Dienstag, 23. August 2011

The sea the sea

Von dort, wo ich als Kind war, sieht man nach Ungarn, das ist weit weg, und mit viel Sehnsucht und viel Fantasie sieht man dort das Meer, das war immer schon so. Und weil ich als Kind immer dort war, wo man Ungarn sieht und nicht das Meer, war ich 18, als ich das erste Mal das Meer sah. Das war eine ziemliche Enttäuschung, denn es war flach und bleiern und nicht weit und vielversprechend wie die pannonische Tiefebene.

Die Mutter von einer der Tanzpartnerinnen des Kindes, die lange in Rom gelebt hat, sagt, sie fühle sich erst wohl, wenn sie bei einer gewissen Autobahnabfahrt sich dem Meer nähere. Das geht mir auch so. Dann ist es irgendwann da und man kann tief seufzen.

Von Drogen verstehe ich nicht so wahnsinnig viel, aber dafür von Leidenschaft und das Meer ist eine Mischung aus Leidenschaft und Droge. Man stirbt nicht ohne sie, aber man geht ziemlich in die Knie.

Das Meer tröstet, sagt eine Freundin, die von der Nordsee kommt. Mich nicht. Aber es lässt mich verstummen, was gut für mich ist.

Montag, 22. August 2011

Sozialstudie im Krankenhaus

Nach dem Besuch in der Kindheit, besucht die Dattilografa das allgemeine Krankenhaus der Stadt. Mit großer Dankbarkeit verläßt sie es wieder: es ist nur ein Muskelfaserriss und kein Achillessehnenriss, nur 6 Wochen Heilungsprozess und nicht 4 Monate. Kein Gips, nur ein Tapeverband. Keine OP. Nach der Dankbarkeit kommt gleich die Unzufriedenheit. Wieso musste mir das passieren? Ich hatte doch gerade so Spaß beim Federballspielen! Und ich kann heuer nicht mehr im Meer schwimmen. Der entfernte MM behauptet, schwimmen sei gut, aber ich glaube, er weiß nicht, wie es in meiner Wade aussieht.
Der OP-Gehilfe, der mir den Tapeverband anlegt, hat sich auch einmal die Muskeln in der Wade eingerissen und die Frau Doktor (die den ganzen Tag nichts gegessen hat) auch zwei Mal die Achillessehne.
Nur der 2. OP-Gehilfe ist nervös und spricht mit hervorquellenden Augen über seinem Mundschutz hervor:wir haben sooo lange Schnittwunden zu nähen. Mit den Händen zeigt er die Distanz eines halben Meters.
Meine Freundin und ich werfen uns einen Blick zu: Wir haben niemanden abgestochen!

Back to the roots

Die Dattilografa war mit dem Nachwuchs dort, wo die Dattilografa ihre Kindheitssommer verbracht hat, im Dorf von der Oma. Ich habe im Haus von der Oma geschlafen, das nur noch außen an das Haus von der Oma erinnert, dort aber dafür ziemlich. Die Tante wohnt noch daneben. Der Nussbaum ist weg, aber ein paar Marillenbäume sind noch die alten und die Milchkanne, mit der ich als Kind beim Bauern Milch holen war, hat meine Kusine auch aufgehoben. Ich war seit dreißig Jahren nicht mehr im Ort, seit die Oma tot ist. Ich weiß nicht warum, es ist einfach so. Ich bin froh, dass ich jetzt dort war.
Ich sitze auf der Treppe vom Omas Haus und fühle mich wie 10. Entschieden, vorurteilsfrei und voller klar umrissener Projekte.

Wir haben noch einen Kusin gehabt, den wir auch gar nicht mehr sehen, der war uns damals schon zu "verweichlicht" wie meine Kusine heute sagt, wir waren eher die "wilden Typen". Ich weiß, dass wir gelacht haben, bis wir uns fast in die Hosen gemacht haben und die Oma war mit von der Partie. Meine Kusine ist heute noch lustig.
Auch die Kinder amüsieren sich bis zum Abwinken.

