Freitag, 5. Dezember 2014

Männer



Hinter unterem Haus stand einst ein Feigenbaum. Er trug einen Teil zu der romantischen Atmosphäre bei, die uns derart gefiel, dass wir dieses Haus kauften. Neben einem Apfelbaum fiel dieser Feigenbaum der Säge zum Opfer. An seiner Stelle wurde ein Parkplatz für unser Auto geschaffen. Hinter dem ehemaligen Feigenbaum wurden riesige Eisenkörbe mit großen Steinen in die Erde gepfropft, auf dass auch LKWs an unser Haus herankönnen und es wurde eine bereits bestehende Mauer erhöht. Damit eben das Auto gut parken kann. Der Feigenbaum zog ohnehin nur Wespen und andere gefährliche Insekten an, wurde mir erklärt.

Der Nachbar zog auch seinen Nutzen aus unseren grobschlächtigen Veränderungen und baute den winzigen Trampelpfad, der hinter unserem Haus zu seinem Haus führte in eine ungepflasterte Straße aus, über die er nicht nur Zugang zur kleinen öffentlichen Straße hat, sondern auf der auch seine Söhne, Schwiegersöhne und Enkel mit Kindermotorrädern, normalen Motorrädern und Motocross-Maschinen fahren.

Vier Jahre stand nun also unser kleines rotes Auto unter einem großen Eichenbaum am oberen Rand dieser immer unverputzt gebliebenen Mauer geparkt, wenn es zu Hause war. Zwischen Mauer und Haus spielten die Jungs Fußball, manchmal mit den Jungs vom Nachbarn. Der linke Nachbar und seine Frau pendeln zwischen ihrem Haus und dem Anwesen des rechten Nachbarn hin und her, denn sie bestellen dessen Garten. Links und rechts sind in diesem Fall von unserem Haus aus gesehene Richtungen und keine politischen Haltungen. Unter dem großen Eichenbaum wird das rote Auto, zumindest im Herbst, von einer klebrigen Schicht überzogen.

Eines Tages im Frühling kam der Nachbar und sagte zu MM, dass er glaube, diese Mauer müsse verbessert werden, denn sie habe sich ausgebeult und man möge ein Unglück vermeiden, schließlich spielen ja Kinder im Schatten dieser Mauer. Das wunderte mich gar nicht, denn aus dieser Mauer hatte ich schon Wasser kommen sehen, aber wie konnte ich annehmen, dass dies nicht ordnungsgemäß war, schließlich wurde diese Mauer nicht vor hundert Jahren hinter dem vor hundert Jahren erbauten Haus gebaut, sondern vor fünf Jahren, als das hundertjährige Haus renoviert wurde. Und zwar von legal bezahlten Fachkräften. Eine Schlange wohnte auch in der Mauer, aber das sagte ich niemandem, denn ich weiß, dass sich die meisten Leute, darunter auch unsere Nachbarin, vor Schlangen fürchten. Außerdem wohnte die Schlange, wenn ich genau sein möchte, nicht in der Mauer, sondern hinter der Mauer.

Nach einigen Wochen Ungläubigkeit sah auch MM ein, dass die Erde über der Mauer eine Art Wasserbecken gebildet hatte, die das Wasser auffing und durchsickern ließ, statt es abzuleiten. Dadurch hatte sich die Erde ausgebreitet und gegen die Mauer gedrückt. So habe ich es mir zumindest vorgestellt. Und wer war schuld? Der Obermaurer. Der Obermaurer, den ich einst so kompetent und liebenswert gefunden hatte, ist für mich mittlerweile an allem schuld, was nicht funktioniert, schmutzig ist oder nach wenigen Jahren ausgetauscht werden muss. Das verbindet ihn mit meinem Ehemann. Und tatsächlich verteidigte dieser den Obermaurer. Also hatten sie gemeinsam eine inkompetente Entscheidung getroffen und eine rachitische Mauer gebaut, die dazu bestimmt war, nach fünf Jahren abgerissen zu werden, auf dass kein Unglück geschehe.

Ich möchte keinesfalls viele Worte zum Mauerabriss und zum Maueraufbau verschwenden. Nur so viel: Es hat lange gedauert. Es war teuer. Es sieht hässlich aus.

Jetzt sind alle zufrieden. MM, der Nachbar, der (für uns neue) Maurer. Sogar meine großen Söhne wurden eingebunden und konnten sich mit stundenweiser Hilfe Geld verdienen.

Ich habe die Vision, dass alle Häuser und Bauten auf unserem Hügel durch ein Erdbeben oder eine andere apokalyptische Naturkatastrophe zusammenbrechen und ins Meer gespült werden, während diese neue Mauer stehen bleiben wird. Man wird sie auf Satellitenbildern ausnehmen können und ich überlege mir, ob ich eine Nachricht für die Generationen oder Lebensformen, die nach uns kommen werden, in dieser Mauer hinterlassen soll.

Und das rote Auto parkt jetzt nicht mehr auf durstiger Erde, sondern auf ästhetisch wertvoll regelmäßig klein gehacktem Schutt, was ein bisschen wie Kieselsteine wirkt. Ich spreche nicht über die Mauer, ich mache das, was man mir sagt. Ich parke hier, ich parke dort, ich parke ein bisschen weiter links, ein bisschen weiter rechts, ein bisschen weiter hinten, ein bisschen weiter vorne, je nach dem Stadium des Mauerbaus. Ich schaue aus dem Schlafzimmerfenster und sehe die graue Mauer. Dafür hätte ich nicht aufs Land ziehen müssen. Ich überlege, welche bis jetzt unbekannten Geldquellen ich anzapfen kann, damit diese Mauer auch verputzt wird, denn ich weiß, dass das Kind dann gerne etwas daraufmalen wollen wird. Ein Regenbogen ist sicher das Minimum.

Das große Glück über diese und mit dieser Mauer versetzt MM in derartige Ekstase, dass er auch das große blaue Auto unter der Eiche parkt. Beim Abendessen doziert er über die zeitlichen Vorteile, die dieses Parken mit sich bringt, denn man stürzt sich die kleine Straße hinab und ist hinter dem Haus und muss nicht die lange gewundene Straße hinter sich bringen, um vor dem Haus anzukommen. Dass man die beiden Autos dann umparken muss, damit das richtige Auto am nächsten Morgen in Poleposition steht, und dass das große blaue Auto schwer zu wenden ist, wird nicht eingerechnet. Da auch ich meine Steckenpferde habe, die immer gewinnen, auch wenn nach rationaler Betrachtung der Lage ihr Vorteil nicht so groß ist, sage ich nichts.

Eines Morgens, als alle vier männlichen Mitbewohner hinter das Haus stapfen, um mit dem blauen Auto zur Schule und Arbeit zu fahren, fahren sie nicht. Als ich das Schlafzimmerfenster öffne und seufzend auf die graue Mauer starren will, sehe ich die drei älteren männlichen Wesen ums Auto herumschleichen und das Kind betreten im Auto sitzen. Ich sehe es sofort: das Auto wurde in den Sand gesetzt. Der Eintonner befindet sich zu nahe an der Mauer und das Hinterrad ist im Schutt versunken. Instinktiv ziehe ich mich zurück und denke an Traktoren, die das Auto herausziehen und an Entschuldigungen in Mitteilungsheften. Ich kann MM nicht einmal zum Autobus bringen, denn das kleine rote Auto steht vor dem blauen und wenn sich dieses nicht bewegt, bleibt auch das rote Auto stehen.

Der Fußballspieler, der sich vor einer Minute noch in Zeitlupe, beschwert von Hormonen, aus dem Haus geschleppt hat, kommt elastisch gelaufen und verlangt eine Schaufel. Ich verlasse das Haus aus Sicherheitsgründen nicht, denn ich würde meinen Mann sehr beleidigen, wenn nicht sogar tätlich angreifen. Der Fußballspieler teilt mir außer Atem mit, dass das Kind Steine weggetreten hätte, worauf das Auto nun feststecke. Das Kind! Soviele Steine konnte das Kind doch gar nicht in drei Minuten wegtreten. Ich nähere mich nicht wieder dem Schlafzimmerfenster, sondern finde mir, ganz gegen meinen normalen Rhythmus eine Beschäftigung in der Küche. Nach zwanzig Minuten gehe ich ins Schlafzimmer, sicher, dass alle längst weg sind. Da schaufeln die noch immer, die Reifen drehen durch, der Motor heult auf, Rufe des großen Sohns: Mehr links, mehr rechts, geradeaus, basta, stopp. Das Kind steht abseits und beginnt nun zu klatschen und zu springen. Offenbar haben sie es geschafft. Ich höre noch mehrmals das Wort „Zement“.

