Getränke, die der armen Frau kredenzt wurden, zu sich genommen hat, habe ich in dem Blogeintrag "una domenica bestiale" beschrieben. Das muss jetzt ungefähr ein Jahr her sein und es ist erschreckend, wie wenig wir uns verändert haben. Diesmal ist es nicht so heiß, der läppische orange Hut des großen Sohns ist tief in einer Lade vergraben und der Rallyefahrer stellt sich erst hilfsbereit auf die Leiter und langweilt sich dann schnell. Er beschließt, dass mir die Leiter zu halten viel heldenhafter ist und erzählt mir dabei von allen elektronischen Spielen, die es gibt oder seiner Meinung nach geben müsste.
Teresa taucht nicht auf. Dafür wurde der Opa des Studenten ins Spital gebracht, weil er Schwierigkeiten mit dem Atmen hatte, was nicht weiter verwunderlich ist, weil er ja jeden Tag in der zum Aufenthaltsraum umgewidmeten Garage vor dem eingeschalteten Fernsehgerät sitzen muss. Ich glaube, man muss den Leuten nur zuhören um zu begreifen, was ihnen fehlt. MMs Kusine zum Beispiel, die Mutter der beiden schon halb aus der Kirche exkommunizierten (?) Töchter wurde auch letztens ins Spital gebracht, weil es ihr schlecht ging. Sie ist schwerhörig und trägt ein Hörgerät. Mir erzählt sie gleich, dass sie es nicht aushält, dass dauernd der Fernseher läuft und dass ihre Töchter zu laut reden, vor allem die kleinere (die Witwe, die den Streit mit dem Pfarrer hat). Mich wundert es nicht, dass im Spital festgestellt wird, dass sie keine pathologischen Erscheinungen hat, sondern Panikzustände. Dann muss sie wieder heim und ihre Töchter über sich ergehen lassen. Der Opa des Studenten muss sich vielleicht auch einfach vom übermäßigen Genuss des Fernsehens erholen, zumindest hoffe ich das.
Terasa sehen wir also am Tag der Weichselernte nicht, aber ich habe vor ein paar Tagen mit ihr Kaffee getrunken und ihr versucht, zu erklären, dass ich jetzt auch weiß, wie das ist, in Panik zu geraten, denn bei einem Konzert vor kurzem hatte ich Angst, über einer Tiefgarage zu stehen und einzubrechen, weil das Publikum so entfesselt hüpfte und tanzte und der Boden bebte. Was ich dabei gelernt habe, ist, zu sagen, was einen so bewegt bzw. so nicht bewegt, sondern so lähmt. MM hätte mir gleich gesagt, dass wir nicht über einer Tiefgarage stehen. Aber dieses Problem scheint Teresa mit ihren Panikanfällen ohnehin schon gelöst zu haben. Letztens war sie morgens aufgewacht, erzählt sie, sie verstand gar nicht, warum es ihr nicht gut ging, sie hatte gut geschlafen, aber nun hatte sie ein Gefühl der Leere, im Kopf, im Magen. Sie bat ihren Mann, zu Hause zu bleiben, oder ihren Sohn, wenn möglich. Ich finde das gut und tüchtig von ihr. Sie sagt: "Ich musste nämlich zum Friseur und ich dachte, was mach ich, wenn es mir im öffentlichen Autobus plötzlich schlecht geht". "Ja", sage ich und stelle mir vor, wie schrecklich es ist, wenn es einem in öffentlichen Verkehrsmitteln schlecht geht. Sie sagt, sie hätte eine Pille genommen. Ich sage: "Klar, dafür sind sie ja da." Dann hätte ihr Sohn sie mit dem Auto zum Friseur gebracht. Tatsächlich hat sie eine makellose jugendlich-sportliche Frisur und ich fühle mich alt und schlaff mit meinen Zotteln, da ich doch seit mehreren Jahren aus Gründen, die als Trauma zu bezeichnen sind, eine Friseurin an meinen Haaren nichts anderes habe machen lassen, als die Spitzen zu schneiden. Und dann - unter der Trockenhaube sei es ihr plötzlich wieder ganz anders geworden. "Es ist die Trockenhaube!" rufe ich aufgeregt. "Aber nein," sagt sie ruhig, "es kommt einfach so, man weiß nicht wann und wie."
Heute ist das Kind nicht bei mir, er hätte sicher eine abschließende Antwort gewusst, so verbleiben wir in der Gewissheit, dass wir beide nicht wissen, wann und wie es passiert, aber die Lösung in der Vermeidung von Trockenhauben zu suchen, ist auf jeden Fall zu kurz angelegt.
Mit einem Sack grüne Bohnen in einer Hand und einem Sack Zwiebeln in der anderen eile ich nach Hause, wo meine Kinder das neue Kajak ins Auto bugsieren und sich dabei mit allen Schimpfwörtern bedenken, die ich, wie bekannt ist, nicht mag. Wahrscheinlich dauert es deshalb ein paar Stunden, bis ich mich wieder mit Teresa und ihrem Wohlbefinden beschäftigen kann. Und dann denke ich, dass ich den Friseurbesuch abgesagt hätte.
Um aber wieder zum Garten und dem chinesischen Sprichwort zurückzukommen: Wenn man unter Glück versteht, dass MM im Gurkenbeet sitzt und langsam Unkraut ausrupft, während hinter ihm seine beiden großen Söhne mit Schilfrohrstäben selbst kreierte Martial Arts Kämpfe ausführen und ich in der Küche die weißen Wände mit den Weichseln so anspritze, dass sie blau werden und ich mir überlege, ob ich die Küche nun in diesem graublau streichen soll, dann ja, dann macht ein Garten wirklich glücklich.