Ich erinnere mich, dass ich mit 15 einen potenziellen jugendlichen Geliebten hatte, der nicht verstand, dass ich ihn nicht treffen konnte, als meine Oma starb. Ich kann nicht, meine Oma ist gestorben, verstehst du? Verstand er nicht, ich weiß auch nur noch wo das war und nicht mehr wer er war. Beim Begräbnis habe ich viel geweint, aber beim Leichenschmaus haben wir wieder Tränen gelacht. Vielleicht habe ich auf Vorrat gelacht.

Meine Oma hatte immer einen Spruch auf Lager, über den ich lange nachdenken konnte. Mein Großvater hatte sie begehrt, aber sie sei stolz vor ihm hergegangen, wie ein Hirsch. Mir wurde auch erzählt, dass meine Großmutter von eben diesem Ort, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen, in die große Stadt kam und ihren Koffer auf dem Kopf trug. So stellte ich sie mir dann immer vor: stolz wie ein Hirsch, mit einem Koffer auf dem Kopf, den lechzenden Großvater dahinter.
Meinen Großvater habe ich nie kennen gelernt und meine Kusine hat mir ein Detail aus meiner Familiengeschichte verraten, das mich so überrascht hat, dass ich nicht weiter nachfragen konnte. Ich hoffe, es falsch verstanden zu haben. Ich würde es sehr gerne googlen, aber ich befürchte, es steht nicht im Internet.
Die Tatsache, dass auch die Urahnen einmal jung waren und dass sie von romantischen oder erotischen Gefühlen ergriffen wurden, erstaunt mich sehr. Und wohin dann das Begehren sich erstreckt! Aber vielleicht ist es dem Begehren ja sozusagen systemimmanent, dass es immer in die hoffnungslos falsche Richtung strebt.

Mittwoch, 17. August 2011

Jetzt weiß ich es wieder!

Nämlich, warum ich diese meine Heimatstadt HASSE.Ich komme um 22: 36 vor einen Schalter eines personenbesetzten Bahnhofs, wie das hier heißt. Die beiden automatischen Glastüren sind geschlossen und öffnen sich natürlich auch nicht. Zwei Japaner stehen vor dem Mann hinter der Theke, neben ihm ein anderer Mann, der ein paar Mal über meinen flehentlichen Ausdruck und mein zartes Klopfen hinwegsieht. Ich denke, wenn sie die Japaner nicht unterirdisch oder mit Polizeischutz rausbringen, dräng ich mich rein und erzähle über meine schwierige familiäre und sonstige Situation, die mir Besuche bei der Staatsbahn nur nach 22 Uhr erlaubt und dann ist sich auch das nicht ausgegangen. Aber der Mann im weißen Hemd deutet auf seine Uhr und schwenkt anschließend seine Arme kreuzweise über dem Kopf. Ich gehe. Ich fluche. Schon lange habe ich mich nicht so reden gehört. Ich höre: "Ihr seids wirklich Oaschlecher." Das ist meine Stimme. Nicht schön! Ich gehe zurück. Ich warte auf den Mann, der die Japaner betreut. Sein Kollege macht ihn auf mich aufmerksam (Achtung, gleich holen sie die Feuerwehr). Der zweite Schalterbeamte deutet ebenfalls aus seine Armbanduhr und hebt die Hände über den Kopf. Ich mime: ich bin doch nur fünf Minuten zu spät, indem ich auch auf meine Uhr deute.Er reißt wieder die Arme hoch. Ich gehe, jetzt aber wirklich.
Bei all dem Müllproblem, bei all dem Berlusconi, bei aller Mafia: DAS würde in Italien NIE passieren. NIE. Es kann sehr gut sein, dass ein Geschäft, auch ein Informationsdienst 15 Minuten zu spät aufsperrt, aber NIEMAND schickt einen Klienten weg, wenn der Laden noch irgendwie in Betrieb ist. Das machen die Menschen zum einen, weil sie Klienten schätzen, zum anderen, weil sie auch Klienten sein könnten, und daher erscheint es ihnen unhübsch, die Person abblitzen zu lassen. Vielleicht hätten sie mir eine Standpauke gehalten: Signora, wollen sie, dass wir bis Mitternacht arbeiten, wir haben auch eine Familie!, aber sie hätten mir meine Bahnkarte verlängert, wenn das technisch möglich gewesen wäre, auch um 22:36.
"Pare brutto!" ist ein stehender Spruch in Italien, zumindest im Süden. Eine Rechtfertigung für alles, was man tut, weil es sonst nicht gut ausschaut. Ich habe immer gefunden, dass es nicht so wichtig ist, ob was gut oder schlecht wirkt, aber heute habe ich den Vorteil dieser wenig freigeistigen Mentalität zu schätzen gelernt.

