Samstag, 15. März 2014

Mein Weisheitszahn

Natürlich bäumt sich der Weisheitszahn nicht mehr auf, seit im Gespräch ist, ihn aus meinem Kiefer herauszuoperieren. Dort schlummert er seit ewigen Zeiten wie ein Vulkan. Über ihm hat man mir einen Zahn gerissen, als ich 17 war. Vielleicht hätte man damals schon an den Dicken denken sollen, der möglicherweise darunter rumorte. Vor zwei Jahren nun den nächsten Zahn dahinter und jetzt reicht's, jetzt muss dort eine Eisenstange rein und ein Keramikzahn und vorher muss der Dente del giudizio raus, das haben jetzt die Experten nach Betrachtung und Auswertung aller futuristischen Panoramabilder meines Gebisses einstimmig beschlossen. "Sind sie nun vorbereitet, ich meine psychologisch?" fragt mich die Assistentin in der Klinik, in der auch das Gebiss des Kindes mit Metallfäden in die richtige Form gebracht wird. "Nein." sage ich und sie lacht (etwas gequält). Sie kennt mich nun schon lange und sie würde wahrscheinlich sagen: Die Signora ist sehr gewissenhaft, um nicht zu sagen: die Signora ist hysterisch. Nein, ich bin nicht vorbereitet, zumindest nicht psychologisch, aber heute habe ich viele Untersuchungen gemacht und dabei wirklich interessante Menschen kennengelernt.
In dieser Klinik lächeln alle immer. Anfänglich denkt man, die Menschen finden einen sympathisch, eventuell vielleicht sogar witzig, aber dann merkt man, dass sie diesen heiteren Ausdruck nie verlieren. Meglio così, besser so, wie viele Kalabresen auf Vieles sagen. Unverhofft wird mir ein Elektrokardiogramm gemacht und ich darf mich auf eine Liege legen, worauf ich fast einschlafe, dennoch scheinen meine Herzwerte nicht erschreckend ruhig. Dann wird mir der Blutdruck gemessen und ich weiß, dass mir später noch Blut abgenommen werden soll.
Ein Mann ruft mich mit meinem Vornamen, weil er meinen Nachnamen nicht aussprechen kann. Der Mann ist riesig und seine Haarpracht ist so weiß wie seine Arbeitskleidung. Er lächelt milde. Mit einem Auge schaut er mich an, mit dem anderen auf die Wand links neben mir. Ich hoffe, er will mir nicht Blut abnehmen. Nein, er will mit mir sprechen. Er hat einen großen Ordner mit Papier vor sich und beginnt bedächtig meinen, für ihn seltsamen Nachnamen zu schreiben. Dabei lächelt er dieses beruhigende Lächeln, als hätte er mich lieb. Er wirkt wie ein zufriedenes riesiges blondes Baby. Ein paar Minuten, nachdem er mein Geburtsdatum aufschreibt, vertraut er mir an, dass er ein Jahr älter ist als ich, aber er fühle sich nicht alt. Er gehe tanzen. "Sehr gut!" sage ich. Nein, ich frage nicht, wann und wo, ich will auch nicht aufspringen und einen wilden Discodance beginnen. Ich habe noch nicht gefrühstückt und bin seit zwei Stunden unterwegs. Er freut sich, aber er wirkt ein wenig beunruhigt, vielleicht bin ich doch nicht enthusiastisch genug. Er wiederholt, dass er sich jung fühlt und dass er auch mit einer 30-jährigen Freundin gut auskommen würde. Unwillkürlich schaue ich auf seine Hände. Abgebissene Fingernägel, kein Ring. "In letzter Zeit habe ich mich ein wenig gehen lassen", sagt er und streicht sich über das Haar, als ginge es darum, dass er schon länger nicht beim Frisör war. Er macht eine Geste, als wäre er ein Frosch, der sich aufbläht. Er will wohl sagen, dass er zugenommen hat, ich sage: "Eh va be." und das kann man nun interpretieren wie man will: das ist doch nicht schlimm, es gibt viel dickere Leute als sie, oder: mich stört das nicht, oder: nehmen wir nicht alle irgendwann zu usw. Eigentlich würde ich gerne sagen: sie können ja laufen gehen, aber ich weiß, das ist mein eigener Wahn im Moment und ich kann nicht wie ein Zeuge Jehovas des Laufens die Leute bekehren. Zumal meine neu gestartete Laufkarriere nicht einmal zwei Wochen alt ist, aber offenbar so viele Endorphine frei gesetzt hat, dass ich glaube, ICH bin die 30-jährige potenzielle Freundin. Er sagt mir auch, wo er wohnt. Ich sage: "Da haben sie aber einen langen Weg zur Arbeit." Daraufhin erklärt er mir, dass er diesen Job allein bekommen hat, ohne Protektion, er habe nämlich etwas studiert (möglicherweise Arzt?) und dann die Krankenpflegerausbildung gemacht und dann hier vorgesprochen und sei angestellt worden. In einer anderen Gesellschaft wäre das irgendwie klar, aber möglicherweise ist seine Situation wirklich einzigartig. "Sono un uomo libero." Ich bin ein freier Mann, sagt er. Was mich aufrichtig ergreift. "Das ist ein Wert" sage ich.
