Donnerstag, 25. November 2010

Die Versammlung

Anlaesslich des wunderbaren Projekts, das meine Kinder bis 17 Uhr in der Schule fest haelt, lud die Direktorin der Schule die Eltern zu einer Versammlung. Allein das Wort "Assemblea" loest bei mir die Hoffnung auf politische Unruhe aus und nur allzu gern organisiere ich den Tag so, dass ich zur Versammlung gehen kann. 33 Kinder aus zwei Klassen sollen an dem Projekt teilnehmen und es sind auch recht viele Muetter relativ puenktlich da, kein Vater. Auf einer Art Podium sitzt die Direktorin, flankiert von einem Lehrer und drei Lehrerinnen. Sie stellt kurz das Projekt vor, es geht um Mathematik. Das Projekt nimmt einen Umfang von 50 Stunden in Anspruch, was bedeutet, dass die Kinder, zusaetzlich zu den zwei Tagen, an denen sie in der Schule essen, weitere drei Tage nachmittags in der Schule bleiben muessen. Ab jetzt geht es nur noch um Wurstbrote. Die Direktorin sagt, die Eltern werden nun aufgerufen und sollen ja zum Projekt sagen und ja, wenn sie Mensaservice wollten. Das nehme allerdings viel Zeit in Anspruch, gibt die Direktorin zu bedenken. Ein Raunen geht durch die Menge. Die Direktorin hebt die Stimme: die Mehrheit entscheide. "Nein, Maestra, keine Mensa!" ruft eine Mutter. Hinter mir wird eine Stimme laut: "Also wenn es Mensa gibt, dann kann ich mein Kind nicht schicken, mein Kind isst nicht in der Mensa." "Anna kann nicht jeden Tag Pasta essen!" ruft eine andere Mutter. "Mein Sohn darf nicht so viele Wurstbrote essen!" kommt es aus einem anderen Eck. Die Stimmung wird aufgeheizt. "Du? Was meinst du?" sagt die Mutter vom Schulfreund zu mir. Ich sage, dass alles Vor- und Nachteile hat. Ich gebe nicht zu, dass ich so gemein waere, meine Kinder fuer 1,50 Euro jeden Tag der gesundheitsgefaehrdenden Mensa auszusetzen. Die Stimme hinter mir wird gellend, ich kenne die Stimme, sie gehoert einer Frau, die ich bis vor 30 Sekunden als meine Freundin bezeichnet haette. Jetzt finde ich sie bizarr: "Kann ich meinem Sohn etwas kochen und mitgeben?" "Una Cotoletta!" kommt die Loesung von einer anderen Seite. Die Dirketorin wackelt mit ihren langen Ohrringen: "Bitte geben Sie ihm mit, was sie wollen, wir Lehrer haben keine Zeit, zu kochen, wir sind auch den ganzen Tag hier, wir geben uns mit Panino, Mortadella und Mozzarella zufrieden..." will sie den beunruhigten Muettern Mut machen. "Wir koennten alle gemeinsam Pizza bestellen!" will die Elternvertreterin schlichten. "Aber das ist doch auch trocken!" wirft eine andere Mutter ein. Spaeter denke ich, dass die Kinder alle Suppe zu Mittag essen muessen. Alle reden durcheinander: " Pizza, Pasta asciutta, Panino, Polpette, Dolci!". Eine Mutter ruft: "Wir bringen ab und zu einen Kuchen!" Sie freut sich ueber ihre gelungene Meldung. Hinter mir gibt meine Freundin nicht auf: "Aber wenn es Mensa gibt, kann ich meinen Sohn mit nach Hause nehmen? Mein Sohn isst nicht in der Mensa!" Sie findet kein Gehoer, das Podium diskutiert mit anderen Frauen ueber das Essen. Sie wiederholt lautstark mehrmals ihre Anfrage. Wie will sie denn das machen, sie ist doch auch berufstaetig, frage ich mich. Sie sagt immer, sie will ihn holen. "Ist nicht die Mensa besser, als ein verschimmeltes Kotelett?" fragt mich die