Montag, 24. Juni 2013

kleine Silberfischerl

Wo ich jetzt grad bin, da rennt ein ganz kleines Silberfischerl im Klo über den Boden. Das kommt mir passend vor. Alles ist hübsch und die Frauen tragen Dirndln und der Boden ist so sauber, dass nur fast nicht sichtbare Silberfischerln herumflitzen, aber es gibt sie dennoch. Es gibt sie immer. So ein Glück. Irgendwie, oder?
Es geht schon wieder um die G'stätten glaub ich. Ich beneide die Leute in meinem Heimatland nicht, weil sie haben so wenig Freiraum. Die Orte unserer Erinnerung gibt es nicht mehr, dort, wo meine Brüder im Sand Fußball gespielt haben, stehen herzeigbare Gemeinde- oder Genossenschaftsbauten und wo ich alle wesentlichen Erkenntnisse einer 5 - 15 jährigen hatte, gehen jetzt Menschen gepflegt spazieren, aber zum Glück nicht so gepflegt, dass es alle Erkenntnisse mit einem Schlag auslöschen würde. Dort geh ich immer noch in den Hosen von meinen Brüdern herum, die mir damals besser gefielen, als die für mich vorgesehene Kleidung. Dort erhol ich mich von der gewaltigen Macht einer Schulausbildung, die mir eine besondere Last ist, wenn es sich um Häkeln und um Singen handelt. Ich brauche nur an das ungepflegte Gras denken, über das ich getrost trampeln kann und ich weiß wieder alles, das Gemeine, das hinter mir liegt und das Große, das vor mir liegt. Wer nicht häkeln und singen kann, kann am Nachmittag an der Donau sitzen, auf den Treppen, über die meistens das Wasser schwappt, viel zu nah, aber das weiß die Mama nicht, und in Gedanken auf einem der Lastschiffe nach Rumänien fahren. Mit einem Hühnerkäfig an Bord. Später trample ich über das Gras auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage nach der Richtigkeit eines jungfräulichen Begehrens. Die G'stätten hat mir immer geantwortet, wenn auch immer g'stättenhaft und ich hätte mir vielleicht einiges erspart, wenn ich meine Entscheidungen in einem dem Gestaltungswillen mehr unterworfenen Ambiente gesucht hätte. Jetzt ist das wahrscheinlich eh bei allen so, dass es die kontemplativen Orte der Jugend oder der Kindheit nicht mehr gibt, außer einer ist zum Nachdenken auf einen Berg gekraxelt. Und es ist eine Frechheit, dass man da nicht mehr zurück kann. Bitte wo soll man heutzutage seine Angst bewältigen oder seine Wut auslassen? Die Bierflaschen kann man nicht mehr getrost gegen die Wände verlassener Fabriken werfen. Alles hat Konsequenzen heute.
Ich glaube, ich bin mein ganzes Leben lang auf der Suche nach der unverbauten unverplanten Fläche. Und in Kalabrien bin ich gut bedient. Es ist halt alles nur recht gebirgig. Die Schafhirten in unserer Umgebung stecken ihre leergetrunkenen Bierflaschen auf irgendwelche Holzstecken und Äste. Das Kind nimmt so eine Bierflasche und schleudert sie in die Natur. Weit weg, denn er ist ein guter Werfer. Ich frag ihn, ob er übergeschnappt ist und fange an, von der Halbwertszeit von Glas zu reden. Und dann mach ich mir lange Zeit Sorgen um die dunklen Seiten in meinem engelsgleichen Kind.
Hier und jetzt, bei den kleinen Silberfischerln im Klo denke ich an meine eigenen Untiefen, die, die auf der G'stätten sind, unter dem Zubetonierten. Und ich möchte das Mädchen in den abgeschnittenen Hosen, das nicht häkeln und nicht singen kann, zu mir holen, denn es fehlt mir.

Sonntag, 9. Juni 2013

so won't you stay...

