Montag, 11. Juni 2012

Schulaufsatz

Diesen Eintrag veröffentliche ich sozusagen posthum, weil nämlich...eigentlich wollte ich nichts mehr schreiben, in dem ich als garstige Mutter, nicht verlegen um vulgären Wortschatz auftrete, aber...

In Italien endet die Schule bereits am 9. Juni und selbstverständlich meint nun das gesamte Lehrpersonal, man müsse noch mal kräftig aufs Gas steigen. Das ist auch in Ordnung, meine Söhne schleppen sich allerdings kraftlos durch diese Phase und bekommen nur angesichts eines Fußballs Energieanfälle. Kleine dumpfe Stimmchen, die verzagt englische Verben murmeln werden da zu großen Tonerzeugern. Die armen Füße, die über den Wohnzimmerboden langsam vom Tisch zum Schulrucksack schleifen, springen Staub aufwirbelnd dem Ball entgegen. Strahlend umarmt mich der 14-Jährige: "Mamma!" brüllt er in mein Ohr und drückt mich an seine verschwitzte Brust: "Entschuldige wegen vorhin." Ja, sage ich verlegen und schaue in den Sand. Vorhin hat er einen akuten Anfall des Tourette-Syndroms in mir ausgelöst. Vor ein paar Tagen hatte ich es geschafft - die freundliche Dattilografa in mir sagte:"Wenn es dir gelingt, diese Englischhausübung hinter dich zu bringen, ohne mit der Hand auf den Tisch zu schlagen, darfst du am Abend eine Flasche Prosecco öffnen." Nur - der Prosecco, den mir meine Schwägerin gebracht hat, schmeckte nach Tokaiwein, das mag ich nicht. Möglicherweise war es die Abwesenheit der Flasche Prosecco im Kühlschrank, die mich im entscheidenden Moment grob werden ließ. Zuvor war alles gut gegangen. Thema war: Beschreibe den Ort, in dem du wohnst. Seit Wochen wird dieser Aufsatz vor sich her geschoben, als würde es darum gehen, zu beschreiben, wie man sich fühlt, wenn man auf einem Klo sitzt und dann geht plötzlich die Tür auf.
"Mir fällt nichts ein."
"Ich weiß nichts."
"Ich kenne nichts."
Auch ich kenne (da) nichts und beginne, eine Struktur zu entwerfen: Einleitung, Hauptteil, Schluss schreibe ich auf ein Blatt und dazu ein paar Ideen, was man da reinpacken könnte. Ich sage: Eine Seite. Ich stelle den Timer auf 30 Minuten und gehe dem anderen Sohn helfen, der ein wenig eigenständiger beim Schreiben ist, was mich mehr interessiert. Der 14-Jährige kommt einmal vorbei, um mitzuteilen:
"Mir fällt nichts ein."
"Ich weiß nichts."
"Ich kenne nichts."
Dann geht er wieder. Dann kommt er wieder, um zu sagen, dass die 30 Minuten vorbei sind, er also fertig ist. Ich gehe zu ihm. Er hat fünf Zeilen geschrieben. In denen befinden sich Hauptteil, Mittelteil, Schluss in etwa vier Sätzen. Die Orthografie ist originell. Vom anderen Sohn wurde ich in Kenntnis gesetzt, dass es auch eine Fotokopie gibt, auf der historische Fakten zu unserem Ort stehen. Obwohl ich bei geschichtlichen Ereignissen in total unbedeutenden Orten immer ein wenig unruhig werde, scheint unser Ort doch nicht ganz so historienfrei gewesen zu sein und da war sogar der Normannenkönig Robert de Guiscard im Mittelalter und 1086 die Benediktinerpater. Die Mittelschülerin in mir verwebt die geschichtlichen Fakten mit dem, was heute ist und diktiert es dem Sohn.
"Und was fällt dir noch ein?"
"Nichts."
Ich diktiere weiter.
"Und was würdest du noch schreiben?"
"Nichts."
Ich diktiere weiter. Wir nähern uns dem Schluss. Die Lippen des 14-Jährigen hängen fast auf seiner Brust.
"Also was würdest du denn gerne sehen oder kennenlernen?"
"Nichts."
Tourette explodiert.
"Dann schreib doch bitte, sie sollen dich alle am Arsch lecken und du willst nichts wissen von diesem Scheißort."
Bei diesen Worten wird der Rallyefahrer, der sich gerade in breakdancetechnischen Verrenkungen auf dem Boden rollt, aufmerksam.
Mir wird etwas eng im Hals und ich fordere den 14-Jährigen auf, einfach in sein Zimmer zu gehen, wenn es ihn nicht interessiert, er habe meine Grenzen überschritten. Er streikt. Er nützt die Gelegenheit nicht. Das Kind kommt nach Hause. Es versucht sich bemerkbar zu machen. Der 14-Jährige beginnt zu schreiben. Irgendwie beruhigt sich die Situation wieder, aber ich atme immer noch schwer.
Nach kurzer Zeit sind dann alle sehr eifrig. Das Kind spielt eifrig im Bubenzimmer, was auch als Erfolg zu verbuchen ist, denn normalerweise schreit ER, während die anderen lernen. Er hat allerdings nichts mit Tourette zu tun.
Dann bringe ich das Kind in die Tanzstunde. Dann komme ich wieder nach Hause. Dann spielen die Jungs Fußball und sind bester Laune.
Dann, dann! Du sollst nicht immer dann am Anfang des Satzes schreiben hätten meine Lehrer damals mit rot in mein Heft geschrieben.
Was der 14-Jährige am Ende seines Aufsatzes geschrieben hat, weiß ich übrigens nicht. Ich hoffe, es war nicht der Satz, den Tourette angeregt hat.
Der Rallyefahrer gesteht mir, er hätte es toll gefunden, als ich gesagt habe: am Arsch lecken. Ich weiß schon, auf italienisch sagt man das anders.

Nach etwa einer Woche ist der 14-jährige Sohn nach Hause gekommen und hat gesagt, die Prof hätte "Bravo" unter seinen Aufsatz geschrieben. Und hier kommt bitte mein alles überragender Einsatz als Mutter, in dem ich sage: "Na schau, das war doch die Mühe wert." "Ja" sagt er. 

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