Dienstag, 23. November 2010

Vieni via con me

Auf der Suche nach einem wischfesten Filzstift (wie heisst denn das auf deutsch eigentlich), komme ich an meinem Computer vorbei. Im rosa Zimmer ist es dunkel, denn nun gibt sich der Sueden den Umwettern hin, die zuvor dem Norden zu schaffen machten. Die Zitronen unterhalb meines Fensters reifen dennoch unbeirrt. Das Baeumchen hat die Zementattacken der Maurer ueberlebt.
Vier Monate lang bin ich taeglich beruflich viele Stunden an meinem Computer gesessen, habe den Rest der Zeit meine Familie betreut und sonst recht wenig von der Welt mitbekommen. Seit einer Woche ist meine Arbeit fertig und ich bin ein Uebersiedlungsunternehmen geworden, das mit maessigem Erfolg schleppend vor sich hin arbeitet. Aber ich hoere nun stundenlang Radio und weiss wieder viel zu viel von dem, was in Italien abgeht. Gestern haben wir sogar fern gesehen, nachdem die Kinder im Bett waren. Auf einem winzigen TV-Geraet mit ausziehbarer Antenne, denn eine Satellitenschuessel oder aehnliches gibt es hier noch nicht. Es gibt naemlich noch die wenigen Momente, in denen die Menschen sagen duerfen, was sie denken, und eine dieser kostbaren Moeglichkeiten ist die Sendung "Vieni via con me" (ein Lied von Paolo Conte) von Fabio Fazio und Roberto Saviano. Wir sehen die Sendung gemeinsam mit 10 Millionen anderer Menschen, ist das nicht schoen? Was gesagt wird, ist nicht schoen, aber es tut gut, dass es gesagt wird. Dass der Berg des Muells, den die kriminellen Organisationen anhauefen, 15800 Meter hoch waere oder ist. Dass was in die Muellhalden um Neapel kommt, aus dem Norden stammt und dass damit Geld verdient wird und zwar viel. Allein 8 Milliarden Euro wurden fuer die Loesung des Problems in den letzten 10 Jahren ausgegeben. Geloest wurde das Problem laut Aussage des italienischen Premierministers nun rasch und effizient. In seiner Phantasie. Die Menschen werden fuer dumm verkauft und krank gemacht.
Wir, die wird nicht in der Gegend von Neapel leben, sondern noch naeher an Afrika, haben fuer unseren ganzen Ortsteil zwei Muelltonnen, die etwa drei Kilometer von unserem Haus entfernt sind. Als ich die Muellabfuhr auf der Gemeinde auf unseren Namen schreiben lassen will, rufe ich zuerst bei den Konsumentenvereinigung an und frage, ob es ein Gesetz gibt, das besagt, wie weit die Muelltonne der Gemeinde von den Buergern entfernt sein darf. Aber diesebezueglich gibt es nur eine Hygieneverordnung der Gemeinde. "Sie zahlen ohnehin weniger", sagt der Mann auf der Gemeinde irritiert. In unserem Ortsteil, der sich ueber einen Huegel erstreckt, muessen die Menschen ihren Mist mit dem Auto zur Tonne fahren. Wer kein Auto hat, bringt den Muell mit dem oeffentlichen kleinen Autobus. Muelltrennung gibt es keine. Es gibt in Sueditalien auch kaum Stellen, an denen man leere Batterien abgeben kann und bei meinen Versuchen, abgelaufene Medikamente in die Apotheke zu bringen, habe ich die Apothekerin in Angst versetzt. Ich denke, sie hat meine Medikamente in ihren Hausmuell geworfen. Natuerlich verbrennen die Menschen ihren Muell. Auf dem Huegel gegenueber unserem Haus sehe ich abends bei gutem Wetter immer eine kleine Rauchfahne, mal vor dem einen Haus, mal vor dem anderen. Ich bringe unsere leeren Weinflaschen zum Altglascontainer in den Ort, wo wir frueher gewohnt haben, ich zahle dort auch noch fuer den Muell, aber es gelingt mir nicht, die Flaschen in den Container zu stopfen. Hier hat schon lange kein Altglastransport stattgefunden.
Jetzt stapeln sich die leeren Weinflaschen neben den Kinderschuhen. Aber die Vorstellung, angesichts der Verwuestung unseres Planeten nur noch Wasser aus dem Krug zu trinken, ist auch nicht angenehm. Wo der ganze Mist hinkommt, weiss ich nicht. Aber als ich letztens hoerte, dass ein Radiopraesentator ein Buch geschrieben hat, in dem er die einzelnen Menschen auffordert, das ihre zur Problemloesung beizutragen und Muell zu trennen, haette ich fast beim Radio angerufen. Aber ich bin keine gute Anruferin. Ich bewundere all diese Menschen, denen Furchtbares angetan wird und die mit fester Stimme erzaehlen, was passiert ist. Ich hingegen habe vor ein paar Tagen bei einer Verkehrskontrolle aus Wut zu heulen begonnen, das habe ich allerdings niemandem erzaehlt. Wenn ich in der Schule anrufen muss, bittet mich MM, an Che Guevara zu denken, der die Revolution mit Zaertlichkeit gemacht hat. Dass MM an den Che denkt, erfuellt dann mich mit Zaertlichkeit, aber am Telefon moechte ich doch schreien, die Lehrerinnen lassen mich allerdings ohnehin nicht zu Wort kommen. Lieber doch im Radio anrufen, dort wird man wenigstens nicht unterbrochen.

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