Dienstag, 19. Juni 2012

Maulbeeren


Die Pflaumen sind reif, mehr als das, es gibt eine Explosion an reifen Pflaumen. Wir haben drei Bäume und sie tun so, als wären sie zehn. Ich sage zu meinem großen Sohn: Mach mir in zehn Minuten einen Kaffee, ich gehe Pflaumen ernten. Nach 15 Minuten komme ich mit einem vollen Korb wieder und das mache ich mehrmals täglich. Der arme Heranwachsende muss sich dann mit seinen Kopfhörern und vorgebeugten Schultern in die Küche schleppen. Aber ich will meinen pubertierenden Kindern nicht Unrecht tun, denn für mehr Minuten Computerspiel pro Tag sind sie auch bereit, ihre Seele zu verkaufen und im Garten zu arbeiten. Sie schneiden alleine das Gras auf einem unbebauten Stück im Garten, während das Kind seine letzten Tanzstunden absolviert (bereits mit reduziertem Personal und zusammengestückelten Gruppen, das bringt ihn in den Genuss des Zusammenseins mit zwei wunderbaren grazilen Tänzerinnen, die ein paar Jahre älter sind als er und die Beine ein bisschen höher heben können als er, was ihn illuminiert).
Die Pflaumen muss ich an die Nachbarn verteilen, nachdem ich bereits einmal Marmelade eingekocht habe, meine Schwiegermutter beglückt habe und meine Familie täglich ein Kilo Pflaumen essen muss. Teresa ist nicht zu Hause, also gehe ich zu den unteren Nachbarn und freue mich, den Sohn, den Studenten anzutreffen. Der Opa sitzt auch vor dem Fernseher, er hat geschwollene Beine und ist vor dem Fernseher geparkt, seine sehr schwerhörige und mit mehreren Bypässen ausgestattete Frau darf noch im Garten herumgraben. Der Sohn des Opas, der Vater des Studenten, steht mit den Ziegen im letzten Sonnenschein.
Der Student beeilt sich, mir einen Kaffee zu kochen und das Kind mit Süßigkeiten abzufüllen. Die Mutter des Studenten arbeitet als Haushälterin bei den Eltern von Schulkollegen aller meine Kinder, was mir sehr unangenehm ist, ihnen aber glaub ich noch mehr. Ich weiß, dass die Signora, Mutter der Schulkollegen, nie, aber wirklich nie, nicht einmal eine Waschmaschine anwirft, aber die Signora behandelt mich so säuerlich als wüßte ich noch viel mehr. Die Mutter des Studenten ist noch nicht zu Hause, obwohl es schon sieben ist und sie wird so schnell auch nicht kommen, denn nach ihrer Arbeit bei der Signora (von acht bis sechs) geht sie zu ihrer Schwägerin ins Spital. Die Schwägerin hat eine Risikoschwangerschaft und die Mutter des Studenten gibt der Schwägerin zu essen. Ich glaube zwar, dass selbst Risikoschwangere alleine essen könne, aber da ich auch erlebt habe, dass im Spital immer ein Teil der Familie beim Essen anwesend sein muss und eine Flasche Wein kredenzt wird, nehme ich an, dass die Schwangere nicht gefüttert, aber doch aufgepäppelt wird. Außerdem ist der Vater des Arbeitgebers gestürzt und hat sich die Hüfte gebrochen und ja, der Sohn geht ihn zwar besuchen, aber naja, alles in allem ist es besser, wenn sie, die Haushälterin ihn besucht. Der Arbeitgeber ist ein Rechtsanwalt mit dicken Lippen, die aussehen, als hätte er Botox gespritzt, der Arme. Möglicherweise verteidigt er gratis Mittellose, seine verschiedenen Autos deuten auf anderes hin. Mein Freund ist er nicht und es ist unwahrscheinlich, dass er es je wird. Ich verstehe, dass sein Vater den Besuch meiner netten Nachbarin dem seines Sohnes vorzieht.