Als sie weg sind, frage ich mich, ob, wenn ich mein Auto dort eingegraben hätte, meine Kinder dann so hilfsbereit gewesen wären und in ihren langwierig ausgesuchten Klamotten Steine umgeschichtet hätten und dabei unternehmungslustiger als normal geworden wären.

Nach ein paar Stunden ruft MM an und sagt, er hätte am Morgen ein kleines Problem mit dem Auto gehabt. In Wirklichkeit sind alle zu spät in die Schule gekommen und MM musste mit dem Auto zur Arbeit fahren, weil der Bus schon lange weg war.
Auch die Jungs sagen, es wäre am Morgen nicht ganz einfach gewesen, wegzufahren. Und man merkt, dass sie glücklich sind, weil sie vor der Schule schon ein bisschen Abenteuer und Schweiß hatten. Das Kind sagt nichts, was darauf hindeutet, dass es vielleicht wirklich schuld an dem Desaster war. Oder weil es noch nicht so eine breite Brust hat, auf die es sich dann klopfen will.

Ich sage auch nichts. Daher schreibe ich es hier: „ICH hätte das Auto dort NIE geparkt.“





Mittwoch, 19. November 2014

Hühnerbegräbnis


In der Genealogie der Hunde, die wir bis jetzt als unsere bezeichnet haben, ist Tommy derzeit der einzige Hund, der uns Gesellschaft leistet.
Tommy ist Bertas Sohn. Berta war ein Schäferhund mit abgeschnittenem Schwanz, der böse die Zähne fletschen konnte und eines mehr als ein Jahr zurückliegenden Tages sehr mager und offensichtlich verstoßen oder geflohen auf unserer Terrasse vorstellig wurde und sich nach kurzer Bedenkzeit bei uns niederließ. Mittlerweile hat sie uns verlassen um in die wahrhaft ewigen Jagdgründe einzugehen. Berta hatte eine Vorliebe für Igel, die sie in ihre Hundehütte brachte, ohne dass wir je gesehen haben, wie sie das machte. Ich trug diese Igel, zumindest glaube ich, dass es nicht immer ein und derselbe war, auf einer Mistschaufel zu den Hennen, legte sie dort ins Gestrüpp, kauerte mich eine Zeitlang zu ihnen, um zu beobachten, was sie taten. Sie atmeten. Am nächsten Tag waren sie dann immer weg.

Tommy ist ein schwarzer Hund mit weißer Brust und hat eine Freundin namens Zora, ebenfalls schwarz und aus einer Rasse stammend. Zugegebenermaßen finde ich, dass Zora dümmer als Tommy dreinschaut. Beide schauen sie naiv. Beide werden sie von den Nachbarn beschuldigt, sämtliches frisch gepflanzte Gemüse ausgegraben zu haben und sich an Kaninchen zu vergehen. Ich habe das nie gesehen und war bis vor kurzem bereit, meine Hand für Tommys Unschuld ins Feuer zu legen.
Bis das Huhn auf der Terrasse lag. Das Huhn war schwarz und möglicherweise eine Henne. Zuerst habe ich nur etwas schwarzes gesehen und hatte ein unangenehmes Gefühl. Während ich noch mit dem Kind über die Fläche einer Raute sprach, die einem Viertel eines äquivalenten Quadrats entspricht, ging ich auf die Terrasse und stellte fest, dass das Schwarze eben ein Vogel ohne Kopf war. Das Kind und ich haben uns erschrocken angesehen. Dann gingen wir zum Hühnerhof, in Hausschuhen und zählten unsere Hühner, was nicht schwer ist, wir haben nur zwei schwarze Hennen und beide kamen fröhlich auf uns zugestolpert.

Das Massaker betraf also irgendwelche Nachbarn, was fast noch unangenehmer war. Vor ein paar Jahren, als unser Hund Benny allerlei Unfug anstellte, was ihm schlußendlich möglicherweise das Leben gekostet hat, habe ich auch ein Huhn gefunden. Ich habe es damals in einen Plastiksack gesteckt und bin eine riesige Runde gegangen und alle Nachbarn behaupteten, dass ihnen dieses Huhn nicht gehöre. Mittlerweile glaube ich fast, sie haben es aus irgendwelchen Gründen des Ehrenkodex nicht zugegeben. Jedenfalls wusste ich schon, dass ich den Besitzer der schwarzen kleinen Henne gar nicht erst zu suchen brauchte. Ich wollte die Henne gerne mit einer Schaufel einfach in den Weingarten schmeißen. Ich mache das oft mit unliebsamen Dingen wie Hunde- oder Katzenscheiße. Aber schon die Igel musste ich weiter wegbringen, ins eingezäunten Hennengehege, weil Berta sie sonst wiedergebracht hätte. Also widerstand ich der Versuchung der einfachen Lösung, aus Angst, Timmy könne den Vogel wieder und wieder bringen und jedes Mal wäre ein Stück weniger dran. Was hätte mein abwesender Mann gemacht? Ich ließ die Schaufel stehen und griff zum Telefon. MM gab mir Anweisungen, das Tier unter dem Birnbaum zu vergraben. In meiner Aufregung wusste ich gar nicht, von welchem Birnbaum er sprach, aber ich konnte mir eine Idee machen und ging auf jeden Fall unter einen Obstbaum und begann, zu graben. Es hat monatelang nicht geregnet und ich hatte das Gefühl, Zement aufzugraben. Ich dachte, ich werde es nie schaffen, ein entsprechend großes Loch zu graben, da half mir auch die Kenntnis der Formeln für Flächen nicht. Und auch wenn ich die Kubikzentimeter berechnen hätte können, wäre mir nicht leichter gewesen. Zentimeter für Zentimeter, Gramm für Gramm hob ich die trockene Erde ab. Ich musste an meine Kindheit denken, als ich im Weingarten meines Vaters Löcher grub, um Dinge zu verstecken, die ich später, in meiner Eigenschaft als Detektivin wieder finden würde. Ich musste an Patricia Highsmiths Kriminalromane denken und wie unfähig ich war, eine Leiche verschwinden zu lassen, auch wenn es sich nur um einen Tierkadaver handelte. Ich musste denken, dass in einer zivilisierten Gesellschaft andere Methoden existieren, sich eines Tierkörpers zu entledigen, aber da ich in einem Teil Europas wohne, in dem derzeit der Müll seit drei Wochen nicht abgeholt wird, fühle ich mich durchaus berechtigt, die Henne unter die Erde zu bringen.

Mittlerweile schwitze ich schon ziemlich, aber das Loch ist doch ein bisschen größer geworden. Noch ein bisschen Anstrengung und Stöhnen und dann nehme ich die Henne wieder auf die Schaufel und lasse sie in die Aushebung plumpsen. Ich lege mit der Schaufel die Klauen zusammen. Zum Glück hat das Tier keinen Kopf mehr und wirkt dadurch abstrakter. Es verschwindet nicht ganz im Loch und als ich es mit Erde bedecke, bleibt ein kleiner Hügel. Ich lege trockenes Gras darauf.

100 m weiter unten ist einer der Nachbarn mit seinen Schafen unterwegs, ich höre ihn mit ihnen sprechen. Ich denke, dass das beste Verbrechen unter den Augen aller vollzogen wird. Eben Patricia Highsmith.

Am nächsten Tag gehe ich durch den Obstgarten und stelle fest, dass mein Hühnergrab unberührt und nur noch an der Grasbedeckung für mich zu erkennen ist. Ich bin fast stolz auf mich. Ich will ja immer die sein, die im Holzfällerhemd das Holz fällt und vor allem mit der Grasschneidemaschine Gras schneidet. Aber ich habe kein Holzfällerhemd und MM hat mir verboten, die Kettensäge zu benutzen.