Dienstag, 16. August 2011

Weltmarkt

Trotz der Sehnsucht nach dem brodelnden Süden und seinen Bewohnern, die in mir Vibrationen auslösen, welche in alle Richtungen ausschlagen, hat das Leben in der Großstadt gewisse Vorteile. So kann ich beispielsweise einem meiner favourite sport and pastime nachgehen, anderen Leuten in öffentlichen Verkehrsmitteln zuzuhören nämlich.
Als ich mit den Kindern im Autobus stehe, der uns ins städtische Schwimmbad bringen wird, höre ich eine junge und nasale männliche Stimme hinter mir. Seinen Gesprächspartner höre ich kaum, aber es geht um ein Buch. Enttäuschend oder hochgelobt, mir ist es nicht ganz klar und natürlich denke ich, sie reden über das selbe Buch, das mich im Moment gerade interessiert, nämlich "Schoßgebete" von Charlotte Roche, ich habe nämlich ein Interview mit der Autorin gelesen. Ich spitze die Ohren und vermute, das Wort "Sex" zu hören. Dann sagt der junge Mann hinter mir laut und deutlich: "Ich kann das nicht leiden, wenn jemand mit seiner eigenen Meinung versucht, den Weltmarkt zu erobern." Ich wiederhole diesen Satz in meinem Inneren. Ich möchte mich umdrehen und dem Jüngling sagen: "Mit wessen Meinung soll der Autor denn den Weltmarkt erobern? Mit ihrer, junger Mann? Mit meiner?" Dann beginnt der Rallyefahrer, Konversation zu betreiben. Ich möchte ihm sehr gerne sagen, dass er still sein soll, weil ich dem Gespräch hinter mir lauschen will, aber das ist mir peinlich. Außerdem fragt sich der Rallyefahrer, warum der letzte Harry Potter Film außerhalb Italiens früher gespielt wird. Da ich ja selbst es war, die den Kindern verschwiegen hat, dass Harry Potter ins Kino gekommen ist, um mir das 3D- Erlebnis in jeder Hinsicht zu ersparen, fühle ich mich bemüßigt, ihn mit vielen in die Zukunft weisenden Worten zu trösten. Als ich mich endlich wieder meiner eigentlichen Tätigkeit des Belauschens widmen kann, ist das Buchkapitel abgeschlossen und man spricht über Salzburg. Festspiele nehme ich an. Dann bleibt der Bus stehen, weil ein anderer Bus kreuzt und die beiden Busfahrer miteinander sprechen. "Der glaubt, nur weil er hoch ist, kann er überall stehen bleiben.", sagt der mieselsüchtige Weltmarktexperte. In Kalabrien müsste er am ersten Tag eine Bombe werfen. Da bleiben alle Autos irgendwann irgendwo stehen, weil sich die Autofahrer austauschen möchten.
Ich drehe mich um, der junge Mann ist doppelt so groß wie ich, sehr dünn, und trägt eine Brille. Ich beneide ihn nicht um seinen Gemütszustand. Ich würde gerne sagen: "Hey Alter, als ich so alt war wie du, war es das absolute Muss eine eigene Meinung zu haben. Die Voraussetzung für den Weltmarkt, capisci?"

Montag, 15. August 2011

Heimweh

Angesichts eines Tabakladens in Triest überkam mich einst das vibrierende Gefühl, in Italien leben zu wollen. Ein fahrender Gemüsehändler in Palermo brachte mein Herz zum Höherschlagen und ein ähnlich mobiles kleines Gemüsegeschäft in Reggio Calabria gab mir Gewissheit: Hier will ich bleiben.

Jenseits von Gut und Böse.

Andere Menschen treffen rationale Entscheidungen und sind dankbar über einen sicheren Job.