"Ich leer die Schüssel mit den Pflaumen aus und du nimmst dir dafür ein paar Maulbeeren mit." sagt der Student und ergänzt, dass sie mich schon lange einladen wollten, die Maulbeeren aufzuklauben, die unter dem Haus in das aufgelegte Olivennetz fallen. Man geht an den Hühnern vorbei, an den Ziegen, an den Schweinen. Die Schweine sind ganz schwarz, denn es ist so heiß, dass sie mit dem Schlauch abgespritzt werden und dann wälzen sie sich glücklich im Schlamm. Glücklich wirkt auch der Maulbeerbaum, unter dessen Krone man jede Art von Liebeserklärung tun könnte, angemessen weit von den zufrieden vor sich hin stinkenden Schweinen entfernt. Gelsi, wie die Maulbeerbäume hier heißen, wurden eigentlich wegen den Seidenraupen gezüchtet und die an Engerlinge erinnernden weißen Früchte mag man entweder gar nicht oder man entwickelt ein Suchtverhalten nach ihnen. Der Student mag sie gar nicht, mein kaffeekochender Heranwachsender kann an ihnen sein Bedürfnis zur Maßlosigkeit zum Ausdruck bringen. Beim Sammeln der kleinen dicken Würmer fragt der Student den kleinen Sohn nach seinem Zeugnis, das Kind denkt aber nur an Schweine und Kaninchen und freut sich über die herabfallenden Früchte. Die Oma des Studenten ist angeblich gar nicht zur Schule gegangen, bzw. hat sie ein paar Mal die zweite Volksschulklasse gemacht. Die Mutter des Studenten hat dann fünf Volksschulklassen absolviert, mehr nicht, denn Mädchen sollten danach nicht mehr zur Schule gehen. Das Mädchen Mutter hätte mit dem Autobus fahren müssen und sie hatte zwei kleine Brüder zu versorgen. Sie ist aber keine Überlebende aus dem vorletzten Jahrhundert, sondern eine Frau in meinem Alter. Sie hat auf der anderen Seite des Hügels gewohnt und sie hat ihren Kusin geheiratet. Ihre Schwiegermutter ist die Schwester ihrer Mutter. Vor längerer Zeit, als wir hier eingezogen waren, vertraute sie mir an, dass ihr Cholesterinspiegel zu hoch sei und das sei wohl auf Stress zurückzuführen, denn "man hat einfach immer diese Gedanken, immer Gedanken." Ich habe das damals nicht verstanden. Heute verstehe ich es ein bisschen besser.

Sonntag, 17. Juni 2012

Die Großkusine und der Landpfarrer


Meine angeheiratete italienische Familie taugt immer zur Unterhaltung, so wie alle angeheirateten italienischen Familien, sonst könnten deutsche Autoren, die mit Italienerinnen verheiratet sind, keine Bestseller schreiben.

Im Dorf, aus dem MM stammt, wohnt unter anderem auch seine Kusine, deren Töchter in unserem Alter sind oder ein wenig jünger. Die jüngere ist ein bisschen skandalös, zumindest in den Augen der älteren Tanten und ich habe nie herausgefunden, worin der Skandal besteht, außer dass sie extrem laut und energisch spricht und dazu sehr klein und sehr zart ist, was aber irgendwie nur fragen läßt, wo diese Energie ihr Heim hat und noch nicht den Skandal wittern läßt. Außerdem ist sie mit nicht einmal vierzig Jahren Witwe und auch wenn die bösen alten Tanten sagen, sie hätte ihren Ehemann umgebracht, glaube ich das nicht. Sie hat zwei Kinder im Alter von zehn und sechs Jahren und ihre große Tochter ist die einzige, die in ihrer Klasse kein Telefon mit Touchscreen besitzt, sie besitzt nämlich, wie unser gleichaltriger Sohn, gar kein Mobiltelefon, was eigentlich schon Grund wäre, die Großkusine sympathisch zu finden. Die Großkusine kündigt nach einigen Erzählungen, bei denen alle schreien und ich mich bemühe, mitzuschreien, eine echt skandalöse Geschichte an. Her damit. Also paßt auf.