Am übernächsten Tag liegt wieder etwas auf der Terrasse. Was ist das? Es sieht aus wie ein Stofftier. Ein sehr teures Stofftier. Oh nein, zum Glück ist keiner der Jungs zu Hause. Tommy ist an der Leine. Diesmal ist er wirklich unschuldig. Dieses Kaninchen hat Zora gebracht, die am Morgen hier mit Tommy gespielt hat, bevor ich ihn angeleint habe. Es ist ein graues Kaninchen, wieder ohne Kopf. Es sieht sehr weich aus und hat entzückende Läufe. Diesmal muss ich niemanden mehr um Rat fragen. Einen Moment bin ich versucht, zur Nachbarin zu gehen und ihr zu sagen, dass es Zora war, denn Tommy kann sich nicht alleine ab- und wieder anleinen. Aber ich nehme davon Abstand. Eigentlich weil ich Angst habe, was sie mir dann für Schauergeschichten über umgewühlte Salatbeete und in der Gegend herumkollernde Kürbisse erzählen könnte.

Ich hebe das Kaninchen auf die Schaufel und gehe zum Birnbaum hinunter. Heute bin ich schon ein bisschen flotter, dafür muss die Grube tiefer sein. Das Kaninchen ist erstaunlich beweglich und faltet sich in seinem Loch zusammen. Die Erde ist immer noch trocken und ich lege zum Abschluss einige Steine auf das Grab, um anderen Hunden eine Exhumierung schwerer zu machen.

Und so macht jeder, was er machen muss.

Mittwoch, 30. Juli 2014

Was trunken macht

- jede Art von Alkohol
- ein etwas zu lang gelächeltes Lächeln von jemandem, den man bis jetzt nicht in Betracht gezogen hat
- eine heftige Diskussion mit gutem Ausgang
- die Aussicht, jemanden kennenzulernen, den man bis jetzt nur über e-mails kennt
- das Ende eines langen Tages
- ein schneller Spaziergang
- abends im Meer zu schwimmen
zum Beispiel

Samstag, 12. Juli 2014

Die schmerzvolle Schönheit des Vergänglichen

Man möchte es so sagen:
Ti amo tanto. Ich liebe dich so sehr. Man möchte es sagen und dahin stellen. Dorthin stellen, irgendwo hin stellen. Wo es dann steht. Und aus. Und keine Konsequenzen. 

Ti amo tanto. Ma tanto tanto tanto. Also wirklich ganz ganz viel und ganz ungeheuerlich. Und nicht mehr und nicht weniger. Und das heißt es. Und ping, wie mit dem Zauberstab, Sternchen, ist man wieder weg. 

Und was bleibt? Bleibt etwas? Aber ja. Ein größeres Herz. Fast überdimensional, man muss schauen, ob es nicht aus der Kleidung quillt. 


Samstag, 15. März 2014

Mein Weisheitszahn

Natürlich bäumt sich der Weisheitszahn nicht mehr auf, seit im Gespräch ist, ihn aus meinem Kiefer herauszuoperieren. Dort schlummert er seit ewigen Zeiten wie ein Vulkan. Über ihm hat man mir einen Zahn gerissen, als ich 17 war. Vielleicht hätte man damals schon an den Dicken denken sollen, der möglicherweise darunter rumorte. Vor zwei Jahren nun den nächsten Zahn dahinter und jetzt reicht's, jetzt muss dort eine Eisenstange rein und ein Keramikzahn und vorher muss der Dente del giudizio raus, das haben jetzt die Experten nach Betrachtung und Auswertung aller futuristischen Panoramabilder meines Gebisses einstimmig beschlossen. "Sind sie nun vorbereitet, ich meine psychologisch?" fragt mich die Assistentin in der Klinik, in der auch das Gebiss des Kindes mit Metallfäden in die richtige Form gebracht wird. "Nein." sage ich und sie lacht (etwas gequält). Sie kennt mich nun schon lange und sie würde wahrscheinlich sagen: Die Signora ist sehr gewissenhaft, um nicht zu sagen: die Signora ist hysterisch. Nein, ich bin nicht vorbereitet, zumindest nicht psychologisch, aber heute habe ich viele Untersuchungen gemacht und dabei wirklich interessante Menschen kennengelernt.
In dieser Klinik lächeln alle immer. Anfänglich denkt man, die Menschen finden einen sympathisch, eventuell vielleicht sogar witzig, aber dann merkt man, dass sie diesen heiteren Ausdruck nie verlieren. Meglio così, besser so, wie viele Kalabresen auf Vieles sagen. Unverhofft wird mir ein Elektrokardiogramm gemacht und ich darf mich auf eine Liege legen, worauf ich fast einschlafe, dennoch scheinen meine Herzwerte nicht erschreckend ruhig. Dann wird mir der Blutdruck gemessen und ich weiß, dass mir später noch Blut abgenommen werden soll.
Ein Mann ruft mich mit meinem Vornamen, weil er meinen Nachnamen nicht aussprechen kann. Der Mann ist riesig und seine Haarpracht ist so weiß wie seine Arbeitskleidung. Er lächelt milde. Mit einem Auge schaut er mich an, mit dem anderen auf die Wand links neben mir. Ich hoffe, er will mir nicht Blut abnehmen. Nein, er will mit mir sprechen. Er hat einen großen Ordner mit Papier vor sich und beginnt bedächtig meinen, für ihn seltsamen Nachnamen zu schreiben. Dabei lächelt er dieses beruhigende Lächeln, als hätte er mich lieb. Er wirkt wie ein zufriedenes riesiges blondes Baby. Ein paar Minuten, nachdem er mein Geburtsdatum aufschreibt, vertraut er mir an, dass er ein Jahr älter ist als ich, aber er fühle sich nicht alt. Er gehe tanzen. "Sehr gut!" sage ich. Nein, ich frage nicht, wann und wo, ich will auch nicht aufspringen und einen wilden Discodance beginnen. Ich habe noch nicht gefrühstückt und bin seit zwei Stunden unterwegs. Er freut sich, aber er wirkt ein wenig beunruhigt, vielleicht bin ich doch nicht enthusiastisch genug. Er wiederholt, dass er sich jung fühlt und dass er auch mit einer 30-jährigen Freundin gut auskommen würde. Unwillkürlich schaue ich auf seine Hände. Abgebissene Fingernägel, kein Ring. "In letzter Zeit habe ich mich ein wenig gehen lassen", sagt er und streicht sich über das Haar, als ginge es darum, dass er schon länger nicht beim Frisör war. Er macht eine Geste, als wäre er ein Frosch, der sich aufbläht. Er will wohl sagen, dass er zugenommen hat, ich sage: "Eh va be." und das kann man nun interpretieren wie man will: das ist doch nicht schlimm, es gibt viel dickere Leute als sie, oder: mich stört das nicht, oder: nehmen wir nicht alle irgendwann zu usw. Eigentlich würde ich gerne sagen: sie können ja laufen gehen, aber ich weiß, das ist mein eigener Wahn im Moment und ich kann nicht wie ein Zeuge Jehovas des Laufens die Leute bekehren. Zumal meine neu gestartete Laufkarriere nicht einmal zwei Wochen alt ist, aber offenbar so viele Endorphine frei gesetzt hat, dass ich glaube, ICH bin die 30-jährige potenzielle Freundin. Er sagt mir auch, wo er wohnt. Ich sage: "Da haben sie aber einen langen Weg zur Arbeit." Daraufhin erklärt er mir, dass er diesen Job allein bekommen hat, ohne Protektion, er habe nämlich etwas studiert (möglicherweise Arzt?) und dann die Krankenpflegerausbildung gemacht und dann hier vorgesprochen und sei angestellt worden. In einer anderen Gesellschaft wäre das irgendwie klar, aber möglicherweise ist seine Situation wirklich einzigartig. "Sono un uomo libero." Ich bin ein freier Mann, sagt er. Was mich aufrichtig ergreift. "Das ist ein Wert" sage ich.
Nun beginnt er aber über Ärzte zu schimpfen, die nämlich alle nur durch Protektion zu dem gekommen seien, was sie machen und mein Herz sinkt. Alle guten Ärzte aus Kalabrien seien in den Norden gegangen, alles was hier ist, na reden wir lieber nicht darüber. Oh mein Gott. Und von so einem, über den man lieber nichts redet, soll ich mir meinen Weisheitszahn aus dem Kiefer stemmen lassen? Das Riesenbaby ereifert sich: "Die Leute glauben, wenn einer einen Hochschulabschluss hat, ist er Arzt, aber ein Hochschulabschluss sagt noch gar nichts." Einiges von dem, was er sagt, verstehe ich kaum, ich glaube, es ist der Eifer, der ihn zum Übersprudeln bringt. Ich bin froh, als er sagt: "Ich muss sie das fragen: Gehen sie regelmäßig aufs Klo, oder leiden sie unter Verstopfung?" "Regelmäßig", sage ich trocken und bin sehr stolz auf mich. "Auch was die Diurese betrifft?" Gut, dass wir nun über die essenziellen Dinge des Lebens reden und dann sagt er zu mir: "Sie können gehen."
Die Krankenschwester, die mir Blut abnehmen soll, ist auch sehr freundlich und lächelt. "Jetzt sagen sie mir einmal: woher kommen sie?" Ich gebe ihr eine Antwort und sie sagt: "Aber zwischen hier und dort liegen doch Untiefen." Mir ist das immer peinlich, wenn jemand meine Heimat lobt. Und sagt, dass alle dorthin wollen. Das gibt mir das Gefühl, erstens bescheuert zu sein und zweitens ein Versager, eine Art ins Exil geschobener Mensch. "Sie sind wegen der Liebe hier, stimmt's?" Das klingt auch wieder komisch. "Sagen wir ja." sage ich, was mich gleich noch verdächtiger macht. Freundlich lächelnd schreibt sie sorgfältig meinen Namen auf drei Phiolen und dann jagt sie eine Nadel in meine Vene und fragt mich, ob es weh tut, was anfänglich nicht der Fall ist. Ich schaue aus dem Fenster auf diesen wunderbaren Teil der Küste des Tyrrhenischen Meers, auf die Insel, die heute pastellfarben erscheint, wie alles. Ich sage: "Viele Leute in meiner Heimat würden sie um die Lage ihres Arbeitsplatzes beneiden." Sie sagt: "Es ist das Panorama, das wir hier in Kalabrien haben. Sonst kann Kalabrien nicht viel bieten. Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich Arbeit habe, aber es gibt so viele Menschen, die ihre Arbeit verloren haben." Das und die Nadel in meinem Arm geben mir den Rest, ich finde die Frau nicht mehr nett. Bevor ich meinen vermeintlich letzten Atemzug tue, befreit sie mich und sagt, ich kann jetzt frühstücken. Ich glaube, ich will gar nicht mehr frühstücken.
Auf dem Gang steht ein Kaffeeautomat und einer mit Snacks, aber die Schnitten und KitKat die sich in diesem Kasten befinden, kann ich aufgrund mangelnder Phantasie, Begabung oder Geschicklichkeit nicht aus dem Automaten holen und ich gebe mich mit einem sogenannten Capuciokk zufrieden, sehr zufrieden. Auf dem Gang wartet eine junge Frau, die eine Jacke mit Leopardenmuster trägt, eine Tasche mit Leopardenmuster und wie ich sehe, nachdem ich sie ausgiebig betrachtet habe, auch ein T-Shirt mit Leopardenmuster. Mit seinem milden Lächeln ruft sie mein Freund, das Riesenbaby in sein Zimmerchen mit Blick aufs Meer. Sicherlich wird er sich an dieser jungen Raubtierfrau erfreuen.
Anschließend unterhalte ich mich mit einer Zahnärztin, die sagt: "Na sie haben aber einen Weisheitszahn!", was mich denken lässt, dass mein Kiefer vielleicht zusammenbricht, wenn mir dieser offenbar überdimensionierte Zahn entfernt wird. Wir machen einen Termin aus und sie sagt, ich soll einen Trainingsanzug oder einen Pyjama mitbringen. Ich unterschreibe einen Zettel, dass ich über den Eingriff aufgeklärt wurde.
Dann wird mir noch ein Panoramaröntgen vom Kiefer gemacht. Hoffentlich passt mein riesiger Weisheitszahn auf dieses kleine Bild. Zwei andere Personen müssen auch ein Röntgenbild machen, einer ist ein Mann mit einem Piercing über der Augenbraue und in der Nase, die er allerdings nicht entfernen muss. Ich meine Ohrringe schon, das verstehe ich nicht. Es ist mir aber auch egal.
Danach habe ich ein kurzes Treffen mit einem praktischen Arzt. Da ich ja nun erfahren habe, dass alle Ärzte nur durch Protektion zu ihrem Arbeitsplatz gekommen sind bin ich sehr skeptisch und als er eine auffordernde Geste macht, rufe ich entsetzt: "Was wollen sie?" Er will meinen Puls fühlen.
Abschließend kontrolliert eine andere Krankenschwester freundlich all diese Papiere, all diese Unterschriften die ich geleistet habe. Ich hoffe, ich habe mich nirgends verpflichtet, in Zukunft auf meinen Weisheitszahn zu verzichten und der sofortigen Entnahme desselben zugestimmt, denn ich glaube, dass meine psychologische Vorbereitung für diesen "Interventino", wie die Dentistin verharmlosend sagt, für dieses Eingrifflein also, sehr zu wünschen übrig lässt.