Ich habe jetzt eine Woche lang Loblieder auf die Meriten der großen Stadt gesungen und könnte das eigentlich auch noch weiterhin tun, aber ich habe Heimweh bekommen. Und komischerweise nicht (nur) nach dem wunderbaren abwesenden MM, sondern danach, in Kalabrien an der Haltestelle des Autobusses zu stehen, das Licht ist grell, der Autobus ist zu spät, die Autos fahren schnell vorbei, auf dem Hügel steht eine Kirche und ein Kloster, daneben eine große Kiefer. Die anderen Leute, die warten, reden so schnell, als ginge es um ihr Leben. Junge Frauen reden über künstliche Nägel, Frauen mittleren Alters belehren jüngere Männer über die Praktiken des Schulsystems und Jugendliche machen ihre anzüglichen Konversationen. Es ist staubig und im Wartehäuschen steht seit Monaten: "Ich will wieder deine Hände auf mir spüren, sag, dass es wieder so sein wird!"

Bei all den wunderbaren Kinderbetreuungseinrichtungen und der perfekten Mülltrennung hier und vor allem dem einwandfreien Trinkwasser überall erlaube ich mir jetzt Sehnsucht nach dem Unanständigen, dem absolut Veränderungs- und Verbesserungswürdigen, dem Ärgerlichen und dem gleichzeitig so Vitalen, dem nicht Korrumpierten, nach dieser immer lebendigen Hoffnung und der Sonne des Südens.

Sonntag, 14. August 2011

Jogurt

Auf dem Heimweg vom Schwimmbad kramt der Pubertierende im Rucksack und aus seinen gebrummelten Worten meine ich den Satz: "Da ist ein Jogurt" interpretieren zu können."Ja!", sage ich, "ich habe Jogurt mitgenommen, aber dann reichte es nicht aus,um es auch den anderen anzubieten, also haben wir es nicht gegessen." Ok, oder? Der Rallyfahrer sagt: "Was? Ein Jogurt ist in meinem Rucksack ausgeronnen?", das Kind ruft: "Ein Jogurt? Wir sollen ein Jogurt essen?" Ich sage nichts mehr, denn ich war sieben Stunden im öffentlichen Bad. Bei Tagesbeginn widme ich mich jeder Anfrage, abends widme ich mich dem Schweigen. Ich denke: DAS ist mein Leben. Im Haus angekommen sagt das Kind: "Wann essen wir das Jogurt?" Ich tue so, als hätte ich nichts gehört. Ich denke an meine Nachbarin. Wenn ich zu ihr laufe, um zu fragen, ob es bei ihr auch kein Wasser gibt, bzw., um mich zu beklagen, denn ich WEISS, dass es auch bei ihr kein Wasser gibt, kann ich mir sicher sein, dass sie das Wort "manicomio" (Irrenhaus) gebrauchen wird. Ich glaube, ich gehe nur zu ihr, um mir zu bestätigen, dass das alles ein Irrenhaus ist. "Ich habe zwei meterhohe Berge von Wäsche, und jetzt ist das Wasser weg - un manicomio!" Und das mit dem Jogurt ist auch ein manicomio, denke ich. Zu Hause öffne ich den Rucksack, ein Jogurt ist zerbrochen und wertvolles Kirschjogurt hat sich in einem Plastiksack ausgebreitet. "IIIIH, alles voll Jogurt" ist der Kommentar des Rallyefahrers. Ich erkläre ihm, dass seinem Rucksack nichts passiert ist, da ich nämlich genial bin, und alles vorher in einen Plastiksack verpackt habe. Ende der Diskussion. Wenn ich meine Genialität ins Spiel bringe, will keiner mehr weiter reden. Schade eigentlich.