Nun beginnt er aber über Ärzte zu schimpfen, die nämlich alle nur durch Protektion zu dem gekommen seien, was sie machen und mein Herz sinkt. Alle guten Ärzte aus Kalabrien seien in den Norden gegangen, alles was hier ist, na reden wir lieber nicht darüber. Oh mein Gott. Und von so einem, über den man lieber nichts redet, soll ich mir meinen Weisheitszahn aus dem Kiefer stemmen lassen? Das Riesenbaby ereifert sich: "Die Leute glauben, wenn einer einen Hochschulabschluss hat, ist er Arzt, aber ein Hochschulabschluss sagt noch gar nichts." Einiges von dem, was er sagt, verstehe ich kaum, ich glaube, es ist der Eifer, der ihn zum Übersprudeln bringt. Ich bin froh, als er sagt: "Ich muss sie das fragen: Gehen sie regelmäßig aufs Klo, oder leiden sie unter Verstopfung?" "Regelmäßig", sage ich trocken und bin sehr stolz auf mich. "Auch was die Diurese betrifft?" Gut, dass wir nun über die essenziellen Dinge des Lebens reden und dann sagt er zu mir: "Sie können gehen."
Die Krankenschwester, die mir Blut abnehmen soll, ist auch sehr freundlich und lächelt. "Jetzt sagen sie mir einmal: woher kommen sie?" Ich gebe ihr eine Antwort und sie sagt: "Aber zwischen hier und dort liegen doch Untiefen." Mir ist das immer peinlich, wenn jemand meine Heimat lobt. Und sagt, dass alle dorthin wollen. Das gibt mir das Gefühl, erstens bescheuert zu sein und zweitens ein Versager, eine Art ins Exil geschobener Mensch. "Sie sind wegen der Liebe hier, stimmt's?" Das klingt auch wieder komisch. "Sagen wir ja." sage ich, was mich gleich noch verdächtiger macht. Freundlich lächelnd schreibt sie sorgfältig meinen Namen auf drei Phiolen und dann jagt sie eine Nadel in meine Vene und fragt mich, ob es weh tut, was anfänglich nicht der Fall ist. Ich schaue aus dem Fenster auf diesen wunderbaren Teil der Küste des Tyrrhenischen Meers, auf die Insel, die heute pastellfarben erscheint, wie alles. Ich sage: "Viele Leute in meiner Heimat würden sie um die Lage ihres Arbeitsplatzes beneiden." Sie sagt: "Es ist das Panorama, das wir hier in Kalabrien haben. Sonst kann Kalabrien nicht viel bieten. Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich Arbeit habe, aber es gibt so viele Menschen, die ihre Arbeit verloren haben." Das und die Nadel in meinem Arm geben mir den Rest, ich finde die Frau nicht mehr nett. Bevor ich meinen vermeintlich letzten Atemzug tue, befreit sie mich und sagt, ich kann jetzt frühstücken. Ich glaube, ich will gar nicht mehr frühstücken.
Auf dem Gang steht ein Kaffeeautomat und einer mit Snacks, aber die Schnitten und KitKat die sich in diesem Kasten befinden, kann ich aufgrund mangelnder Phantasie, Begabung oder Geschicklichkeit nicht aus dem Automaten holen und ich gebe mich mit einem sogenannten Capuciokk zufrieden, sehr zufrieden. Auf dem Gang wartet eine junge Frau, die eine Jacke mit Leopardenmuster trägt, eine Tasche mit Leopardenmuster und wie ich sehe, nachdem ich sie ausgiebig betrachtet habe, auch ein T-Shirt mit Leopardenmuster. Mit seinem milden Lächeln ruft sie mein Freund, das Riesenbaby in sein Zimmerchen mit Blick aufs Meer. Sicherlich wird er sich an dieser jungen Raubtierfrau erfreuen.
Anschließend unterhalte ich mich mit einer Zahnärztin, die sagt: "Na sie haben aber einen Weisheitszahn!", was mich denken lässt, dass mein Kiefer vielleicht zusammenbricht, wenn mir dieser offenbar überdimensionierte Zahn entfernt wird. Wir machen einen Termin aus und sie sagt, ich soll einen Trainingsanzug oder einen Pyjama mitbringen. Ich unterschreibe einen Zettel, dass ich über den Eingriff aufgeklärt wurde.
Dann wird mir noch ein Panoramaröntgen vom Kiefer gemacht. Hoffentlich passt mein riesiger Weisheitszahn auf dieses kleine Bild. Zwei andere Personen müssen auch ein Röntgenbild machen, einer ist ein Mann mit einem Piercing über der Augenbraue und in der Nase, die er allerdings nicht entfernen muss. Ich meine Ohrringe schon, das verstehe ich nicht. Es ist mir aber auch egal.
Danach habe ich ein kurzes Treffen mit einem praktischen Arzt. Da ich ja nun erfahren habe, dass alle Ärzte nur durch Protektion zu ihrem Arbeitsplatz gekommen sind bin ich sehr skeptisch und als er eine auffordernde Geste macht, rufe ich entsetzt: "Was wollen sie?" Er will meinen Puls fühlen.
Abschließend kontrolliert eine andere Krankenschwester freundlich all diese Papiere, all diese Unterschriften die ich geleistet habe. Ich hoffe, ich habe mich nirgends verpflichtet, in Zukunft auf meinen Weisheitszahn zu verzichten und der sofortigen Entnahme desselben zugestimmt, denn ich glaube, dass meine psychologische Vorbereitung für diesen "Interventino", wie die Dentistin verharmlosend sagt, für dieses Eingrifflein also, sehr zu wünschen übrig lässt.

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