Jetzt arbeite ich mit anderen Menschen zusammen, von denen die meisten graue Haare haben und die anderen wirklich wirklich jung sind. Die grauen Panther sind irgendwie kindisch und die Jungen ernsthafte Menschen. Die Veteranen haben mehr Erfahrung und die Kinder wirken verzweifelter. Schöner sind sie, je jünger, desto schöner, das schon. Aber die Lust und das Begehren fokussieren sich gar nicht auf die Schönheit und das Reine sondern auf das Wilde und Entschlossene, auf das, was gar nicht anders, sondern nur so geht, auf das Kompromisslose und das hat kein Alter.
Zum Tanzen habe ich dennoch immer noch kein gutes Verhältnis gefunden und daher jetzt bitte keine Leserbriefe.
Das Lieben hört nicht auf, das haben schon einige von ihren Großmüttern und Großtanten gehört, auch wenn es dann heißt: Es hört nicht auf. Es. Männer sagen das nicht. Oder weniger. Heute jung sein, kommt mir vor, ist nicht mehr so daneben, wie damals, als ich das offiziell war. Das Privileg maßlos zu sein, wird sich nicht mehr genommen.
Jetzt, was würd ich machen, worum würde es mir gehen? Ich würde auf einer Hochschaubahn fahren oder zumindest in einer Art Riesenrad und ich würde den Wind in meinem Gesicht spüren und würde sagen, dass das der Grund ist, warum mir die Tränen kommen und ich würde a) den Menschen an meiner Seite an mich ziehen, an mein Herz oder b) mich an seine Brust drücken und versuchen, sein Herz schlagen zu hören. Das wäre schön, ein stetes Bumm zu hören im Rauschen des Windes und des Kreischens, das von anderen Seiten kommt. Und wenn ich unten angekommen wäre, würde ich meinen Kopf gegen diese Brust stützen und damit meinen Widerwillen darüber ausdrücken, dass die Fahrt vorbei ist. Ich würde versuchen, zu heiraten, um immer immer immer auf diese wertvolle Brust Zugriff zu haben. Oder ich würde nach Hause gehen und selig sein, über das, was war. Was sicher vernünftiger wäre, denn das Heiraten garantiert ja nicht ein Herz, dessen beruhigendes Schlagen einen durch jedes Unwetter trägt, sondern im Gegenteil ein Anwachsen eines Sturms und flatternde Herzen auf beiden Seiten. Und dann die kleinen Buzzi-Herzen womöglich, die wie Hundebabys all unser Entzücken verdienen und dann zu verwirrten Teenagerherzen werden, die uns unser eigenes Wollen und Entzücken vergessen lassen.
Jung sein, heißt die Wahl haben. Nicht mehr jung sein, heißt, schon einiges gewählt zu haben, möglicherweise nicht immer das Richtige. War eigentlich nur ich unvernünftig, als ich jung war, oder war das meine ganze Generation? Kommen die Jungen heute nur mir allzu vernünftig vor, oder allen aus meiner Generation? Klar, anschauliche Ausdrucksmittel wie Piercings und Tatoos standen uns damals auch noch nicht zur Seite.
Also alles in allem, was geblieben ist, ist ein Flämmchen, wie in einem Durchlauferhitzer, das sich nicht auslöschen lässt. Das durch alle Falten und labbrigen Haut- und Muskelteile durchblitzt. Das Flämmchen Begehren, dich, mich und danach, etwas zu tun. Es zu tun, mit der Zungenspitze das Salz aufzulecken, ja, das auf der Haut des anderen, oder wo immer es sich eben befindet.