Mittwoch, 10. August 2011

Sweet little lies

Ich habe zwei schwerwiegende Defekte: ich kann weder stehlen, noch lügen. Als Schülerin habe ich versucht, im legendären Zuckerlgeschäft etwas mitgehen zu lassen, wie alle meine Schulkollegen, und das ist mir auch gelungen: die Attrappe einer Bitterschokolade.
Auf einem Markt habe ich später einen Apfel gestohlen und bin mir dabei vorgekommen, als hätte ich die Bank of America geleert. Ich habe den Apfel gegessen und den Stängel mit einem Aufkleber "Mein erster gestohlener Apfel, Datum" aufgehoben. Es gab keinen zweiten gestohlenen Apfel, es war mir zu anstrengend.
Was das Lügen betrifft, so fehlt mir nicht unbedingt die Fantasie, aber die Ernsthaftigkeit. Nach jeder Lüge beginne ich blöde zu lachen. Ich kann ausgezeichnet ein Doppelleben führen und vieles einfach verschweigen, aber auf ein Faktum direkt angesprochen, erröte ich heftig und gestehe alles.
Ich denke oft darüber nach, bis zu welchem Alter sich Menschen noch verändern können, denn ich habe ja meinen Freundinnen gegenüber immer behauptet, dass Männer sich nie verändern würden, aber erwachsene Frauen können das, wie ich meine, sehr wohl, und zwar in zwei Fällen: angesichts schwerer Krankheiten und angesichts einfacher oder mehrfacher Mutterschaft. Kinder inspirieren zum Beispiel zu einer klareren Zeiteinschätzung, zu größeren Leistungen im Haushalt und im allgemeinen und zu Lügen. Der Rallyefahrer sagt: "Mamma, ich kann fast die Muskeln in meinem Bauch sehen!", und ich sage nicht, was mir als erstes auf der Zunge liegt, nämlich: "Die Muskeln in deinem Hirn sind aber ziemlich unsichtbar!", nein, ich sage: "Echt?". Der große Sohn sagt: "Mamma, kann ich mir auf der Rückfahrt im Zug Videos von 50 Cents auf dem kleinen Computer anschauen?", und ich antworte nicht spontan, dass ich 50 Cents really 50 Cents finde, sondern ich sage: "Aber im Zug gibt es doch kein Internet!", was aber nur bedingt eine Lüge ist. Ich habe auch versucht, meinen Kindern einzureden, dass der letzte Harry Potter bei uns in Kalabrien noch nicht im Kino ist, weil ich darauf warte, dass er in ein Kino ohne 3D kommt. Selbst meine Freundin, die Frau des Filmprofessors, gesteht, dass sie ihren Kindern gegenüber das Gerücht verbreitet, dass man bei 3D-Filmen dunkler sieht, weil sie nicht für jedes Kind 11 Euro Eintritt bezahlen will. Mein kleiner Tänzer schließlich ist auf seine Art ein begnadeter Lügner, der die Dinge anders versteht ("Ich dachte, du WOLLTEST, dass ich vier Stunden zu den Nachbarn gehe!", gar nicht hört ("Nein, das hast du NIE gesagt!") oder sie zu seinen Gunsten verdreht: ("Sag bitte meinen Brüdern, sie sollen die Schaukel verlassen, denn dieses kleine Mädchen hat noch gar nicht geschaukelt, ich möchte, dass dieses kleine Mädchen schaukelt." (Und neben dem kleinen Mädchen ICH).
Manchmal werde ich pathetisch und beschwöre angesichts verschwundener Kaugummis Bilder von Menschen herauf, die innerlich verfaulen, weil sie so viele Lügen erzählen. Es hat auch eine Zeit lang gedauert, die Kinder von der Vorstellung zu befreien, sie würden kurze Beine bekommen, wenn sie lügen. In dieser Hinsicht sind die Kinder echt naiv, sie glauben auch, dass denjenigen, der furzt, seine roten Handflächen verraten würden.
Ich wäre gerne smarter. Wenn ich vergesse, zwei Euro unter das Kopfkissen zu legen, wenn ein Zahn ausgefallen ist, erfinde ich glaubwürdige Geschichten über den Arbeitsalltag der Zahnmaus, aber wenn ich das Kind vor einem Heiligenbild beten sehe, und es sagt; "Ich bete, weil ich gute Taten vollbringen möchte!", werde ich total fantasielos und sage schneidend: "Beten ist eine Sache, gute Taten eine andere!"
Oh Lord!