Der Priester. Ja, ich erinnere mich. Ein sehr junger Typ, der beim letzten kirchlichen Fest im Februar an dem wir teilgenommen haben (die alten Damen haben auf absolut aufnehmenswerte Weise einen halbstündigen a capella Gesang San Rocco zu Ehren geliefert, den meine Kinder jederzeit perfekt rekonstruieren können, denn er ist dem Motherfucker-Damn it-HipHop-Rhythmus nicht unähnlich), gesagt hat, die Leute sollen sich zurückhalten beim Torten backen, denn er könne nicht so viel essen. He Alter, gib uns den Kuchen, hätte ich gerne gerufen, habe aber schüchtern auf meine pflichtbewusst gefalteten Hände gestarrt.

In the meantime hat die Großkusine irgendwie versucht, die Messe für ihren verstorbenen Ehemann von einem anderen Priester lesen zu lassen, was ihr nicht gelungen ist und außerdem hat sie sich für den Chor eingesetzt, der vom Jungpriester abgesetzt worden war, da er von einer getrennt lebenden Frau geleitet wird. Menschen wie ich müssen da ihr grundsätzliches "So what, ich hab's euch ja schon immer gesagt," zur Seite stellen und begreifen, dass Chorsingen und kirchliche Feste für Menschen in kleinen Gemeinden im Hinterland wesentlich sein können. Der Priester teilt der Großkusine geduldig mit, dass die katholische Kirche so was wie eine Diktatur ist und dass da eben nicht alle mitreden können und wenn ihr was nicht passt, braucht sie nicht zu kommen.
Die Messe für den verstorbenen Ehemann wird vom Priester himself gelesen, der Chor aber darf singen und nach der Messe präsentiert sich die Großkusine mit dem Briefumschlag mit der Spende (Spende erbeten für Messe für Verstorbenen: 25 Euro bitte danke, Spende erbeten für Hochzeit: 500 Euro bitte danke, für alle 10 Minuten Verzögerungen weitere 50 Euro, bitte danke mit freundlichen Grüßen Ihre katholische Kirche). Der Priester bittet eine Klosterschwester als Zeugin hinzu, denn jetzt wird er der Großkusine sagen, dass sie und ihre Familie in dieser Kirche kein gern gesehener Gast ist. An diesem Punkt spüre ich eine heftige Bewegung in meiner Brust. Er sei es jetzt Leid, dass sie ihn immer kritisiere. Sagt er mit dem Umschlag in der Jacke. Bitte danke. Und ihre Schwester hätte bitte auch schon was Böses gesagt. Da müssen alle lang nachdenken, bis ihnen einfällt, was. (Und zwar etwas, was ich kaum verstehe, weil es mir kulturell sehr fremd ist: Es geht um einen Toten, der in der Kirche aufgebahrt ist. Die zweite Großkusine geht hin und findet den Toten im Finstern und sagt zur Kirchenaufseherin: Wann hat man denn je einen aufgebahrten Toten ohne Kerzen gesehen? Von Aufgebahrten und ihren Kerzen verstehe ich eben nicht so viel, was ein anderes Thema ist, aber die zweite Großkusine war sich nicht bewusst, dass diese, wie sie meinte, harmlose Frage, bald gegen sie verwendet werden würde, denn die Kirchenaufseherin musste dem jungen Priester diesen neuen Kritikpunkt gleich erzählen, worauf sie zur nicht willkommenen Familie gehörte. Hier kommt auch nun meine Schwägerin ins Spiel, die Theologin ist und sagt: Das war in der Karwoche und da gibt es eben kein Licht in der Kirche und die Großkusinen haben die Regeln nicht kapiert). Ja nun, wenn einer irgendwo willkommen sein muss, dann, so stelle ich mir das vor, in der katholischen Kirche, bitte danke.
Die als Zeugin bestellte Klosterschwester weint nach dem Konflikt und möchte sich versetzen lassen. Der Bruder der beiden Großkusinen trifft seine kleine verwitwete Schwester weinend vor der Kirche an und heißt den Priester alles Mögliche, unter anderem pädophil. Dazu sagt meine Schwiegermutter (kein Fan der skandalösen Großkusine): Sie hätte ihren Bruder fast ins Gefängnis gebracht! Zum Glück ist der Priester nicht zu den Carabinieri gegangen.