Dienstag, 21. Mai 2013

Leo und ich

Die schwierigen Tage nenne ich jetzt: Tage der Horizonterweiterung. Während sich meine Kinder dauernd zweifelhafte Pop-Songs ins Ohr blasen, höre ich die Klassiker der Literatur. Das macht geduldig. Ich habe David Copperfield gehört, was nachhaltige Folgen auf meinen Gemütszustand hinterlassen hat und mich in Lebensgefahr gebracht hat, da ich während einer langen Autofahrt so sehr über Doras Tod weinen musste, dass ich die entgegenkommenden Autos kaum wahr nehmen konnte. Und jetzt "Krieg und Frieden". Pause. Pause. Pause. Krieg und Frieden. Krieg und Frieden. Krieg und Frieden. Krieg und Frieden. Ich hab das nie gelesen. Gibt es jemanden, der das getan hat?
Aber jetzt kann ich es hören, Eierphone sei Dank. Hätte es mein Leben verändert, wenn ich es früher gewusst hätte, was der Leo Tolstoj für einer ist? Wohl kaum, denn ich glaube, dass es erst jetzt, wo ich nicht mehr forever young bin, in mein Hirnkastel dringen kann. Also während der Fürst Andrej stirbt (hat der Tolstoj schon mal so was erlebt? MM sagt, er hätte Interviews gemacht, wie meint MM das? Der Tolstoj mit einem kleinen Diktiergerät, oder wie?), habe ich einen sehr anstrengenden Tag weil nämlich die Autobusfahrer streiken und zwar zu Recht, denn die Region Kalabrien hat beschlossen, die Hälfte ihres öffentlichen Verkehrs nicht mehr zu bezahlen. An  dieser Stelle möchte ich laut und anhaltend lachen. Ich bin ein echter Fan des öffentlichen Verkehrs, obwohl es in unserer Familie zwangsweise zwei Autos gibt. Die Hauptstadt der Region Kalabrien heißt Catanzaro und ist mit öffentlichen Verkehrmitteln praktisch unerreichbar. Das weiß ich, weil ich nämlich ein Tablet, das Garantie hat, umtauschen will und alle dazu berechtigten Geschäfte befinden sich in dieser unsäglichen Stadt in die nur frühmorgens (sehr früh morgens) Busse fahren und wenn man aus diesen Bussen steigt, muss man über Straßen gehen, die Google maps nicht für Fußgäger vorsieht. Wenn ich dann dort gehen würde, dann wäre ich eine dieser wunderlichen Personen, über die man lange nachdenkt, wenn man sie am Straßenrand wanken sieht. Also im aktuellen Fall will ich aber gar nicht nach Catanzaro, ich habe beschlossen, dass ich in Rom viel eher und leichter vorbeikomme, in diesem Fall will ich einfach in unserer Provinzhauptstadt arbeiten.
Bevor ich den Bus betrete, ruft MM an und sagt, ich soll mich wegen dem Streik erkundigen. Habe ich an dieser Stelle schon einmal geschrieben, dass alle meine Kinder immer schon das Wort Streik (sciopero) schreiben, verstehen und interpretieren konnten? Das Wort equilateral (gleichseitig) ist vergleichsweise anspruchsvoll für sie. Also erkundige ich ich wegen dem Streik. Streik? sagt der Busfahrer auf seine Art unwillig. Consorzio Autolinee streikt, die Buslinie, mit der ich fahre, nicht. Ok. In der Stadt lässt er uns aber früher aussteigen, weil der Autobusbahnhof besetzt ist und den Fahrgästen schwant Böses. Ich plaudere mit einem netten Fahrer und sage zum Schluss noch "speriamo bene" (hoffen wir Gutes). Die gute Hoffnung lasse ich aber fahren, als ich ins Büro der Busgesellschaft gehe, um mich zu erkundigen. Der Mann dort ist nahe an einem Kollaps und mir wird die Tragweite von 52 Prozent bewusst, die will die Region nämlich nicht mehr zahlen. Ich erfahre, dass der Streik vom Consorzio Autolinee ausgegangen ist und dass sich andere Busfahrer angeschlossen haben, aber welche und für wie lange wisse man nicht und außerdem hänge das von ihrer Gewerkschaft ab. Gewerkschaft, das Wort zergeht auf der Zunge. Ich bin nicht böse.
Ich will auch einmal pro Stunde in die Provinzhauptstadt fahren können und nicht nur alle 2 Stunden oder zum doppelten Preis.
Aber wie komme ich nach meiner Arbeit wieder nach Hause? Als ich auf dem Busbahnhof vorbeischaue, sagt mir eine Frau Carabiniere, dass dies ein "sciopero ad oltranza" sei. Offenbar geht der Streik, bis eine Übereinkunft erzielt wird. Ich habe noch die Hoffnung, dass einer der Fahrer nicht mitmacht, der, der seinen Autobus zum richtigen Zeitpunkt vor mich hinstellen wird. Aber alle Autobusfahrer sitzen in ihren hellblauen Hemden in einem kleinen Lokal, das "Tavola calda" (warme Küche) verspricht und manch einer schaut auf einen vielversprechenden Teller mit Gnocchi con sugo (e basilico). Ich gehe zur nächsten Haltstestelle und warte gemeinsam mit ein paar Leuten, zufälligerweise aus dem selben Ort wie ich, obwohl der Bus ca. 110 km zurücklegt. Nein, da kommt kein Bus. Also gehen wir zum Bahnhof. Das geht eine Zeit lang ganz gut und dann über in einen Weg neben einer Baustelle entlang an lieblos gestutzten Dornen. Ich verspreche, dass ich hier nicht meine ganz persönliche Beziehung zu den italienischen Staatsbahnen schreiben werde. Aber ich schwöre, es wird hier auch noch Raum finden.
Das Eierphone dient nun nicht mehr dazu, Fürst Andrejs langsamen Tod zu erzählen, sondern zur Organisation eines Mittagessens für das Kind, das eigentlich mit mir eine Pizza hätte essen sollen und zur Verschiebung eines wichtigen Zahnarzttermins. Und dann verschiebt sich der Horizont: aus dem Zug schaut unser Dorf auf eine Art mondän aus und es gibt wunderbare Strände. Das ist einfach die richtige Distanz.
Der Schaffner gestikuliert bedrohlich: Es ist alles seine Schuld. Nein nicht die des Schaffners, die von Berlusconi, un venditore di fumo, eines Rauchverkäufers, heiße Luft würde man bei mir zu Hause sagen.
Ja, aber das Problem ist das Klonen, denn in der Region Kalabrien sitzt nicht das berlusce Wesen, sondern ein fescher junger Mann namens Scopelliti und wie man sich denken kann, wurde der gewählt. Und wenn Pierre in "Krieg und Frieden" auszieht, um Napoleon zu erschießen, wünsche ich mir, jemand würde zumindest das Regionsparlament besetzen.