Dienstag, 9. August 2011

Die Dattilografa als Wirtin

und in der Psychoanalyse: die römischen Freunde haben sich das Freud-Museum angesehen und berichtet, dass es dort einen Küchenschwamm mit der Aufschrift "Neurose" als Souvenir zu kaufen gibt. Das regt zum Denken an. Heute bin ich unglaublich stolz auf mich, weil ich spontan 8 Leute in meiner kleinen Wohnung in der großen Stadt bestens verköstigt habe, während ich vor ein paar Tagen beim Geburtstagsessen im großen Haus mit dem großen Garten und der großen Baustelle die Hälfte des Menüs zum Teil vergessen habe, zuzubereiten und zum anderen Teil vergessen, aufzutischen, was dazu geführt hat, dass die Gäste meiner Meinung nach hungrig weggegangen sind. Warum interessiert es mich hier nicht, ob meine Freundinnen professionelle Desinfisziererinnen sind und ich auch deshalb so sein sollte?
Meine Nachbarin Teresa sagte mir letztens, dass sie einmal zwei Wochen nicht zu Hause war, und dann waren da Spinnweben, SPINNWEBEN! Ich dachte immer, das mit den Spinnweben liegt daran, dass wir am Land leben, aber da Teresa ja auch am Land lebt, und normalerweise keine Spinnweben hat, scheint es an mir und meinem nachlässigen Putzen zu liegen. MM bittet mich, nach meiner Rückkehr Teresa zu fragen, ob sie mit mir putzt. Dann seien wir auch den "Alptraum Hausputzen" los. Statt zu finden, dass MM "in gamba" ist, echt ok, denke ich: wer hat denn einen Alptraum Hausputzen? Ich schließe daraus: ich sollte mich auf die Couch in der Berggasse legen und ein wenig über kalabresische Hausfrauen reden, was heißt Hausfrauen - sie sind berufstätige Frauen, Mütter und Ehefrauen und man könnte auf ihren Tischen jederzeit eine Notoperation durchführen. Selbst auf dem mit Chlorbleiche geputzten Boden. Letztens erbrach sich ein kleiner Hund auf den Wohnzimmerboden einer Freundin und sie entfernte die Reste mit einem Einweghandschuh aus dem Spital und einem Küchentuch und stellte energisch fest, dass das gar nichts mache, da sie nachher ohnehin mit Chlor reinigen werde.
Hier in der Großstadt ist das alles nicht so wichtig, sehr seltsam, obwohl es doch auf den Straßen viel sauberer ist und vor allem das Müllprpoblem viel souveräner gelöst wird als in Süditalien. Im süditalienischen Mikrokosmos hingegen wird geschrubbt, was der Gummihandschuh aushält. Meine Schwiegermutter verpatzt ihre selbstgemachte Pasta damit, dass sie sie mit Geschirrtüchern zudeckt (damit keine Fliegen oder Spinnen darauf kommen), die so stark nach Dash riechen, dass der Rallyefahrer die Mundwinkel nach unten zieht: "Diese Nudeln schmecken nach Seife!"
Ich merke, dass ich nach all dem Clorbleichewahn der italienischen Hausfrauen (selbst die Emigrantinnen in der Schweiz kaufen in den Italo-Läden ihren Problemlöser ACE), Lust habe, etwas wirklich Schmutziges zu tun.