Freitag, 7. März 2014

CSI Calabria, Folge 2: Hühner

Seit ein paar Tagen legen die Hennen keine Eier, eines oder maximal zwei. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich bereit, jedes erdenkliche Loblied auf die Hennen zu singen. Ja wirklich, oft hatte ich das uralte Lied: "Ich wollt ich wär ein Huhn" im Kopf, wenn ich ihnen ihren geschroteten Mais zum Fressen brachte. Oder die Salatabfälle. Oder die Kürbisschalen. "Meine Braven, ihr seid ja so brav!" rief ich ihnen zu, wenn ich die Eier aus dem zum Legen vorgesehen Teil des Hühnerhauses holte. MM und ich rühmten uns unserer psychologisch einwandfreien Hühnerbetreuung, die uns jeden Tag 5-6 Eier bescherte. "Unsere Hennen sind wirklich clever." sagte ich zu ihm und er meinte: "Ich glaube, das alle Tiere, wie ihre Besitzer sind." Stolz auf unsere Hühner, die nicht so blöd sind, wie die meiner Nachbarin und nur phasenweise Eier legen. Unsere Hennen haben Auslauf, sie werden geliebt, sie werden gepflegt. Sie werden sogar gestreichelt. Und nun das. Keine Eier mehr. Sollten unsere Hennen einfach so sein, wie alle anderen? "Al risposo"? In einer Phase des Ausruhens.

Meine Schwiegermutter hat eine Henne, die weiß ist. Sie hat auch einen Hahn. Über den grausamen Hahn hören wir immer schreckliche Geschichten und über die dumme weiße Henne auch. Die Henne fliegt immer weg und legt keine Eier. Mein Schwager hat ihr bereits die Flügel gestutzt, aber auch das hilft nichts. Sie scheint, wenn ich den Erzählung richtig folge, über eine Einzäunung zu fliegen, weil sie ihre Eier dann an unverdächtigen Orten ablegt. Also legt sie doch Eier. Ich glaube ja ein bisschen, dass all dieses Gejammer um die nicht eierlegenden Hennen dafür sorgen soll, dass ich großzügig und mitfühlend meine Eiervorräte teile. Was wirklich nicht besonders aufopfernd ist, denn wir haben viele Eier. Aber nun schrumpft unser Vorrat auf etwa 40 Eier und ich bekomme Angst, ich muss Eier kaufen, bei den Nachbarinnen einen Vorschuss verlangen, oder in jedem Fall sparen. Dabei esse ich eigentlich kaum Eier, um meine Gesundheit nicht zu sehr auf die Probe zu stellen, drei heranwachsende Knaben können allerdings große Mengen an Frittata verzehren. Und MM hat sich den Luxus gegönnt, eine Sachertorte nach einem der zahlreichen Originalrezepte zu backen und hat dafür 12 Eier verwendet. Die Torte war sehr gut, konnte aber nur in homöopathischen Dosen genossen werden. Meine Schwiegermutter spricht immer davon, dass sie das Huhn umbringen wird, tut es aber doch nie.