Mittwoch, 15. Mai 2013

Forever young


Ich bringe die Jugendlichen zur Probe des Orchesters, dorthin, wo der begnadete Dirigent wirkt, der leider so nach Zigarren stinkt. Aber daran denke ich nicht, als ich den Hügel hinunter zum Meer fahre. Ich höre Radio und da ist ein Lied, das ich schon lange kenne: Forever young. Der Name der Gruppe fällt mir nicht ein, aber sie singen auch ein anderes Lied mit dem Titel "Big in Japan". Das Lied ist aus den 1980er Jahren. Ich kenne das Lied auswendig. Ich drehe lauter. Die Jugendlichen schweigen beschämt. Schon wieder einer der peinlichen Ausfälle der Mutter. Mit laut schmetterndem Radio Auto fahren. Oh nein, bitte nicht.
"Let us die young or let us live forever, we don't have the power but we never say never." Ein Schock breitet sich in mir aus: Es ist zu spät. Ich kann nicht mehr um die Gnade eines frühen Tods bitten, ich bin nicht mehr jung. Janis Joplin und Jimi Hendrix waren halb so alt wie ich, als sie gestorben sind. Mir wird heiß. Was hab ich in den letzten 25 Jahren gemacht und wieso kann ich nicht mehr sagen: Love hard, live fast, die young? Ich bin überrascht. Dass mir das erst jetzt auffällt!
Eine Gnade ist mir doch zuteil geworden, wenn man es als solche bezeichnen kann: abgrundtiefe Naivität. Ich glaube immer noch, dass alles möglich ist und sich das Genie in mir doch noch ausdrücken wird können. Manches, was möglich oder auch nicht ist, interessiert mich eh nicht mehr. "But we never say never."
Mit der 1980er Boygroup im Ohr stürze ich in die Orchesterprobe und klopfe inmitten der Kakophonie dem Schlagzeug-Prof. gegenüber deutlich auf die Uhr. Mein Ziel ist, zu signalisieren, dass ich echt keine Zeit habe und das gelingt mir ganz gut. Ich muss meine Kinder kaum mehr wohin verfrachten, das machen jetzt immer die Profs selber, weil ich eine Art Girlande der Hysterie und Gereiztheit um mich geworfen habe, die kaum jemand zu ignorieren wagt. Ich schwebe wieder weg, die Girlande wippt leicht, wie blasierte Kusshände, um mich. Weder der Dirigent, noch der Schlagzeuglehrer, noch der Schulwart werden in diesem Leben meine Geliebten sein und darüber bin ich sehr froh, denn als ich dem frühen Tod entgegeneilte hätte ich das auch noch unterbringen müssen und heute habe ich Zeit, "Krieg und Frieden", wenn schon nicht zu lesen, dann doch immerhin zu hören. Das hätte ich nicht gekonnt, wenn ich jung gestorben wäre.
Aber jetzt habe ich Angst, dass ich für immer leben muss.
Meine Mutter sagt: "So wie die Buben manchmal Fieber bekommen und danach gewachsen sind, geht es mir manchmal schlecht und ich entwickle mich rückwärts. Ich bin jetzt alt und hässlich." "Aber nein, hässlich bist du nicht." sage ich automatisch. "Doch", sagt meine Mutter.
"Let us die young or let us live forever." Ein Fluch, anyway.