Montag, 8. August 2011

hush hush and away

Die Dattilografa mit den drei Kindern und den drei Koffern gibt die Fremdenführerin in ihrer alten Heimatstadt. Der große Sohn findet sie beeindruckend. Sie findet den Sohn beeindruckend, dass er so was sagen kann. Die Kinder der besuchenden Familie sind noch anstrengender als die eigenen. Am Ende des Tages hat der Rallyefahrer ein Stück Zahn ausgebrochen, das Gastkind ist im Gatsch gelandet und wie durch ein Wunder nicht vom Ringelspiel überfahren worden, das Kind sagt hundertmal: "ich sage es dir jetzt zum letzten Mal, wenn ich nicht sofort etwas zu trinken bekomme, sterbe ich." Außerdem hat er hundert Nadeln in den Füßen. Der Datti ist das alles so was von wurscht, denn sie hat sich als Kind selbst ein Stück Zahn ausgeschlagen, ist in den Gatsch gefallen und meinte, verdursten zu müssen.
Alles was mich interessiert ist, so zu werden, wie mein Freund, der italienische Filmprofessor. Nein, ich bin nicht in ihn verliebt, ich finde ihn nur so verehrunsgwürdig klar. Wie er die Dinge beurteilt. Wenn er einen Satz mit: "Ich nehme wahr..." beginnt. Auch wie er das Beste für seine Familie, für seine Kinder herauszufinden versucht, jetzt ganz abgesehen von Wenders, Herzog und Nanni Moretti. Ich kann das nicht, deshalb bin ich wahrscheinlich auch kein ordentlicher Universitätsprofessor. Allerdings habe ich auch keine Frau wie er. Aber ich weiß aus eigener Ansicht, dass er für seine damals noch kleine Tochter sorgte, als seine Frau schlief, die sich mit der somnambulen Tochter die Nächte um die Ohren schlug. Sie saßen auf der Terrasse, die z´Zweijährige mit ihrem Buch, er mit seinem Buch: "Nein, das ist Papas Buch, du hast dein Buch!"
Ich habe jetzt abends eineinhalb Stunden vor dem Computer, das ist mehr als zu Hause, wo ich mit MM spreche, oder dem Hund zu fressen gebe, während die Unter-15-jährigen einen Film sehen. Da die Kinder einige Harry Potter Filme mitgenommen habe, erwarten mich einige lange Abende. Ich habe begonnen, zu schreiben, und ich werde mich jeden Tag an meinen erfolgreichen Freund erinnern: Papa arbeitet - Mama arbeitet, la Dattilografa schreibt.
Gestern wollte das Kind die Tür zum Wohnzimmer schließen, in dem der Film gesehen wurde, ich saß in der Küche vor dem Schreibgerät. "Kann ich die Tür zu machen?" "Wieso?" "Damit du besser lernen kannst." Ok, die Zeit ist kurz, ich muss schnell lernen.

Sonntag, 7. August 2011

Ode an MS

Wer nie geraucht hat, kann nicht verstehen, dass nach gewissen Tagen nur eine Zigarette, eine bewusst und in Ruhe gerauchte Zigarette vermitteln kann, dass der Tag abgeschlossen und vorbei ist, dass der oder die Raucherin überlebt hat und nun eben endlich, ganz für sich, diese Zigarette rauchen kann, auf die er oder sie so lange gewartet hat und die er oder sie sich so redlich verdient hat.
Leider rauche ich seit 13 Jahren nicht mehr, seit 13 Jahren beraube ich mich dieser einzigartigen Genugtuung. In der letzten Woche gab es jeden Tag einen Tag, an dessen Ende eine Zigarette geraucht werden wollte. (Zigaretten wollen nicht geraucht werden, Zigaretten wollen gar nichts, sie können weder verstehen noch einen Wunsch haben, würde ich dem Kind sagen....)
Am Ende dieser Tage voller Tanz und vierzehntem Geburtstag (vierzehn, das ist: Schweiss, Ärger, Computerspiele, Flüche, Ungeduld, masslose Selbstüberschätzung und masslose Selbstvernichtung) packte die Dattilografa mit den anspruchsvollen Mantras "One bag only" und "Reisen mit leichtem Gepäck" drei tonnenschwere Koffer und begab sich mit den Kindern auf eine Reise. Das Kind rief: "Ich weiß nicht, wie ich das schaffe, so glücklich zu sein, vielleicht ist das, weil wir reisen!" Die Dattilografa reist nicht mehr so leicht wie früher, weil "la fila indiana", der Gänsemarsch hinter ihr, immer beobachtet werden muss.
Fern vom kalabresischen Ehemann und dem Garten, den Zikaden, Fröschen und der flirrend heißen Luft sitzt die Dattilografa in der kleinen Küche am Computer und weiß, dass noch irgendwo eine Schachtel MS versteckt sein muss. Sicher staubtrocken nach so vielen Jahren. Aber der Ruf der Wildnis, der manchmal leiser wird, ist im Hintergrund immer zu hören. Immer.