NATÜRLICH steht auch hier, wie hinter allen grauenhaften Konflikten, ein verletztes Ego. Die Großkusine, eine arme junge Witwe, die ihre Kinder in die katholische Schule und den Kindergarten bei den Klosterschwestern schickt, muss für die Schule nichts bezahlen, da sie ab und zu deren Räume putzt. Als sie auch das Pfarrhaus putzen musste, wollte der Priester sie statt einer Bezahlung zu einer Pizza mit ihm einladen. Danke schön, hätte sie gesagt, da gäbe es genug andere, die nur danach lechzen würden.

ABER die Großkusine weiß, dass der Priester eine Berloni (heißt die so?)- Küche hat und ein tolles Sofa von Divani und Co (von dem wir alle träumen). Eh klar, weil wir zu unserer ohnehin bezahlten Arbeit nicht zusätzlich die Spende bitte danke einnehmen können.
Die Großkusine wartet nun auf ihren Termin beim Bischof, um Bericht über den diktatorischen Priester zu erstatten.
Wir hoffen auf rasche Entwicklungen in diesem Fall.
MM verabschiedet sich versöhnlich: "Wie ihr wisst, können von mir aus alle Priester krepieren, aber da du das Bedürfnis hast, gläubig zu sein...bin ich ganz auf deiner Seite."

Dienstag, 12. Juni 2012

Manifesto # 1

Auch wenn es meine Freundin nicht gerne hört: in einem meiner favourite american blogs steht zu lesen: "want what you have." And yes, I do.
Am 9. Juni, Tag des offiziellen Schulschlusses, weihe ich hochfeierlich die Badesaison ein. Das Meer ist noch ein bisschen kalt, aber es lohnt sich. Ich sage: Was bekomme ich, wenn ich zehn Minuten schwimme? MM sagt: Das tust du nie. Der 14-Jährige sagt: Einen Tag Erholung. Ich sage: Wie geht das? Er sagt: Wir helfen dir. Ich denke: Hilfe. Ich stürze mich ins leicht bewegte Meer. Es geht. Ich schreie wie der russische Tennisstar Sharapova: "AAAHHHH!" Meine Kinder mussten sich gar nicht überwinden, aber MM liegt trocken wie ein Wurm am Strand.
Ich schaue auf die Häuser am Hügel, unseres sieht man nicht, es gibt nur einen Punkt, von dem aus man es sieht, an einem Rand des Hafens. Man sieht alle anderen Häuser und obwohl ich manchmal von Eifersucht verzehrt war, beneide ich sie alle nicht mehr: Die Frau, die in dem Haus mit der allerbesten Aussicht wohnt, hat seit 14 Jahren keinen Zeh mehr ins Meer gestreckt, wie sie mir vor kurzem mitgeteilt hat. Das regt mich sehr zum Nachdenken an.
Dann gibt es da das Haus des Obermaurers, ebenfalls mit genialem Ausblick. Und wo ist er? In den letzten Tagen habe ich ihn zwei Mal nach oben fahren sehen, ich glaube dort, ganz oben, besitzt er ein Stück Land, das er bebaut. Er winkt mit diesem verklärten Lächeln, wenn man genau schaut, kann man noch den Heiligenschein sehen. Seine Frau schaut finster. Wahrscheinlich würde sie auch lieber ins Meer springen, als die Tomaten zu häckeln.
Danach kommt das Haus, in dem die Eltern von einer Freundin von mir leben. Als ich sie dort einmal aufsuche, bin ich geschockt von dem Weitblick über die Küste, den man von dort aus genießt. Ihre Mutter ist zuckerkrank und vor einem halben Jahr wurde ihr das Bein amputiert. "Aber sie hat einen schönen Blick aus dem Fenster", sage ich zu meiner Freundin, die eine Mutter im Rollstuhl hat. "Ja, aber sie schaut nicht aus dem Fenster, sie schaut nur in den Fernseher, " antwortet meine Freundin.
Ein paar Häuser mit geilem Blick stehen leer. Voghera heißt der Ort, wo die meisten Ausgewanderten sind.
Die Kinder versuchen, im Sand einen Salto mortale rückwärts. Ich ziehe meinen Badeanzug aus und einen Bikini an, noch sind wenig Menschen am Strand und solche Aktionen sind nicht mit Muskelkrämpfen verbunden. "Mir fehlen die Felsen!" sage ich zu meinem großen Sohn, einem eigentlichen Schwimmer, so wie das Kind ein eigentlicher Tänzer ist. Der Strand, an dem wir bis jetzt immer waren, ist irgendwie abgesackt, aber wer will sich in Zeiten von Erdbeben schon über ein Stück  verschwundenen Strand beklagen?
Von hier aus sieht man ein schönes altes Haus mit zwei Palmen davor und nicht das hässliche Spital, das dahinter liegt.
Wir fahren nach Hause und dort, wo man vom Strand nicht hingesehen hat, stehen Compa' Mario und Vincenzo mit ihren Schafen und Ziegen. Compa' Mario hat irgendwie eine Art weibliche Brüste, ich denke das Wort Hermaphrodit, wenn ich ihn sehe und meine Kinder grinsen blöd. MM sagt zu Vincenzo, dass wir, nämlich ich und die Kinder, eine riesige Schlange gesehen haben, dort, wo er jetzt ist und Vincenzo sagt: "Jaja, das ist möglich." Eh klar ist das möglich, wir haben das Trumm ja gesehen, sie war so groß und so schwer, dass sie auf ihrem Rückzug über die Felsen fast wieder nach untern gekippt ist.