Samstag, 11. Mai 2013

Pazienza

heißt auf italienisch Geduld und wird häufig gebraucht. Seit vielen Jahren versuche ich zu verstehen, ob Pazienza heißt: "Man muss Geduld haben, dann werden sich alle Probleme lösen.", oder ob Pazienza heißt: "Da kann man halt nichts machen."
Wenn ich zwei Mal pro Jahr das Zugticket in die große Stadt kaufe, wappne ich mich mit viel Pazienza. Ich muss dazu auf einen 20 Minuten entfernten Bahnhof fahren und ich weiß schon, dass ich das mehrmals tun muss, denn es klappt nie beim ersten Mal, aber immer passiert auf diesem Bahnhof etwas, was wert wäre, aufgeschrieben zu werden. Diesmal handelt es sich um den Aushang, den ich vor dem unbesetzten Schalter finde: Dieser Ticketverkauf ist vom 7.- 10.5 von 13:43 - 20:57 geöffnet. Da bekommt man Lust zu rechnen, stimmts? Und es ist tatsächlich keiner da um 12 Uhr. Es handelt sich um einen Aushang der Ferrovie dello stato, also kann man auch keinen abwesenden Schalterbeamten beschuldigen. Aber der Bahnhof ist groß, sonst wäre ich ja nicht hier. Kleinere Bahnhöfe sind ja schon lange mit nicht funktionierenden Self-Service-Ticket-Maschinen ausgestattet. Immerhin habe ich damit gerechnet und bin nicht weiter beunruhigt.
Ich will die frei gewordene Zeit nutzen und die Fotos von der Tanzveranstaltung im letzten Jahr abholen. Bezahlt sind sie schon, muss ich zu meiner Ehrenrettung sagen. Ich fahre eine Straße hinauf und bleibe vor großen Betonblöcken stehen. Dahinter befindet sich ein großer Erdhaufen, der auf die Straße gerutscht ist. Aha, daher kam mir das kleine Auto mit der erinnerungswürdigen Aufschrift "Nannini", das vor dem Bahnhof an mir vorbeigefahren ist, kurz darauf wieder entgegen. Noch einer, der nicht automatisch wusste, dass diese Straße gesperrt ist. Kein Schild weist auf die nicht benutzbare Straße hin. Wozu auch, wenn man davor steht merkt man es ohnehin und so eilig wird man's schon nicht haben, oder?
Auf einem Umweg gelange ich doch zum Fotografen. Sein Geschäft ist ein enger, langer Schlauch, in dem gerade zwei Personen nebeneinanders stehen können, wenn sie sich kennen. Unbekannte Kunden stehen hintereinander. Vor mir steht einer, zu dem der gutaussehende, wenn auch in die Jahre gekommene Fotograf, Tonino genannt, soeben sagt: "Das ist ein Grund! Mein Vater, dem INDAP (ich glaube, das ist die staatliche Pensionsstelle) 200 Euro Pension gibt und er sitzt im (pantomimische Darstellung eines Rollstuhls, der mit 80 kmh dahin fetzt)." Wofür das ein Grund ist, weiß ich noch nicht, aber als der andere Kunde den Laden verläßt, nachdem ich böse geschaut habe und Tonino mich auch böse angeschaut hat, erfahre ich es: "Man braucht ein Maschinengewehr. Finden Sie nicht?" sagt Tonino, während er die Fotos sucht. Da bin ich aber ganz seiner Meinung. "Ja, manchmal schon." sage ich zurückhaltend. Ich kann ihm ja jetzt nicht sagen, dass ich eine Pumpgun will, ich weiß nicht, auf wessen Seite er steht. "Anders geht's nicht mehr." Er durchsucht erfolglos die Reihen an Kuverts, die da lagern und ich bekomme Herzklopfen. Nicht meine schon bezahlten Fotos nicht finden, bitte! Er unterbricht seine Suche und wendet sich mir zu. "Ich sage nicht, dass der Mann, der auf die Carabinieri geschossen hat, recht hat." Aha, es gab also einen inspirierenden Vorfall. "Nein", sage ich. Soll ich sagen, dass Carabinieri auch nur