Und jetzt? Brauchen wir auch einen Hahn? Was ist passiert, warum werden von einem Tag auf den anderen keine Eier gelegt? Es gab keinen Wetterwechsel, das Wetter ist auch eher als mild zu bezeichnen. Da haben die Hühner schon mehr gefroren und dennoch Eier gelegt. Das Futter wurde nicht gewechselt, im Gegenteil, das Kind hat den Hühnern stundenlang Klee zugesteckt und sich daran ergötzt, wie schnell sie diesen verschlingen. Hat sie das verstört, die Hühner? Wollen sie keinen Klee? Wollen sie mehr Klee? Hat das Kind anschließend heimlich die Hühner gequält? Eine blonde Henne betreibt mobbing gegen eine schwarze Henne, eindeutig, das würde erklären, warum die schwarze Henne keine Eier legt? Aber die blonde? MM fragt mich, ob ich den Hennen Wasser gebe. Ich glaube, er verdächtigt mich, Tierquälerei zu betreiben, so wie das Kind verdächtige. MM geht an den Strand um weiße, längliche Steine zu suchen, die schönsten Exemplare legt er ihnen auf den Nistplatz. Nichts. Ein Steinei, wird verächtlich weggeschoben, das andere angeschissen. Wer oder was könnte den harmonischen Alltag unserer Hennen so stören? Sie sind psychologisch verstört, das ist klar, denn unsere wunderbaren Tiere sind nicht wie die anderen, sie sind sensibel, aber nicht in einer Ruhepause. "Wozu braucht ihr eine Ruhepause?" frage ich sie, während sie vergnügt im Hühnerhof herumstolpern. Ich bin enttäuscht, ich gebe es zu. Sie sind wie alle anderen. Ich kann meine Schwiegermutter verstehen. Diese Hennen taugen nichts.

Betrübt fügen wir uns in unser Schicksal. Auch wir haben Hennen, die keine Eier legen. Am Morgen, als das Wetter schön ist, grüße ich meine Nachbarin und wie immer beglückwünschen wir uns wegen dem schönen Wetter. Eigentlich will ich ihr zurufen: Es muss jetzt immer schön bleiben, denn meine armen Hühner haben aufgehört, Eier zu legen, aber ich halte mich zurück. Sie geht gerade selbst ihr Hühnerhaus öffnen, und ich möchte nicht, dass sie mir sagt, ihre Hühner würden aber sehr viele Eier legen und sich womöglich verpflichtet fühlte, mir Eier zu geben.

Am Nachmittag putze ich das Hühnerhaus. Wie immer mache ich einen Rundgang in Gummstiefeln durch den Hühnerauslauf. "Hast du überall geschaut?" fragen MM und ich uns jeden Tag. "Jaja, nichts." Auf dem Grau der Erde liegen ein paar braune dornige Äste, die MM um den Hühnerauslauf abgeschnitten hat, sie sind trocken, grün ist es nur außerhalb der Umzäunung für die Hühner. Da sehe ich plötzlich unter diesen Ästen Eier liegen, perfekt harmonierend mit den graubraunen Farbtönen ihrer Umgebung. Etwas mit Schlamm besudelt, denn schließlich liegen diese Eier hier nicht seit einer Stunde. Es sind unglaublich viele Eier, die da ordentlich zusammenliegen. Eines liegt auf dem Weg.  Ich hebe es rasch auf, bevor ich es zertrete und schaue mich um, es ist als hätte es diese Eier vom Himmel geregnet, was schwer möglich ist. Ich habe Arbeitshandschuhe an und kann meine Hände in den schmalen Hohlraum zwischen den dornigen Ästen und der Erde schieben und hole 28 Eier darunter hervor, die ich in die Schüssel lege, in der der Gemüseabfall war, den ich den Hennen gebracht habe. Meine Laune hebt sich in Lichtgeschwindigkeit. "Ihr seid brave Hennen!" rufe ich ihnen zu und sie kämpfen vergnügt mit den Zichorienblättern, die ich ihnen auf den Boden geworfen habe. Was sie dazu bewogen hat, ihr Nest auszusiedeln, wissen wir nicht, aber ich nehme an, dass sie eigenwillig sind, wie alle Lebewesen und manchmal Abwechslung suchen. Wer weiß, was sie als nächstes vorhaben.

Donnerstag, 6. März 2014

La sofferenza è finita

Ich stehe unter einem Olivenbaum und reiße an ein paar abgeschnittenen Eichenästen herum, mit den kleinen Ästchen will ich den Ofen anheizen. Es ist regnerisch, windig, es ist Faschingsdienstag, die Kinder sind zu Hause. An diesen Tagen, an denen kein richtiger Feiertag ist, aber viele Kinder beschließen, nicht in die Schule zu gehen, müssen auch meine Kinder nicht in die Schule gehen, weil die Gefahr groß ist, dass sie a) anrufen und heimgehen wollen, b) anrufen und sagen, die Mensa kocht nicht für so wenige Kinder, c) nicht anrufen, aber nur zu viert mit der Frau Professor sind und anschließend übel gelaunt für einen ganzen Abend. Ein Mann und eine Frau kommen des Wegs, die Frau ist die Mutter einer Nachbarin, einer, die MM verehrt, weil sie so gut Traktor fahren kann, der Mann könnte der Bruder sein. Er wirkt ein wenig, als wäre er auf Freigang aus einem Irrenhaus, er trägt eine Wollmütze, eine Boxerjacke und eine Trainingshose. Leider schaue ich etwa genauso aus wie er, außer der Boxerjacke, so schick bin ich nicht, ich trage eine ausgeleierte Strickjacke von MM. Er sagt: "Signora, was machen sie da?" "Ich sage, ich mache Kleinholz, um den Ofen einzuheizen." Mir kommt das nicht komisch vor, ich antworte ihm wie einem Kind. Die Mutter der Nachbarin sagt peinlich berührt zu dem Mann, von dem ich meine, er sei ihr Sohn: "Die Signora wohnt da." Oh, das freut ihn und er stellt mir noch einige Fragen, die ich diplomatisch beantworte. Dann frage ich: "Und sie? Machen einen Besuch?" " Er ist gestorben." sagt die Mutter der Traktorfahrerin. Sie deutet mit dem Kinn auf das Nachbarhaus unter mir. Er, der mit dem Kinn angedeutete, ist der Opa. Ohje. Ich weiß, dass er krank war. Der Opa ist ein Herr, der gar nicht alt wirkte, obwohl er jetzt 82 war. Ich würde sagen, er hatte keine Falten. Ich würde sagen, er sah jünger aus, als seine Kinder. Als wir in unser Haus zogen und viel im Garten arbeiteten, ging er mit einem Stock aus seinem Haus und setzte sich auf einen Sessel vor die Garage. Ich denke, wir haben ihm viel Unterhaltung geboten, aber auch die Natur anzuschauen war nicht schlecht. Olivenbäume, Gras, unsere ungeschickten Tomaten- und Bohnenpflanzunzen. Schilfrohr, Feigenbäume. Hunde, die durchs Gras laufen, Wasser, das in unseren Brunnen rinnt. Orangenbäume, Mandarinenbäume und ganz oben Zitronenbäume. So weit konnte er vielleicht nicht sehen. Wir grüßten einander, plauderten miteinander und er war da, wie das Haus da war. Später kam er nicht mehr aus dem Haus, vielleicht taten ihm die Beine zu sehr weh, er saß in einem Sessel vor dem Fernseher im Haus. Jahrelang. Ab und zu kamen wir auf Besuch, er sah immer faltenfrei aus und schaute ein wenig gelangweilt auf den Fernseher. Auf Befragen erzählte er, wie es ihm ging und zeigte violette Stellen an seinen Beinen. Mir tat es leid, dass er nicht mehr vor der Garage saß. Das habe ich ihm aber nicht gesagt, so wie man mit alten kranken Menschen eigentlich nicht redet, sondern nur deutlich sichtbar nickt oder den Kopf schüttelt, um ihnen zu verstehen zu geben, dass man sie versteht, auch wenn das zum Teil nicht wahr ist, oder man es auf dezentere Art ebenfalls mitteilen könnte. Das letzte Mal habe ich ihn im Januar gesehen und ich habe vergessen, mich zu verabschieden. Das war mir sehr peinlich. Ich habe ihn einfach übersehen, in seinem Stuhl vor dem Fernseher, während ich mit seiner Schwiegertochter plauderte. Dabei hat er noch einen Kaffee getrunken, einen starken, süßen Kaffee, den auch ich serviert bekommen habe. Was er wohl gedacht hat? Er muss sich als Möbelstück gefühlt haben. Ein Möbelstück, dass seiner Familie zur Last fällt, weil es sich nicht alleine bewegt und weil es schmutzt. Ein Möbelstück, dass die Nachbarn nicht grüßen, wenn sie das Haus verlassen, weil sie ihm den Rücken zuwenden und man keine Möbelstücke grüßt.

