Freitag, 26. Juni 2015

Das Mädchen in mir

Ich kann immer noch auf einen Marillenbaum steigen. Nur überlege ich heute, ob ich mein Kind als Wachposten abbeordnen soll, falls ich runterfalle. Ich freue mich immer noch, wenn ich Marillen pflücken kann. Und ich muss sie nicht mehr meinen Puppen verfüttern. Es ist auch nicht mehr der Marillenbaum von meiner Oma, sondern mein eigener. Ich habe einen Marillenbaum. Wow.

Aber ich habe Angst. Was ich mir alles brechen kann. Wer mich findet wenn ich runterfalle und wie ich ins Spital komme. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich gedacht, ich sei unverletzbar. Lang bin ich als Terminator gut durch gekommen.

Ich baumle mit den Beinen und der Ast bricht auch nicht sofort ab, wenn ich mich auf ihn setze. Niemand ruft mich zum Essen, das bin ich heute, die ruft. Und meine Kinder setzen sich gar nicht so gerne in die Bäume.

Weil die Terminator-Zeit vorbei ist und auch die des kleinen Mädchens, ist mir klar, dass mir nicht mehr der Sohn des Bauerns, bei dem ich, wenn ich bei der Oma bin, abends die Milch hole, gefällt, sondern die, die mindestens eine so lange Lebenserfahrung haben, wie ich selbst, die mit den Falten um die Augen, eingerahmt von einer Schneise.

Erstaunlicherweise schmecken die Marillen genauso wie die von der Oma.

Donnerstag, 25. Juni 2015

Ma il cielo è sempre più blu

Jemand sagt mir, es wäre besser, wenn ich in die große Stadt zurückkehren würde. Ich sei einsam in Italien. Der Mann, der das sagt, macht mir Eindruck und so also auch seine Aussage.

Ja, stimmt, einsam. Im Sinne von: Die meisten meiner gescheiten Freundinnen sind in der großen Stadt.

Ich gehe durch die Tage und denke: Vielleicht habe ich alles falsch gemacht.

Ich bin bewegt.

Ich zweifle.

Ich zweifle aber auch sehr daran, dass in der großen Stadt alles anders wäre. Ich zweifle daran, dass all die Freunde, die ich vermisse, sich mit mir beschäftigen wollten, statt sich um ihre Familie zu kümmern. Das ist jetzt so. In ein paar Jahren wird es wieder anders sein.

Ich zweifle trotzdem. Bis ich den Himmel und das Meer von Belvedere sehe. Am Sonntag in der Früh, als ich in den Supermarkt fahre, denn am Sonntag bekommen dort große Familien 20% Rabatt. Ich hab eine große Familie. Und ich gehe am Sonntag in der Früh einkaufen, ohne meine Familie, bevor die anderen Familien kommen.

Ich habe einen Kaffee und ein Cornetto intus und ein kurzes Gespräch mit der Frau in der Bar, in der es darum ging, dass das Wetter gar nicht so schlecht ist, wie angekündigt, und dass wir beide nicht wissen, wann denn dieses angekündigte schlechte Wetter eigentlich kommen soll. Wir sind verschont geblieben, sage ich.

Und dann sehe ich das Meer und es überfällt mich unerklärlich wie die Liebe. Es ist tiefblau und es liegt unter mir. Nein, ich habe keinen Fehler gemacht. Das ist für mich.

In all diesem Mist und ich meine hier: Mist, denn die Mülltrennung, die mir so sympathisch wäre, ist etwas, was ich privat betreibe, fällt mir das Lied von Rino Gaetano ein:

Er zitiert all die Scheiße, die einem im Leben passieren kann und dabei sind die unglaublichsten Sachen - der eine ist Bauer, ein anderer kehrt den Hof zusammen, ein anderer ist Spion und es gibt auch den, der seine Tante liebt und die, die in Kalabrien leben. Die, die Pensionen stehlen, die, die eine schlechtes Gedächtnis haben und die, die von einem Zug überfahren werden, sowie die, die von Liebe leben. Und der Himmel ist immer blauer. Wer auf die Mauern schreibt, wer von Millionen träumt, wer eine Strafe erhalten hat und wer die Südländer hasst, chi mangia patate, chi beve un bicchiere, ma il cielo è sempre più blu.

Der Himmel ist immer blauer.

Und zwar nicht dort, wo die anderen sind, sondern dort, wo man ist, auch wenn man so ein Handicap hat, wie die Tante zu lieben, Brillen zu tragen oder in Kalabrien zu leben.

Dienstag, 16. Juni 2015

Sommer

Die Schulferien haben in Italien offiziell begonnen und der einzige kritische Moment des Schuljahrs, als die Ministerin für Unterricht und Forschung angekündigt hatte, es werde künftig nur noch einen Monat Ferien geben, liegt bereits vergessen zurück. Nein, Mütter und Väter, auch heuer werden die Schüler 13,5 Wochen Ferien haben und rechnet man dazu, dass die meisten seit Anfang Juni die Schule nicht mehr besuchen, 15 Wochen. Für uns sind es 14 Wochen, denn ein paar Tage kann man auch mit wenigen Mitschülern spielen, wenn man klein ist, oder die letzte Prüfung machen, wenn man größer ist. Nur mit jenen herumhängen, die nicht noch mehr Fehlstunden haben können, muss man dann nicht. Ich sehe dieser sommerlichen Unendlichkeit mit einer Mischung aus Gelassenheit und aufkeimender Panik entgegen. In den vergangenen Jahren habe ich mich gut gerüstet mit Sommercamps, Monaten, in denen der nicht richtig begriffene Stoff aufgeholt und in Mammas Büro gelernt wurde und langen Aufenthalten in der großen Stadt. Heuer ist nichts geplant. Denn man kann mit jungen Menschen, die fast 18, 16 und 13 sind, nicht mehr so leicht verreisen. Zumindest nicht als ihre Mutter. Es ist auch ein bisschen Trotz, denn der Ex-Rallyefahrer, nun Fußballer, hat letzten Sommer gesagt, er wolle nicht mehr in die große Stadt fahren. In Wirklichkeit hat es ihm dort gut gefallen, aber ich bin dennoch ein bisschen beleidigt und vielleicht ist eine Pause wirklich nicht das schlechteste.