Mutter des Schulkollegen hinter vorgehaltener Hand. "Das verschimmelt doch, wenn du es am Vorabend machst." Ich spuere, wie ich Atemnot bekomme. Die Zeit laueft davon, ich habe nur eine Stunde davon. Ich will weder abends noch morgens kochen, ich sehe mich schon Pizza fuer 33 Kinder einkaufen, ich bekomme die Panik. Die Panik haben hier alle. Meine Freundin will immer noch wissen, ob sie ihr Kind mittags abholen kann, falls es Mensaservice gibt. Die Direktorin sagt: "Warten Sie ab, die Mehrheit entscheidet." "Ich will doch nur wissen, was ich tun soll!" schreit sie mittlerweile gellend. Ich weiss, dass sie ebenso muede ist wie ich. Wenn ich reden wuerde, wuerde sich meine Stimme wahrscheinlich auch ueberschlagen. Die Direktorin klopft mit dem Stift auf den Tisch. Wahrscheinlich findet sie die Muetter der Schueler noch unertraeglicher als die Schueler. Sie beginnt, die Muetter abzufragen. Zum Projekt sagen alle ja, zur Mensa nein. Als ich an der Reihe bin, sagt sie selbst zum Thema Mensa "Ja, oder?". Ich bin uberrascht und fuehle mich wie eine Streikbrecherin, wieso weiss sie, dass ich fuer die Mensa bin? Haelt sie mich fuer einen Kibbuznik oder die Mensa fuer eine Art Volkskueche? Im Endeffekt wird nicht mehr ueber die Mensa gesprochen, denn alle haben sich fuer das Panino entschieden. Eine Mutter sorgt noch fuer Aufsehen, denn sie meint, sie muesse ihr Kind ja wohl gezwungenermassen zum Projekt schicken. "Nein," sagt die Direktorin, "das ist hier kein Gefaengnis." Die Mutter wendet sich ab, will sie ihre Traenen verbergen? "Ich bin nicht dafuer, dass die Kinder den ganzen Tag in der Schule sind." sagt sie verschaemt. Ich denke, dann lass ihn halt zu Hause, und bekomme Herzklopfen, aus Angst, das von mir so geliebte Projekt koennte jetzt zertruemmert werden. Der Lehrer sagt: "Kommen sie, Signora, geben sie ihrem Herzen einen Stoss!", aber die Mutter ist skeptisch. Ihr Sohn ist der kluegste in der Klasse. Hat sie Angst, er wuerde seine Intelligenz verlieren, wenn er mehr als 5 Stunden in der Schule bliebe? Vielleicht sollte ich meine Kinder nachmittags zu ihr schicken? Die Direktorin will wissen, ob es sonst noch Fragen gibt, eine Mutter meint: "Brauchen die Kinder Hefte?" Ich finde diese Frau intelligent. Die Direktorin wirkt muede, sie sagt, ja, kariert. Dann bekreuzigt sie sich und sagt: "Mit der Hilfe Gottes werden wir dieses Projekt schaffen."
Danach stellt der Lehrer seine geplanten Bildungsreisen vor. Da legen sie wieder los, die Muetter. Die vor mir fragt, ob die Eltern auch mitfahren duerfen, weil die Reiseziele so toll sind (Magna Grecia: Sizilien - Agrigent und Syrakus). Es wirkt ein wenig wie ein Angebot an den Lehrer, der sagt: "Sperren sie ihre Pizzeria halt einmal ein paar Tage zu und machen sie eine Reise!" Hinter mir wird meine Freundin aktiv: "Francesco faehrt sicher auf keine Bildungsreise mit!" Eh klar, da wuerde er vermutlich verhungern.
Eine Woche nach der Versammlung, aus der ich schliesslich gehetzt weglaufe, um das Kind von der Schule abzuholen, frage ich die grossen Kinder, ob sie eigentlich in der Mensa haetten essen wollen."NEIN!" kommt es ohne Zweifel. Sie essen naemlich neben ihren Wurstbroten die guten Sachen, die meine Freundin fuer Francesco kocht.