Ich gehe nach Hause und rufe MM an. Ich sage: "Was muss ich tun? Ich gehe hin und küsse alle und dann gehe ich wieder." "Nein," ruft MM, "küss nicht alle. Küss nur die Familie. Die anderen solltest du nicht einmal grüßen." Ein bisschen Erfahrung habe ich ja, mit diesen Totenwachen. Aber nur ein bisschen. Normalerweise steht mir meine Schwiegermutter bei und sagt mir, was ich tun soll. Aber heute muss ich alleine gehen. Ich wechsle die Kleidung und gehe. Das Haus steht offen, an der Stelle an der normalerweise ein sehr langer Tisch steht, steht der Sarg. Rundherum sind zur Zierde Ständer aufgestellt, aber es sind keine Kerzenständer. Sie sind blank poliert. Hinter dem Sarg steht ein Paravent mit einem riesigen Jesusbild. Jesus hat Augenbrauen in perfekter Form und schaut mit blauen Augen milde und kühl auf die Leiche unseres Nachbarn. Dieser wiederum liegt wie eine Puppe aus dem Wachsfigurenkabinett in seinem Sarg, die Knie angezogen. Vielleicht sind seine Beine vom vielen Sitzen so geworden. Er hat die Augen geschlossen und schaut ernst. Ich kann nicht glauben, dass er tot ist, sicher wird er gleich die Augen aufschlagen. Rechts und links vom Sarg sind Sofas und Stühle aufgebaut, auf einer Seite sitzen Männer, auf der anderen die Frauen, als erste die Oma, die Frau vom Nachbarn. Ich gehe auf den Sarg zu. Ich stelle mich links vom Sarg, betrachte die Leiche und mache ein Kreuzzeichen, weil mir das angebracht scheint. Ich drehe mich zur Witwe und umarme sie und küsse sie. Sie weint, sie wirkt wie ein kleines Mädchen. Sie ist sehr klein und sie wird immer kleiner. Sie hat schon zwei Herzoperationen gehabt und schnauft beim Gehen und beim Reden, aber sie hat ein herzliches Lachen, hat mir schon viele Eier geschenkt und wartet im Sommer auf mich, damit ich die Maulbeeren unter ihrem Baum einsammle, die dort im Überfluss vorhanden sind. Die anderen alten Damen beachte ich, wie mit MM besprochen, nicht.
Ich stelle mich zur Tür, wie in der Kirche, dort stehe ich auch gerne bei der Tür, damit ich unauffällig verschwinden kann, wenn es unerträglich wird. Aber seit ich Messen als beobachtende Forschungsperson besuche, sind sie nie unerträglich. Der Sohn des Opas kommt aus dem Inneren des Hauses durch eine Tür, ich nenne seinen Namen, sage, es tut mir leid, beuge mich zu ihm hinunter und küsse ihn. In dieser Familie sind alle Personen winzig. "Naja, was soll man machen." sagt er, irgendwie abwehrend, nicht mich, sondern die Trauer. Auf dem Sofa ist noch Platz, er zieht mich stark an. Ich setze mich, ach ist es schön, ein wenig auszuruhen, in der Stille, den Blick vom Toten zu den Lebenden schweifen zu lassen, getrost denken zu können, denn dies ist ein Moment der Andacht. Leute kommen. Eine Gruppe von Personen betritt den Raum mit dem Sarg, sie gehen auf die rechte Seite des Toten, berühren ihn an der Stirn, an den gefalteten Händen, murmeln, küssen ihre Hände. Das habe ich offenbar falsch gemacht: linke Seite, nicht berührt, kein Kuss auf die eigenen Finger. Aber diesen Brauch finde ich ohnehin nicht sonderlich nachahmenswert. Oft sehe ich, dass die Menschen, wenn sie an einer Kultstätte, einer Kirche oder einem Friedhof vorbeikommen, die Lippen bewegen, ein Kreuz schlagen und dann ihren Daumen küssen. Auch MM kann mir nicht erklären, weshalb sie das tun und ich finde es peinlich, jemand anders zu fragen, auf jeden Fall bin ich immer froh, wenn ich das sehe, dass meine Kinder aus dem Religionsunterricht ausgeschrieben sind (auch wenn sie ihn besuchen, aber das ist eine andere Geschichte), denn die Tatsache, dass man als gläubiger Mensch seine eigenen Hände küsst, kommt mir überheblich und unappetitlich vor. Eine relativ junge Frau ist unter den Neuankömmlingen und sie sagt etwas zur Leiche. Sie wiederholt ihre Worte dem Sohn gegenüber: "La sofferenza è finita." "Das Leiden ist zu Ende." Das finde ich gut, aber gleichzeitig auch unangemessen. Was weiß sie denn vom Leiden des Opas. Vielleicht hat er ja in Momenten auch Freude am Leben gehabt. Ich denke das, was ich immer denke, wenn ich an den Tod denke und an das Leben, an das Alter. Meine Gedanken sind äußerst einfach und es geht immer darum, dass es einen Tagesablauf gibt und dass die alten Menschen, die nicht mehr selbst gehen können, an die Sonne geschoben werden müssen. Ich schaue die Oma an und ein neuer Gedanke kommt mir in den Sinn, nämlich dass das die Ehe ist, dass wir uns das nicht so vorgestellt haben, aber am Ende kann es sein, dass der Geliebte wie ein Kind zu behandeln ist und dass man ihm die Windeln wechselt. Ich weiß das, denn die Oma hat es mir erzählt, sie hat gesagt, dass sie immer die Wäsche vom Opa wascht und sie hat auch immer seine Unterhosen auf einem Zaun aufgehängt. Das habe ich immer ein wenig komisch gefunden, denn sonst ist auf dem Zaun keine Wäsche aufgehängt, also der Rest der Wäsche der Familie scheint an einem Platz zu trocknen, der für die Nachbarn nicht zugänglich ist. Vielleicht meint die Frau ja, dass das Leiden der Familie ein Ende hat, das Leiden im Sinne der Mühe, die die Pflege eines alten, kranken Menschen bereitet. Ich schaue die Frau an, ich bemühe mich, sie nicht anzustarren. Ich glaube, dass das Leben als Ganzes für sie Leiden ist und dass es endet, wenn der Mensch seinen Weg nach oben antritt. Das meine ich aus ihren Gesten und Worten erkennen zu können. Sie setzt sich neben mich. Sie ist geruchsfrei. Etwas fällt ihr ein und sie fragt, ob etwas gelesen wurde. Man wiederholt die Frage für die Oma, sie hört schlecht. Sie fährt wie aus dem Schlaf hoch und zuckt die Achseln. Sie wirkt sehr allein. Kann sein, dass sie ihrem Mann gesagt hat, was er zu tun hat, aber ich glaube, dass sie jetzt verlassen ist. Die Frau neben mir zieht einen Rosenkranz aus der Tasche und beginnt. "Ave Maria, piena di grazie..." Sie wird gebeten, sich neben die Oma zu setzen, weil die ja nichts hört. Eine ältere Dame setzt sich neben mich. Anfangs ist es ganz lustig, dem Rosenkranz zuzuhören, irgendwann stellt sich ein Moment der Leere im Kopf ein, keine Gedanken mehr, es ist eine Meditation, ich weiß, warum sie das machen, aber sie müssen auch wieder damit aufhören, irgendwann wird ihnen die Luft ausgehen. Ich frage mich, wie oft man bei einem Rosenkranz ein Ave Maria beten muss und versuche den Rhythmus in dem Singsang zu erkennen, aber es gelingt mir nicht. Ich möchte mich im Sofa zurücklehnen, aber es kommt mir unhöflich vor. Mir tut das Kreuz weh. Ich starre auf den Teppich. Das Beten hört nicht auf. Ich höre es rauschen, ich höre das Nichts in meinem Kopf. Die Frau neben mir bittet Jesus, er möge sie vom Feuer des Winters befreien. Wieso? Ist es nicht angenehm im Winter ein Feuer zu haben? Beim vierten oder fünften Mal, als diese Bitte ausgesprochen wird, komme ich zu dem Schluss, dass es das Feuer der Hölle sein muss, Inferno, nicht Inverno. Ich denke an die Kinder, die alleine zu Hause sind und sicher Spiele auf ihren Mobiltelefonen spielen. Ich wünsche mir, sie mögen kommen, damit ich gehen kann. Während des Beten kann ich nicht gehen, also wünsche ich dringend ein Ende herbei. Ich bemerke, dass die Frau mit dem Rosenkranz die Gebete zäsiert, in dem sie eine Anzahl der Mysterien von Jesus Christus erwähnt. Sie ist beim vierten. Wenn ich nur wüsste, wieviele es gibt. Nun sieht die Rosenkranz-Dramaturgie vor, dass man aufsteht, das mache ich nur allzu gerne, denn so kann ich meine schmerzenden Glieder strecken. Nichts und niemand wird mich dazu bringen, mich noch einmal auf dieses unbequeme Sofa zu setzen. Die Traktorfahrerin wird gebeten, etwas zu lesen, damit die Frau mit dem Rosenkranz darauf sagen kann: "Prega per noi." Also scheint es sich um Fürbitten zu handeln. "Prega per noi!" stößt sie immer wieder ungeduldig hervor. "Muss ich weiterlesen?" fragt die Traktorfahrerin an einer Stelle, es ist eine normale Frage, aber dennoch erinnert sie mich an meine Kinder, wenn sie nicht mehr lernen wollen. Ja, sie muss weiterlesen. Ich verliere langsam die Geduld, aber da kommt es: das fünfte Mysterium, der Tod Jesu. Danach kann es doch wohl nichts mehr geben. Zum Glück fällt mir in diesem Moment die Auferstehung nicht ein. Und es ist wirklich vorbei. Man macht ein Kreuzzeichen. Ich auch. Ich stehe noch ein wenig herum und tue so, also wäre ich unschlüssig. In Wirklichkeit weiß ich genau, dass ich gehen werde. Ich hätte gerne gesehen, wie die anderen sich beim Verlassen des Hauses benehmen, aber keiner geht, also gehe ich grußlos, was glaube ich ok ist, also was soll ich auch sagen: "Wir sehen uns dann auf dem Friedhof, Leute"? Ich grüße auch nicht mehr den Toten und es ist mir egal, ob die Leute über mich reden. Ich rede nämlich auch über sie und zu Hause verrate ich, dass die Frau neben mir Winter statt Hölle gesagt hat. Der Fußballer fragt, ob ein Sarg teuer ist und ich erzähle ihm alles über Särge, was ich weiß und setze hinzu, dass ich verbrannt werden möchte. Bevor ich ihm einen konkreten Auftrag geben kann, bittet er mich, nicht mehr über den Tod zu sprechen.