Noch sind alle entspannt und ich bin verwundert. Sollte mein jahrelanges säuerliches Vorgeben eines Rhythmus doch etwas gefruchtet haben? Nein, kein elektronisches Gerät vor dem Mittagessen. Du kannst lesen. Welche Hausarbeit willst du verrichten, bevor du die Playstation aufdrehst?
Jetzt sage ich nichts mehr und alle zeichnen am Vormittag. Natürlich haben sie dabei Kopfhörer auf, aber sie sind immerhin nicht im Netz. Ich habe in meinem ganzen Leben nicht so viel gezeichnet wie meine Kinder an einem Tag. Nach dem Mittagessen geht es dann ins hedonistische Technikvergnügen. Und wenn dann noch Energie übrig bleibt, ans Meer. Dieser Zustand wird auch nicht ewig dauern. Denn irgendwann werden wir die Zeugnisse abholen und wenn diese positiv sind, wovon ich ausgehe, nachdem ich in den letzen Monaten laut gebellt habe, wenn Wünsche an mich heran getragen wurden, die anstatt des oder zeitlich vor dem Ausbessern des katastrophalen Halbjahrzeugnis, erfüllt werden sollten, wird man hier beginnen, einen Auto-Führerschein und einen Mofa-Führerschein zu machen.

Ich bin überhaupt verwundert, denn die Pubertät scheint etwas Intermittierendes zu sein. Der Fußballer spricht wieder. Zum Beispiel erzählt MM von einem Fall eines geschiedenen Paars, das eine Tochter hat. Die Mutter ist Veganerin und der Vater hat die Mutter verklagt, weil sie die Tochter nicht richtig ernährt. "Wie glaubt ihr, hat der Richter entschieden?" fragt MM. "Sie kommt in eine andere Familie", vermutet der Fußballer. Ich starre ihn fassungslos an. Er hat eine Stimme. Er hat das erste Mal seit zwei Jahren seinen Kopf vom Teller weggehoben. Vielleicht wünscht er es dem Mädchen, in eine andere Familie zu kommen, so wie er es sich vielleicht in den letzten zwei Jahren selbst gewünscht hat. Aber jetzt ist er 16, hat sich seine Balottelli-Frisur abschneiden lassen und lächelt manchmal.
Das Mädchen muss übrigens nach einem ausgewogenen Diätplan ernährt werden, in dem von allem etwas vorgesehen ist.

Das Kind hingegen wehrt sich, in die Pubertät einzutreten, zumindest, was meine Rolle betrifft. Seinem Vater gegenüber ist Schnauben die einzige Kommunikation, zu mir ist er sehr lieb und kindisch und erzählt mir, dass Katy Perry in ihrer Garderobe vor jedem Auftritt eine Kiste eines Biers, dessen Name ich vergessen habe, gekühlt, versteht sich, haben möchte, eine Kiste Mineralwasser, 3 Flaschen gekühlten Pinot grigio und rote und rosa Blumen. Ich bezeuge offenbar so viel Interesse (ehrlich gesagt am Pinot grigio), dass er am nächsten Tag wieder berichtet:
- Mamma, ich habe dir doch erzählt, was Katy Perry in ihrer Garderobe will, aber jetzt sag ich dir, was Miley Cyrus bestellt: 102 rote Rosen und 102 weiße Rosen.
- Was? sage ich, meinst du 200 rote und 200 weiße?
- Nein, 102.
Von einem Moment auf den anderen bekomme ich einen Anflug von dem, was man in meiner Jugend "Blutrausch" genannt hat. Eigentlich weiß ich nicht, ob einem dann das Blut in den Adern kocht, so dass einem der Hals schwillt, oder ob man im Rausch solange auf jemanden einschlägt, bis man Blut sieht. Auf jeden Fall würde ich gerne beide Sängerinnen mit dem Kopf zusammenstoßen.
- Ich finde das manisch, sage ich ungeduldig. Ich will sagen: ich finde das obszön.
- Wieso? fragt das Kind erschrocken.
- Stell dir vor, du würdest zu mir sagen, ich soll dir 102 Blumen ins Zimmer stellen, aber es müssen 102 sein.
Das kommt ihm auch komisch vor. Mein Kind weiß, dass es Leute gibt, die nichts zu essen haben, ich muss es ihm nicht sagen. Ich weiß auch, dass ich in seinem Alter Rod Stewart verehrt habe und der hat sich wahrscheinlich noch was ganz anderes als Blumen in die Garderobe stellen lassen.
Ich nehme weiter die Wäsche ab und stecke die orangen und roten Wäscheklammern in einen Sack. Das Kind trollt sich wieder, sicher Gossip lesen.