Mittwoch, 24. November 2010

Lieblingsthema Schule

Was Saviano erzaehlt hat, geht mir nicht aus dem Kopf und ich muss immer an die Kinder denken, die in den Schulen in Crotone sitzen, in die der Giftmuell eingebaut ist. Vielleicht sind die Gebaeude ja geschlossen, was die Situation verbessern wuerde. Um mich zu beruhigen, denke ich an die Witze des Komikers Corrado Guzzanti, der ebenfalls in der Sendung "Vieni via con me" aufgetreten ist und dort eine Liste der Sprueche zum Besten gab, "die der Sendung nicht helfen werden". Einer von diesen war: "Der italienische Staat hat kein Geld fuer das Klopapier in den Schulen, Unterrichtsministerin Gelmini bittet, die Kinder mit bereits entleertem Darm in die Schule zu schicken." Das ist so lustig, weil es wahr ist. Letztes Jahr haben die Elternvertreter ueberlegt, ob sie eine Sammlung machen sollen, um das Klopapier zu kaufen.Im Moment spricht niemand davon, vielleicht hat sich ein privater Spender gefunden, ein lokaler Unternehmer zum Beispiel. Oder es gibt kein Klopapier und meine Kinder sagen nichts, weil sie mit einer Packung Taschentuecher ausgestattet sind? Ich muss nachfragen. Die Kinder gehen ohnehin ungern in der Schule aufs Klo, zumindest nicht, um sich dort zu entleeren. Daher sind zwei unserer drei Klos nach ihrem Heimkommen immer laenger besetzt, das dritte funktioniert entweder nicht, oder ich verteidige es, weil ich dort die Waschmaschine einraeume.
Mir persoenlich hat der Staat in Form der Schule meiner grossen Kinder ein Geschenk gemacht. Die Schule bekam ein Projekt bewilligt, in dem die Kinder 50 Stunden zusaetzlich Mathematik-Unterricht haben und daher bis Weihnachten jeden Tag bis 17 Uhr in der Schule sind. Da mein Leben bis vor 10 Tagen, bis vor dem wundersamen Auftauchen dieses Projekts, ein Kreuzweg war, der aus vormittaeglicher Arbeit und nachmittaeglichen Hausaufgaben bestand, sauge ich nun jede Minute meines Alleinseins begierig in mich auf, denn ab Januar heisst es dann wieder italienische Hausaufgaben korrigieren. Einmal habe ich meinen Sohn zu einer Poesie inspiriert zum Thema: Wenn ich der Herbst waere, mit welchen Farben wuerde ich mich kleiden. Leider strich die Lehrerin mit Rotstift das Gedicht durch und schrieb darunter: Rifare! Noch einmal schreiben. Ausserdem klebte auf dem Italienischheft des Kinds ein rosa Post-It, darauf stand: Der Rallyefahrer stoert, waehrend ich erklaere! Ich finde, das ist ihr Problem, aber ich fuehle mich genoetigt, erstens den Rallyefahrer zur Sau zu machen und am naechsten Tag wie Medea in der Schule einzufahren und die Lehrerin anzupfauchen. Sie sagt, sie mache das nur zu seinem Besten. "Das will ich hoffen". entschluepft es mir.
Daher bin ich dankbar, dass wir eine Zeit lang keine Italienischaufgaben machen muessen. Zum Glueck darf am Wochenende noch Geschichte und Geografie und Naturgeschichte gebueffelt werden, denn so erfahre ich etwas ueber das Steissbein und Alexander den Grossen. Ich druecke den begeisterten Kinder den Film Alexander von Oliver Stone rein und nach drei Minuten Film faellt MM ein, warum der Film von der Kritik mit Unbehagen aufgenommen wurde: er unterstreiche die vermutliche oder erwiesene Homosexualitaet Alexanders. Auweh! "Er hat ihn auf den Mund gekuesst!" stellt das Kind gleich verunsichert fest. "Sei still, das war damals so", ruegt ihn der Rallyefahrer und hoechstwahrscheinlich hat er recht. Das Ende sehe auch ich: Alexander wird in einer psychedelisch anmutenden Szene vom Pferd geworfen, sein Gegner sitzt auf einem sich aufbaeumenden Elefanten, die Bilder sind rot gefaerbt. Danach werden alle krank und die Maenner haben Kajal unter den Augen. Colin Farell als Alexander trinkt Gift und folgt seinem Geliebten Efaistos den Tod. Das Kind sagt: "Jetzt sind sie im Himmel wieder zusammen." Er versteht eben was von Liebe.
In Wikipedia lese ich, dass "Alexander" 2005 eine Art Oscar als schlechtester Film bekommen hat. Naja, manchmal darf man als eifrige Mutter auch daneben greifen.
Jedenfalls kommen nach den Griechen die Roemer im Geschichtebuch und Ben Hur haben wir bereits gesehen.