Menschen sind? Tonino nimmt mir die Entscheidung ab und sagt: "Ich sage auch nicht, dass man wirklich schießen soll, aber man muss ihnen Angst machen. Timore!" Ich nicke. Ich habe Angst, dass er meine Fotos nicht findet. Mir ist immer noch nicht klar, wem er Angst machen will. "Wir Bürger sollten uns vereinigen und Gewehre nehmen. (Hat er gesagt "unsere" Gewehre?) Und dann stellen wir die Politiker in einer Reihe auf. Und dann werden wir ja sehen, ob sich die Polizei vor sie oder hinter sie stellt. Wenn sie sich vor sie stellt, dann heißt das: Krieg!" Ich nicke wie einer von diesen Spielzeughunden, die in den 70er Jahren auf den Autoablagen standen und ununterbrochen den Kopf auf und abbewegten. "Aber dann müsste man ihnen einen Katheter ansetzen!" sagt Tonino verächtlich. Wieso wechselt er das Thema jetzt zum Krankenhaus, denke ich, dann verstehe auch ich. Ich lache. Das feuert Tonino an: "Windeln muss man ihnen anlegen, weil sie sich anmachen werden vor Angst!" Ich weiß immer noch nicht wer, die Politiker oder die Polizei, aber ziemlich wahrscheinlich beide. "Die Carabinieri," sagt er und blättert wieder in den Kuverts herum, nachdem wir ein paar Varianten des Namens der Kinder durchgegangen sind, "die Carabinieri halten auf der Autobahn LKWs auf und konfiszieren Computer. Die behalten sie dann selber und geben sie ihren Kindern. Oder in der Schule. Zuerst bekommen die Professoren und ihre Kinder. Und wenn ich sage: und meine Kinder? Leider nichts mehr da." Klingt nach Albanien, stimmt aber wahrscheinlich.
Er hat die Fotos gefunden und knallt sie mir vor die Nase. Sie waren unter einer originellen Version des Vornamens des Kindes eingeordnet. Die Fotos sind gut, er ist ein guter Fotograf und jetzt macht er wieder das Zeichen des Durchladens eines Gewehrs. "Man kann nur schießen, sage ich. Habe ich nicht recht? Und dabei bin ich Demokrat!" Jetzt, wo ich die Fotos habe, mache ich mir Sorgen, dass ich den Autobus in die Provinzhauptstadt verpasse. Ich nicke jetzt rascher, in der Hoffnung, dass ich so schneller aus dem Laden komme. Aber Tonino weiht mich nun ein: "In unserer Stadt gibt es 2800 Grillini, Sie wissen schon, die Grillo gewählt haben. Ich sage zu ihnen: wenn wir unser großes Fest habe, warum stellen wir uns nicht schweigend auf die Straße, um zu protestieren. Aber nein, da ziehen sie sich lieber für 200 Euro, und wer weiß, wann sie die bekommen, eine Verkehrshilfe-Jacke an und pfeifen die Autos herum. Nichts haben sie gemacht. Also wundern Sie sich nicht, wenn ich finde, man kann hier Probleme nur mehr mit dem Gewehr lösen. Wie in Amerika." Auweia, jetzt hat er mir mein Argument, sollte ich aufgefordert werden, zu sprechen, aus dem Mund genommen und ich muss aufhören zu nicken. "Demokratisch, wie in Amerika. Mit der Waffe in der Hand, aber demokratisch." In seinen Ausführungen stellt er gerade Indianer und Weiße mit großen Gesten gegenüber, als ein alter Mann mit einem adretten blauen Blazer den Laden betritt. Am Revers trägt er eine Nadel, die für etwas steht, das Toninos Aufmerksamkeit erregt. "Donnerwetter, wie elegant..." beginnt er den Alten in ein Gespräch zu ziehen. Ich bin nicht beleidigt. "Arrivederci!" rufe ich fröhlich und laufe erleichtert auf die Straße. Das nächste Mal schießen wir in Gedanken weiter, Tonino.
Dem ist eindeutig die Pazienza abhanden gekommen.