Mittwoch, 3. August 2011

Worte der Woche: amorevole und amoroso

Ein wesentlicher Bestandteil unseres etwa 3500 Quadratmeter großen Obst- und Gemüsegartens ist ein Wasserbecken, in dem das Wasser, das aus wunderbaren Gründen aus einer Quelle zu uns kommt, gesammelt wird, bevor wir damit den Garten gießen. Wenn wir das Wasser nicht brauchen, fließt es durch ein Rohr weiter, mischt sich mit anderem Wasser und geht in den Wildbach. Wenn wir gießen, öffnen wir ein anderes Rohr und schleppen Schläuche zu den Furchen, in denen Tomaten, Auberginen (in Österreich als Paradeiser und Melanzani bekannt), Kürbisse, Gurken, Paprikaschoten und anderes wachsen. Wenn das Wasser in die Rinnen gluckert, fühlt man sich wie ein Wasserbauexperte und hat das Gefühl, sein Leben extrem sinnvoll zu gestalten und sich sein Abendessen oder sein Frühstück, je nach Zeit dies Gießens, rechtschaffen verdient zu haben. Leider gehört die Putzorgie, die wir vor zwei Jahren im Wasserbecken veranstaltet haben, dringend wiederholt, denn es haben sich Algen gebildet und die Abflüsse funktionieren nicht einwandfrei und wir müssen regelmäßig kontrollieren, ob das Becken übergeht. Das fällt uns neuerdings nachts ein und MM und ich gehen dann leichtherzig mit einer Taschenlampe in den Garten, während die Kinder vor dem Fernseher oder dem Computer sitzen. Über uns sind reichlich Sterne zu sehen. Im Wasserbecken sitzen die Frösche und halten erschrocken in ihrem Gesang inne. Wir leuchten sie an und sie tun so, als wären sie gar nicht da, aber sie sind deutlich zu sehen, sie passen auf einen Handteller, sind grellgrün, haben hervorquellende Augen und eine Blase an der Kehle, die aussieht, als hätte das Kind seinen Kaugummi oder seine Spuckeblase hingeklebt. Wenn wir das Licht ausmachen beginnen sie wieder: "QUAQUAQUA!". Von der Mauer über dem Wasserbecken hallt es wider, den ganzen Hügel hinunter. Ohrenbetäubend. "Warum tun sie das?" fragt mich MM. "Aus Liebesgründen", will ich mit größter Überzeugung sagen, aber ich verwende ein falsches Wort und sage: "Aus Gründen der Liebenswürdigkeit." MM sieht mich an. Sein Blick sagt: "Meint sie das ernst?". Er leuchtet wieder die Frösche an. Sie schweigen beleidigt.

Die Tatsache, dass nur noch fünf Wochen Ferien sind, versetzt mich geradezu in Panik. Ich muss meinen Kindern doch noch so viel beibringen, bevor sie wieder in der Schule verhaftet sind. Da aber bereits 8 Wochen Ferien hinter mir liegen merke ich auch gewisse Erschöpfung, was mich selbst betrifft. Ich habe Briefe an Gremien geschrieben, um eine Lehrerin in der Klasse des Kindes zu halten, ich habe das Kind erfolgreich auf dem zeitaufwändigen Weg zu seiner zweiten Ballettaufführung begleitet und ich habe aus Gründen der Liebenswürdigkeit eine kräfige Überdosis an sozialen Kontakten genossen, die sich nicht als Zuschuss an heiteren Geschichten in meinem Blog verewigt, sondern beklemmende Seelenzustände hervorgerufen hat. Ich habe viel gekocht und mir viel vorlesen lassen. Ich löse gemeinsam mit dem Kind das Geheimnis des gelben Drachens, bin mit dem Rallyefahrer zusammen darüber entsetzt, dass die Feen im Wald sterben und amüsiere mich mit dem demnächst Vierzehnjährigen über die abartigen Streiche, die Gianburrasca in seinem Tagebuch beschreibt. Viel lieber würde er mit mir über Videogames reden, aber ich will, dass er liest.

Alles in allem fühle ich den unverkennbaren Drang nach Grenzüberschreitung in mir aufsteigen. Ich bin zu gut gelaunt, um nach der üblichen Pumpgun zu verlangen und ich muss auch nicht zwangsläufig etwas sprengen, das heißt, die Gefahr ist groß, dass ich auf einer knatternden Vespa durchbrenne, zumindest einen Nachmittag lang. Ach, könnte man nur Ferien machen wie damals, an Orten, an die man nie mehr zurückkehrt, an denen sich die eigenen Spuren langsam verwischen und der Wind den Sand verbläst. Könnte man etwas Verbotenes tun mit aller aufzubringender Ernsthaftigkeit. Lieder in einer fremden Sprache schmettern und mit jungen Männern tanzen. Auf fremde Dächer steigen und aus voller Kehle quaken, aus Liebesgründen natürlich.