want what you have, oh yes. Ein verlockendes Meer, ein heiliger Obermaurer, ein paar Schlangen und all das, was die einen nicht sehen wollen und die anderen nicht sehen können.

Montag, 11. Juni 2012

Schulaufsatz

Diesen Eintrag veröffentliche ich sozusagen posthum, weil nämlich...eigentlich wollte ich nichts mehr schreiben, in dem ich als garstige Mutter, nicht verlegen um vulgären Wortschatz auftrete, aber...

In Italien endet die Schule bereits am 9. Juni und selbstverständlich meint nun das gesamte Lehrpersonal, man müsse noch mal kräftig aufs Gas steigen. Das ist auch in Ordnung, meine Söhne schleppen sich allerdings kraftlos durch diese Phase und bekommen nur angesichts eines Fußballs Energieanfälle. Kleine dumpfe Stimmchen, die verzagt englische Verben murmeln werden da zu großen Tonerzeugern. Die armen Füße, die über den Wohnzimmerboden langsam vom Tisch zum Schulrucksack schleifen, springen Staub aufwirbelnd dem Ball entgegen. Strahlend umarmt mich der 14-Jährige: "Mamma!" brüllt er in mein Ohr und drückt mich an seine verschwitzte Brust: "Entschuldige wegen vorhin." Ja, sage ich verlegen und schaue in den Sand. Vorhin hat er einen akuten Anfall des Tourette-Syndroms in mir ausgelöst. Vor ein paar Tagen hatte ich es geschafft - die freundliche Dattilografa in mir sagte:"Wenn es dir gelingt, diese Englischhausübung hinter dich zu bringen, ohne mit der Hand auf den Tisch zu schlagen, darfst du am Abend eine Flasche Prosecco öffnen." Nur - der Prosecco, den mir meine Schwägerin gebracht hat, schmeckte nach Tokaiwein, das mag ich nicht. Möglicherweise war es die Abwesenheit der Flasche Prosecco im Kühlschrank, die mich im entscheidenden Moment grob werden ließ. Zuvor war alles gut gegangen. Thema war: Beschreibe den Ort, in dem du wohnst. Seit Wochen wird dieser Aufsatz vor sich her geschoben, als würde es darum gehen, zu beschreiben, wie man sich fühlt, wenn man auf einem Klo sitzt und dann geht plötzlich die Tür auf.
"Mir fällt nichts ein."
"Ich weiß nichts."
"Ich kenne nichts."
Auch ich kenne (da) nichts und beginne, eine Struktur zu entwerfen: Einleitung, Hauptteil, Schluss schreibe ich auf ein Blatt und dazu ein paar Ideen, was man da reinpacken könnte. Ich sage: Eine Seite. Ich stelle den Timer auf 30 Minuten und gehe dem anderen Sohn helfen, der ein wenig eigenständiger beim Schreiben ist, was mich mehr interessiert. Der 14-Jährige kommt einmal vorbei, um mitzuteilen:
"Mir fällt nichts ein."
"Ich weiß nichts."
"Ich kenne nichts."
Dann geht er wieder. Dann kommt er wieder, um zu sagen, dass die 30 Minuten vorbei sind, er also fertig ist. Ich gehe zu ihm. Er hat fünf Zeilen geschrieben. In denen befinden sich Hauptteil, Mittelteil, Schluss in etwa vier Sätzen. Die Orthografie ist originell. Vom anderen Sohn wurde ich in Kenntnis gesetzt, dass es auch eine Fotokopie gibt, auf der historische Fakten zu unserem Ort stehen. Obwohl ich bei geschichtlichen Ereignissen in total unbedeutenden Orten immer ein wenig unruhig werde, scheint unser Ort doch nicht ganz so historienfrei gewesen zu sein und da war sogar der Normannenkönig Robert de Guiscard im Mittelalter und 1086 die Benediktinerpater. Die Mittelschülerin in mir verwebt die geschichtlichen Fakten mit dem, was heute ist und diktiert es dem Sohn.
"Und was fällt dir noch ein?"
"Nichts."
Ich diktiere weiter.
"Und was würdest du noch schreiben?"
"Nichts."