Sonntag, 23. Februar 2014

Abfall

Heute Nacht habe ich einen Albtraum gehabt. Ich musste an etwas arbeiten, dabei befand ich mich in einer Bar. Andere Leute waren auch da. Ich durfte mich nicht bewegen, bis diese Arbeit fertig war. Da kommt der Schwiegersohn von unseren Nachbarn (der mir immer schon unsympathisch war) und hält meinen Daumen fest, bis es mir weh tut und ich mich doch bewegen muss, obwohl ich das nicht hätte sollen. Ich bin wütend. Der Typ lacht. Schnitt. Ein Raum mit mehreren Personen, darunter der Schwiegersohn unserer Nachbarn. Ich sage: "Bist du Alex?", schon ziemlich empört. "Nein." sagt er. Klar ist er das, obwohl es ziemlich dunkel ist. Und ich frage: "Kennst du ihn, wo ist er?" "Kenn ich nicht, weiß ich nicht." Und lacht. Die anderen Typen um ihn herum lachen auch. Ich sage: "Du bist Alex und du hast mir am Daumen weh getan." An die letzte Szene erinnere ich mich nicht mehr genau, mehrere Männer waren in einem Raum, es war noch vor dem Morgengrauen und alle lachen (mich aus) und schieben große Geldscheine herum. Im Traum denke ich, dass sie von der Mafia sind, und bin recht entsetzt.

Ich weiß, warum ich das geträumt habe, auch wenn die Wege des Unterbewusstseins unergründlich wie die des Herrn sind. In Kalabrien wird seit zwei Wochen der Müll nicht mehr abtransportiert, denn die Mülldeponie(n) sind überfüllt und geschlossen. Alex arbeitet bei der Müllabfuhr unserer Gemeinde.

Bis gestern habe ich den Umstand, dass der Müll nicht mehr abgeholt wird, mit Stoizismus und Hoffnung ausgehalten. Jeden Tag, wenn ich aus dem Haus gehe, hoffe ich, dass der unsympathische Alex und seine Kumpels die Berge von weißen, schwarzen, blauen und gelben Müllsäcken aufgeladen und weggefahren hat. Jeden Tag wappne ich mich aufs Neue mit Geduld und in unserem Vorzimmer stapeln sich auch schon ein paar Säcke, weil es mir keine Freude macht, diese traurigen Müllberge zu vergrößern.

Von der Staatsstraße biegt man auf eine kleine, steile Straße, um in unseren Ortsteil zu gelangen. Am Eingang in diese Straße stehen drei Mülltonnen, eine für Papier, eine für Glas und Plastik und die dritte für den Restmüll. Zum Thema Mülltrennung in unserer Gemeinde könnte ich viele und erstaunlich skurille, insgesamt aber traurige Dinge schreiben. Die Behälter quellen schon bald über und die Müllsäcke liegen auf der Straße. Nach ein paar Tagen hat man mit dem Auto schon ein wenig Schwierigkeiten, in der Kurve nicht in den Müllberg zu fahren und natürlich sind viele Säcke aufgegangen und wer interessiert ist, kann den Inhalt studieren.

Gestern, als ich nach einem Ausflug in die Stadt, in der die Situation ähnlich ist, nur dass dort Menschen mit klapprigen Transportern vor den Müllbergen stehen bleiben und in unglaublicher Geschwindigkeit und mit großer Geschicklichkeit Metallteile aus dem Müll holen und diese in ihr Auto laden, nach Hause fahre, ist der wabernde Müll weg. Einen Moment freue ich mich, aber dann sehe ich, dass er einfach geschmolzen ist und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Was ich befürchtet habe, ist passiert: Jemand hat den Müll angezündet. Schwarz verkohlte Stummel sind noch zu sehen, es stinkt. Bis zu uns hinauf rieche ich den nassen verbrannten Dreck, das Dioxin, aber vielleicht bilde ich es mir nur ein.

Vielleicht war es derjenige, der dem Bürgermeister vor ein paar Wochen eine Gewehrkugel geschickt hat, mit einer Grußbotschaft in Blockbuchstaben. Vielleicht war es ein wilder Anrainer, der mit seinem Auto den Müll berührte, was ihn mit Abscheu erfüllte.

Ich erkläre MM in grellen Farben wie ich den Bürgermeister anrufen und ihm alles schildern werde. Der Inhalt des Satzes: "Jetzt sind wir aufs Land gezogen und leben weniger gesund als in einer smogreichen Stadt wie Mailand und ihre Mülltrennung, die sollten sie jetzt überdenken, aber subito, sie Scharlatan." formuliere ich mehrmals geistreich um. MM sagt: "Aber das weiß er doch." "Woher soll er das wissen? Ich muss es ihm sagen!" gebe ich, entflammt wie der Müll vor ein paar Stunden, zurück. "Also spätestens die Feuerwehr wird es ihm sagen." Die Feuerwehr. Wir sind nicht allein. Es gibt noch ein paar Institutionen.

Ich finde auch, dass der Bürgermeister dem Alex, der jetzt zu Hause sitzt, und etwas tut, das ich nicht ganz genau wissen möchte, weil es sicherlich öd und ekelhaft ist, den Auftrag geben sollte, den Müll wenigstens ansprechend zu arrangieren und schon mal vorzubereiten, dass er ihn doch hoffentlich einmal wegbringen wird, bevor er sich in kleinen Stücken über unseren gesamten Lebensbereich ausbreitet. Ob Alex sein Gehalt weiter bezahlt bekommt? In einer normalen Welt müsste er das, aber von dieser normalen Welt sind wir momentan ziemlich weit entfernt.