Übrigens ist am Sonntag Muttertag und anlässlich dessen hat das Kind in seiner Klasse mir ein Zeugnis ausgestellt. Ich habe unverhofft gute Noten bekommen, vor allem die Bestnote in Sportlichkeit und Autofahren freut mich, für Geduld habe ich aber nur die Note 9 statt 10. Neben der Wertung hat das Kind eine Frau mit zu Berge stehendem Haar gezeichnet, aus deren Kopf Rauchschwaden dringen. Die Augen sind extrem vergößert, ich nehme an, es handelt sich um die Illustration des Satzes: Die Augen quollen aus ihren Höhlen. Ich trage dieses Urteil mit Fassung und immenser Pazienza.


Montag, 29. April 2013

Out of the blue and into the black

Die Datti muss in die große Stadt fliegen, wo sie erschöpft ankommt. Ihr Koffer kommt nicht an. In der alten Wohnung sind zum Glück Zahnbürsten, alle von den Kindern, aber ist ja egal. Nur der Pyjama vom Kind passt nicht mal mehr dem Kind, wie soll der mir passen? Auf der Autobahn, der italienischen, auf dem Weg zum Flughafen, überhole ich einen kleinen Lastwagen, er transportiert Artischocken. Ich möchte mich an jeder einzelnen Artischocke festklammern und ja nicht dieses Land verlassen. In meinem Kühlschrank vergammeln immer noch 5 Artischocken, aber diese, diese hier, die würde ich jetzt gleich verarbeiten. Wenn man mich fragt, wie es mir gefällt in Italien, nach so vielen Jahren, antworte ich neuerdings: Immer weniger. Aber sobald ich mich aus Italien fortbewege, scheint mir sogar Enrico Letta, der neu erkorene Ministerpräsident, ein Grund zu bleiben. Im Flughafenbus haut mich der Biergeruch der Menschen, die den Pass desselben Landes wie ich haben, fast um und ich frage mich, wieso sie alle barfuss in ihren Sandalen stecken, obwohl doch erst Ende April ist. Ich finde sie peinlich, aber ich weiß, es gibt auch die schönen und guten und weil ich ja endlich einmal alleine bin, schaue ich auf Facebook nach, was sie machen.

Wenn ich in Italien bin, habe ich eine ganz genaue Vorstellung vom Frühling in der großen Stadt und von der Sehnsucht, die man hier verspüren kann und von der Gewissheit eines Neubeginns und vom Geruch der großen alten Bäume. Man muss es nur schaffen, auch wirklich neu zu beginnen. Wenn ich dann hier bin,  habe ich eine ganz genaue Vorstellung von dem, was ich eben verlassen habe, die wachsenden Weichseln, der Hund, der mich durch den täglichen Spaziergang hetzt, während ich David Copperfield auf dem Eierphone häre, vom Gras, das der große Sohn geschnitten hat mit dem Grasschneidegerät, das ich in der vergleichweise kleinen Stadt reparieren habe lassen und in der ein solches Verkehrstohuwabohu herrscht, dass MM sagt: diese Stadt versteht, aus dem Nichts ein Chaos zu machen.