Ich diktiere weiter. Wir nähern uns dem Schluss. Die Lippen des 14-Jährigen hängen fast auf seiner Brust.
"Also was würdest du denn gerne sehen oder kennenlernen?"
"Nichts."
Tourette explodiert.
"Dann schreib doch bitte, sie sollen dich alle am Arsch lecken und du willst nichts wissen von diesem Scheißort."
Bei diesen Worten wird der Rallyefahrer, der sich gerade in breakdancetechnischen Verrenkungen auf dem Boden rollt, aufmerksam.
Mir wird etwas eng im Hals und ich fordere den 14-Jährigen auf, einfach in sein Zimmer zu gehen, wenn es ihn nicht interessiert, er habe meine Grenzen überschritten. Er streikt. Er nützt die Gelegenheit nicht. Das Kind kommt nach Hause. Es versucht sich bemerkbar zu machen. Der 14-Jährige beginnt zu schreiben. Irgendwie beruhigt sich die Situation wieder, aber ich atme immer noch schwer.
Nach kurzer Zeit sind dann alle sehr eifrig. Das Kind spielt eifrig im Bubenzimmer, was auch als Erfolg zu verbuchen ist, denn normalerweise schreit ER, während die anderen lernen. Er hat allerdings nichts mit Tourette zu tun.
Dann bringe ich das Kind in die Tanzstunde. Dann komme ich wieder nach Hause. Dann spielen die Jungs Fußball und sind bester Laune.
Dann, dann! Du sollst nicht immer dann am Anfang des Satzes schreiben hätten meine Lehrer damals mit rot in mein Heft geschrieben.
Was der 14-Jährige am Ende seines Aufsatzes geschrieben hat, weiß ich übrigens nicht. Ich hoffe, es war nicht der Satz, den Tourette angeregt hat.
Der Rallyefahrer gesteht mir, er hätte es toll gefunden, als ich gesagt habe: am Arsch lecken. Ich weiß schon, auf italienisch sagt man das anders.

Nach etwa einer Woche ist der 14-jährige Sohn nach Hause gekommen und hat gesagt, die Prof hätte "Bravo" unter seinen Aufsatz geschrieben. Und hier kommt bitte mein alles überragender Einsatz als Mutter, in dem ich sage: "Na schau, das war doch die Mühe wert." "Ja" sagt er. 

Samstag, 9. Juni 2012

Nett sein ist fad

Ich glaube, es ist, weil ich mich nicht mehr aufregen will. Weil ich beschlossen habe, ein freundlicher Mensch zu sein, der die Decke auf dem Sofa zurechtrückt und nicht gegen das Sofa treten will, weil keiner da ist, der die Ordnung auf dem Sofa zerstört und nicht wieder instand gesetzt hat, dem man mitteilen könnte, dass diese Destruktion System hat und das Ziel sei wohl die Zerstörung meiner geistigen Gesundheit oder wie?
So ist das, manchmal hat man Phasen, in denen man ganz lieb ist. Dann weiß man nicht mehr, was man schreiben soll. Ich bemühe mich redlich, irgendwie das Abgründige aus mir herauszuholen: Sex und Drugs und Rock'n'Roll. Oh mein Gott, da ist nichts. Seit Tagen denke ich nach, was ich über das Sexualverhalten der Italiener schreiben könnte, in der Hoffnung das würde eine verborgene Quelle an Adrenalin erschließen. Nichts. Es interessiert mich nicht. Die Vorstellung, dass, wenn ich beim Spaziergang mit dem Hund an unserem zur Zeit recht romantisch mit Wein überwachsenem Wasserbecken im Gemüsegarten vorbeikomme, dort ein Mann stehen würde, die maximale Mischung aus Virilität, Intelligenz und frischem Atem, erfüllt mich mit Sorge. Es könne zu lange dauern, ihm zu erklären, dass ich nach Hause muss, denn nach Wäsche aufhängen und Kinder aufwecken, muss ich dringend Kaffee trinken und wenn die Zeit reicht, ein paar Seiten in Margaret Atwoods Buch "Blind Assassin" lesen. (Ist es, weil die Ich-Erzählerin über 80 ist, dass ich mich auch so fühle?) Ich mache mir Sorgen um mich selbst.