Dienstag, 23. November 2010

Vieni via con me

Auf der Suche nach einem wischfesten Filzstift (wie heisst denn das auf deutsch eigentlich), komme ich an meinem Computer vorbei. Im rosa Zimmer ist es dunkel, denn nun gibt sich der Sueden den Umwettern hin, die zuvor dem Norden zu schaffen machten. Die Zitronen unterhalb meines Fensters reifen dennoch unbeirrt. Das Baeumchen hat die Zementattacken der Maurer ueberlebt.
Vier Monate lang bin ich taeglich beruflich viele Stunden an meinem Computer gesessen, habe den Rest der Zeit meine Familie betreut und sonst recht wenig von der Welt mitbekommen. Seit einer Woche ist meine Arbeit fertig und ich bin ein Uebersiedlungsunternehmen geworden, das mit maessigem Erfolg schleppend vor sich hin arbeitet. Aber ich hoere nun stundenlang Radio und weiss wieder viel zu viel von dem, was in Italien abgeht. Gestern haben wir sogar fern gesehen, nachdem die Kinder im Bett waren. Auf einem winzigen TV-Geraet mit ausziehbarer Antenne, denn eine Satellitenschuessel oder aehnliches gibt es hier noch nicht. Es gibt naemlich noch die wenigen Momente, in denen die Menschen sagen duerfen, was sie denken, und eine dieser kostbaren Moeglichkeiten ist die Sendung "Vieni via con me" (ein Lied von Paolo Conte) von Fabio Fazio und Roberto Saviano. Wir sehen die Sendung gemeinsam mit 10 Millionen anderer Menschen, ist das nicht schoen? Was gesagt wird, ist nicht schoen, aber es tut gut, dass es gesagt wird. Dass der Berg des Muells, den die kriminellen Organisationen anhauefen, 15800 Meter hoch waere oder ist. Dass was in die Muellhalden um Neapel kommt, aus dem Norden stammt und dass damit Geld verdient wird und zwar viel. Allein 8 Milliarden Euro wurden fuer die Loesung des Problems in den letzten 10 Jahren ausgegeben. Geloest wurde das Problem laut Aussage des italienischen Premierministers nun rasch und effizient. In seiner Phantasie. Die Menschen werden fuer dumm verkauft und krank gemacht.
Wir, die wird nicht in der Gegend von Neapel leben, sondern noch naeher an Afrika, haben fuer unseren ganzen Ortsteil zwei Muelltonnen, die etwa drei Kilometer von unserem Haus entfernt sind. Als ich die Muellabfuhr auf der Gemeinde auf unseren Namen schreiben lassen will, rufe ich zuerst bei den Konsumentenvereinigung an und frage, ob es ein Gesetz gibt, das besagt, wie weit die Muelltonne der Gemeinde von den Buergern entfernt sein darf. Aber diesebezueglich gibt es nur eine Hygieneverordnung der Gemeinde. "Sie zahlen ohnehin weniger", sagt der Mann auf der Gemeinde irritiert. In unserem Ortsteil, der sich ueber einen Huegel erstreckt, muessen die Menschen ihren Mist mit dem Auto zur Tonne fahren. Wer kein Auto hat, bringt den Muell mit dem oeffentlichen kleinen Autobus. Muelltrennung gibt es keine. Es gibt in Sueditalien auch kaum Stellen, an denen man leere Batterien abgeben kann und bei meinen Versuchen, abgelaufene Medikamente in die Apotheke zu bringen, habe ich die Apothekerin in Angst versetzt. Ich denke, sie hat meine Medikamente in ihren Hausmuell geworfen. Natuerlich verbrennen die Menschen ihren Muell. Auf dem Huegel gegenueber unserem Haus sehe ich abends bei gutem Wetter immer eine kleine Rauchfahne, mal vor dem einen Haus, mal vor dem anderen. Ich bringe unsere leeren Weinflaschen zum Altglascontainer in den Ort, wo wir frueher gewohnt haben, ich zahle dort auch noch fuer den Muell, aber es gelingt mir nicht, die Flaschen in den Container zu stopfen. Hier hat schon lange kein Altglastransport stattgefunden.
Jetzt stapeln sich die leeren Weinflaschen neben den Kinderschuhen. Aber die Vorstellung, angesichts der Verwuestung unseres Planeten nur noch Wasser aus dem Krug zu trinken, ist auch nicht angenehm. Wo der ganze Mist hinkommt, weiss ich nicht. Aber als ich letztens hoerte, dass ein Radiopraesentator ein Buch geschrieben hat, in dem er die einzelnen Menschen auffordert, das ihre zur Problemloesung beizutragen und Muell zu trennen, haette ich fast beim Radio angerufen. Aber ich bin keine gute Anruferin. Ich bewundere all diese Menschen, denen Furchtbares angetan wird und die mit fester Stimme erzaehlen, was passiert ist. Ich hingegen habe vor ein paar Tagen bei einer Verkehrskontrolle aus Wut zu heulen begonnen, das habe ich allerdings niemandem erzaehlt. Wenn ich in der Schule anrufen muss, bittet mich MM, an Che Guevara zu denken, der die Revolution mit Zaertlichkeit gemacht hat. Dass MM an den Che denkt, erfuellt dann mich mit Zaertlichkeit, aber am Telefon moechte ich doch schreien, die Lehrerinnen lassen mich allerdings ohnehin nicht zu Wort kommen. Lieber doch im Radio anrufen, dort wird man wenigstens nicht unterbrochen.