Donnerstag, 16. Januar 2014

CSI Calabria, Folge 1: Eierdiebe

Seit September haben wir Hennen. Das ist nicht der Grund, warum ich so lange nichts geschrieben habe, obwohl ich wirklich lange im Hühnerhof stehen kann und kontemplativ den Hendln zuschauen. Zuerst haben wir drei Hennen gekauft, was mich schon sehr erschöpft hat, aber als sich herausgestellt hat, dass die Hennen nach anfänglicher Verwirrung zu den besingenswürdigsten Wesen dieses Planten mutierten, haben wir gleich noch drei gekauft. Die Hennen haben nämlich recht schnell gelernt, dass sie sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht auf einen Ast über unseren Kopf setzen sollen, sondern in das von MM liebevoll gebaute Hühnerhaus einsteigen und dort auf einer Stange Platz nehmen. Die zwei roten und die schwarze Henne haben das so schön gemacht, dass wir dachten, jetzt müssen noch drei Hendln her, sonst sind die drei alten schon alt, wenn die neuen kommen und dann streiten sich die vielleicht. Also fuhr MM und holte die beiden blonden und eine zweite schwarze Henne. Namen haben wir ihnen keine gegeben, aber wenn es sein müsste, dann hießen sie Lotte und Luise, Liese und Lara, Ludmilla und Lodovica.

Jede dieser Hennen hat eine ihr eigene, unverwechselbare Persönlichkeit und wir werden keine Schnitzeln aus ihnen machen sondern geben ihnen viel teures Kraftfutter, denn sie sollen ja Eier legen. Ich habe insgeheim gehofft, sie würden das vom ersten Tag an tun, um ihre Anschaffungskosten zu amortisieren, haben sie aber nicht, denn angeblich muss man sich drei Monate in Geduld üben, bevor es zum ersten Ei kommt. Am 8. Dezember war es dann so weit, passend zur unbefleckten Empfängnis lag das erste unbefleckte Ei im Nest. Und brav jeden Tag ein weiteres.

Über Weihnachten sind wir weggefahren und ich habe unserer Nachbarin Instruktion gegeben. Dass die große Tür mit einem Eisendraht so befestigt wird, dass sie nicht zu fällt, denn unsere Hennen gehen wie im Schulschikurs manchmal auch tagsüber in die Zimmer. Dass im Nest ein Ei aus dem Supermarkt mit einem grünen Stempel liegt, das zum Eierlegen animieren soll. Diesen psychologischen Trick habe ich von meiner Schwiegermutter gelernt. Sie hat mir auch erklärt, dass man überprüfen kann, ob eine Henne ein Ei hat, wenn man ihr einen Finger in den Hintern steckt. Den Wahrheitsgehalt dieses Tipps habe ich jedoch bis jetzt nicht überprüft. Aber wie man sieht, halten unsere 6 Hennen die Großfamilie bei Laune und auch meine Nachbarin war total willig, die Hennen bis zur Selbstaufgabe zu pflegen.

Am Tag unserer Abreise steuerte eine zweite Henne ihr Schärflein zum Eierkarton bei und die Nachbarin, die sich die Eier nahm (auch das mit dem grünen Stempel), buk uns zum Ausgleich am Tag nach unserer Rückkehr eine riesige Crostata. Das Eisen, das die Tür offen halten sollte, hatte sie mit aller Kraft verbogen, damit die Tür besser schloss, oder sonst was. Sie hört mir so gut zu wie meine Kinder, es muss an mir liegen.

Eine Woche ging es weiter mit zwei Eiern pro Tag, dann war plötzlich Schluss. Das kleine Strohnest blieb leer. Ich dachte, das liege daran, dass es etwas kalt geworden war und legte mich in Folge mit hohem Fieber ins Bett. Die Aufgabe, das Hühnerhaus zu öffnen, das Futter, bestehend aus zerstoßenem Mais, einzufüllen, das Wasser zu wechseln und die Gemüsereste auszustreuen ging auf MM über. Dieser fand bereits am Tag Nummer 1 seiner neuen Verantwortlichkeit zwei Eier auf dem Boden. "Die Eier lagen auf dem Boden! So ein Glück, dass du nicht draufgestiegen bist, denn sie waren da ja schon am Vorabend." Bei 39 Grad Fieber ist es mit ganz egal, wann diese Eier wohin gelegt wurden, aber irgendwie ist es schon komisch, denn am Vorabend habe ich mit der Taschenlampe in der Hand das Hühnerhaus verschlossen und wie man aus CSI weiß, sieht man im Lichte einer Taschenlampe ALLES, auch Eier auf den Boden.

Am nächsten Tag lag ich immer noch mit 39 Grad Fieber (schon den nächsten) im Bett, als das Telefon läutet und MM aus seiner Arbeit anruft, um mir mitzuteilen, dass wieder zwei Eier auf dem Boden gelegen hätten und er jetzt nach stundenlangem Nachdenken zu dem Ergebnis gekommen sei, es könne sich nur um einen Akt menschlichen Tuns handeln. Denn gestern abend, seien diese Eier garantiert nicht auf dem Boden gelegen. So traurig das alles sei, es gebe jemand, der unsere Eier stehle. Und dann zwei davon auf den Boden lege. Als ich mit schwacher Stimme zu Bedenken gebe, dass ich nicht glaube, dass jemand von unseren Nachbarn so dumm oder so ausgefuchst sei, Eier zu stehlen, antwortet MM mit einem Spruch aus einem Comix seiner Jugendzeit und in diese ist er offensichtlich zurückgekehrt. Ich gebe zu Bedenken, dass diese Eier vielleicht von wo hergerollt wären. Das findet MM ziemlich lächerlich, denn woher sollen diese Eier rollen und warum? Ich sage: "Du hast zwei Möglichkeiten: entweder du hängst ein Schloss vor den Hühnerhof, oder du öffnest das Hühnerhaus schon um sechs Uhr morgens, statt um halb acht, dann kann noch niemand die Eier gestohlen und zur Tarnung einen Teil seiner Beute auf den Boden gelegt haben." Beide Lösungen gefallen MM, ich glaube, am besten kann er sich vorstellen, wie er im Morgengrauen einen vermummten Eierdieb niederringt.

Der folgende Tag ist ein Samstag und ich liege immer noch im Bett, diesmal nur noch mit 38 Grad Fieber. Im Lauf des Vormittags besucht mich MM. Er hat eine Plastikschüssel mit vielen Eiern in der Hand. "12!!" sagt er beglückt. Die Hennen haben 12 Eier in ein von ihnen selbst gebautes Nest oberhalb ihres Hühnerhauses gelegt. Von wo aus, jeweils zwei nach unten gerollt sind.

Die Freude über diesen plötzlichen Eierreichtum ist größer als das Bedürfnis, eine Flasche Sekt im CSI-Labor zu entkorken und mit einem Plastikbecher anzustoßen. Dass unsere Nachbarn im Umfeld von fünf Kilometern nun über jeglichen Verdacht erhaben sind, geht in der Sorge unter, wie wir unsere sechs Hennen nun dazu bringen können, wieder in UNSER Nest zu legen, statt in IHR Nest.
Ein Fall für meine Schwiegermutter. Doch die ist nicht sehr optimistisch. "Ihr müsst sie in ihrem Hühnerhaus halten, bis sie die Eier gelegt haben. Vorher dürfen sie nicht raus." Sie schwarze Pädagogik meiner Schwiegermutter führt dazu, dass die Hennen alle verärgert MM zur Seite stoßen, als er das Hühnerhaus aufmacht, sofort hinaushüpfen, auf ihr Nest zustürzen und dort 5 Eier deponieren.
Nun bringt aber meine Krankheit den Vorteil, dass alles morgens später wird, und die Hennen können am nächsten Morgen bis halb zwölf ihr Haus nicht verlassen, worauf sie brav ihre Eier ins Strohnest legen. Und am folgenden Tag auch und dann wieder.

Ich bringe einige Eier meiner Nachbarin, die mir eine Crostata verspricht. Allerdings dräuen am Himmel der Zukunft die ersten Wolken in unserem ungetrübten Verhältnis zu den Hennen auf. Die Nachbarin sagt, dass ihre Hennen keine Eier legen. Und unsere werden auch wieder aufhören, denn sie müssten sich erholen. Erholen? Wovon denn? Unsere Hennen haben das schönste Leben der Welt. Sie sind zu sechst auf etwa 200 Quadratmeter einstiger Grünfläche, werden ernst genommen, wenn sie wie eine eifrige Wachtruppe das Gelände erkunden und haben hoffentlich keine unlösbaren inneren Konflikte. Bei Einbruch der Dunkelheit gehen sie schlafen und wenn es hell wird, möchten sie wieder ihre emsigen Rundgänge beginnen. Ich versuche mir jeden Tag ein Beispiel an ihnen zu nehmen, auch wenn ich beim Schlafen das Liegen bevorzuge.