Die Schule ist vorbei und sogar die Tanzaufführung und ich vergebe allen, die mir bis zu diesem Zeitpunkt unsäglich auf die Nerven gegangen sind. (Halt, der Frau, die heimlich Kinder taufen lässt, nicht!)

Der Eingangsbereich unseres Hauses, ein schöner alter Raum, der bis jetzt ein hoffnungsloses Wirrwarr aus Vorräten, Werkzeugen und Gummistiefeln war, wurde in internationaler Zusammenarbeit in das gelbe Zimmer verwandelt, das jederzeit vom Magazin "Schick im Landhaus" fotografiert werden kann. Ich werde beim Nachhausekommen endlich von der Klarheit empfangen, die ich mir immer gewünscht habe und das Kind wird von keinem Farbkübel mehr fallen, wenn es Äpfel aus dem Regal nimmt. Also kann ich mich jetzt unendlich befreit an den Computer setzen und geile stories schreiben? Nein.
Ich habe mich so bemüht, diese innere Ruhe zu erreichen und meine nähere Umgebung hat mich angefleht, die Zornesader auf meiner Stirn abschwellen zu lassen und jetzt? Hallo, Janis Joplin, where are you? Meine Freundin, die sagt, ich lese zu viele amerikanische blogs hat sicher recht. Das Mantra, das ich mir so oft vorgemurmelt habe, überwuchert nun mein Sein: Talk less. Es wächst über mich wie ein Rosenstrauch und wird erst zu "Talk nothing" und dann zu "Be totally mute". Auch traurig, oder?

Wenn ich das Wort "Monti" höre, schaue ich still auf meine im Schoß zusammengefalteten Hände und dann suchen meine Augen den Türrahmen, unter den ich mich stelle, wenn die Stärke der Erdbeben die zwei Komma irgendwas, die hier täglich in der Umgebung sind, überschreitet.

Das Kind möchte sein offenbar von Mäusen zerfressenes Plastikplanschbecken aufblasen. Ich klebe mit Gaffer-Tape. Der Rallyefahrer ist entzückt, denn mit diesem Klebeband wird den Leuten in den Filmen immer der Mund zugeklebt und wenn man es wegreißt, tut es weh. Ist das bei mir auch der Fall? Hab ich so was? Kann man es mir wegreißen, auch wenn es schmerzhaft ist?
Meine Versuche, die Löcher in dem billigen Klumpert zu flicken fruchten nicht viel, aber das Kind ist entschlossen und beruhigt mich: "Wir machen es wie die Philosophen, wir probieren es einfach so lang, bis es geht." Ich sag's ja immer, die Schule verwirrt die Kinder nur. Und mich verwirrt die Abwesenheit der Schule, denn auf wen lenke ich meine Hassattacken?

Also Sex holt mich nicht hinter dem Buch hervor, zumindest nicht der verbotene, Drugs sind schon lange keine Möglichkeit für mich, hemmungsloses Betrinken geht auch nicht, sonst würden die Kinder am nächsten Morgen die eiskalte Milch aus dem Kühlschrank trinken, sie warten nur darauf. Und Rock'n'Roll? Der hat am ehesten noch Zugang zu den verborgenen Teilen meiner Seele, jetzt in Form von Hip Hop. Und wenn die Worte "Shit" und "Fuck" vorkommen dann drehe ich das Autoradio gleich ganz laut, ich kann das nämlich auch, bis die Boxen zittern, ihr peinlichen 20-jährigen, kapiert? Und übrigens, Janis: Mir hat der Lord auch keinen Mercedes Benz gekauft und das Colour-TV hab ich selbst bezahlt. Wenn ich so denke, dann komme ich schon noch zu dem Räudigen in mir hinunter und wenn ich noch ein wenig daran arbeite, beginne ich auch wieder zu bellen.