In Deutschland muss ich einen Zwischenaufenthalt einlegen und auch wenn es ungerecht ist, denn es ist nur ein beliebiger tödlich langweiliger Flughafen: ich möchte sofort zurück, möchte mich mit meinem ganzen Körper auf die Halbinsel werfen, möchte sogar der ungeliebten Mathematiklehrerin zurufen: Ich finde Sie originell, Maestra! Ich finde ich finde ich finde ich finde mich wie Thomas Bernhard, der sich überall ein wenig unwohl gefühlt hat, aber im Unterschied zu ihm fühle ich mich auf dem Weg von einem zum anderen besonders unwohl. Und ich muss sagen, dass mein Leben von den fahrenden Gemüsehändlern bestimmt wurde. Nichts kann mein Herz ähnlich entflammen wie ein kleines Fahrzeug, aus dem heraus Saubohnen und Zwiebeln verkauft werden. In den ersten Monaten meines Aufenthalts in Italien bin ich mit MM, der damals ein geheimer Liebhaber und kein Ehemann und Vater war, nach Palermo gefahren und da hat diese Sucht nach den Gemüselambrettas begonnen. Einige Zeit später war ich in Reggio Calabria und habe angesichts der Artischocken in den kleinen Lastwägen beschlossen, für immer in Italien und noch dazu im versifften Süden zu bleiben. Das Begehren ist immer geordneter geworden und ich besuche selbst den wöchentlichen Gemüsemarkt in unserem Ort selten, aber MM baut mit Sorgfalt Gemüse auf unseren 5000 Quadratmetern Erde an, was ich kaum zu würdigen weiß, wenn ich wie ein Mahnmal des Fleißes an meinem Arbeitstisch vor meinem Computer sitze und schreibe.

Kaum aber bin ich in der großen Stadt begehre ich sinnlos. Keine Artischocken, keine Saubohnen, sondern das alte wilde Leben, das ohnehin keiner mehr führt und das ich auf keine Weise wiederbekommen kann.

Ich habe einen Roman von Lily Brett gelesen mit dem sprechenden Titel: Lola Bensky. Am Ende ist Lola, die ehemalige Rock-Journalistin froh, dass Mick Jagger lebt und gut drauf ist, denn Janis Joplin, Jimi Hendrix, Jim Morrison und viele andere sind bereits verstorben. This is it: Seien wir froh, dass wir am Leben sind. Mit Artischocken und Saubohnen oder mit gatschigen Schuhen und Kinderspielzeug, was auch immer, möglicherweise nicht dem Mercedes, den Gott Janis Joplin hätte kaufen sollen und den er mir auch nicht kauft.

Dienstag, 9. April 2013

Relativitätstheorie

Die Lehrerin meiner großen Kinder mag eine gute Lehrerin sein, für meine Kinder und für mich ist sie gänzlich ungeeignet. Das ist mein Beitrag zu ihrer Theorie, Herr Einstein. Nichts hat nur eine Seite. Wie man weiß wird der Priester geweiht und meine Kinder mussten ein Gebet schreiben. Das hat schon einiges Kopfzerbrechen bei uns hervorgerufen und bevor irgendjemand einen Anfall bekommen musste, habe ich im Internet ein Gebet für die Arbeit gefunden, das ich meinen hilflos verwirrten Kindern als passend präsentieren konnte. Denn man wusste nicht, ob man selbst ein Gebet erfinden sollte, vielleicht ein Gedicht, wie ich eifrig mehrmals nachfragte, nein, kein Gedicht, ein Gebet, oder ob man es von irgendwo (dem Internet) abschreiben sollte. Da wir aber keine Spezialisten auf dem Gebiet der Gebete sind, musste das Internet herhalten. Aber das muss ohnehin für alles herhalten und ich frage mich mindestens 2x wöchentlich wozu diese ganzen voluminösen und teuren Schulbücher dienen, wenn wir ohnehin dauernd alles auf Wikipedia nachschauen müssen. Wir haben zusätzlich zu 300 Euro Schulbüchern noch ein Tablet kaufen müssen, damit die Kinder, nein, damit ich an meinem Computer bleiben darf, obwohl man über den Rhein und die Donau recherchieren muss. RE-CHER-CHIEREN. Inflationäres Wort, inflationäre Beschäftigung. Erster Eintrag auf Google, bitte, danke.
Na gut, und jetzt das Gebet. Aus dem Internet. Ein paar Tage später zieht der Fußballer aus seinem Rucksack ein halb zerknülltes Blatt Papier aus seinem Rucksack, das erstens aussieht, als hätte es eine Kuh in der Schnurre gehabt, um hier mal einen schweizer Ausdruck zu benutzen und zweitens eine Bordüre am Rand hat, wie das mit dem Gebet für den Don. Der Fußballer muss auch ein Gebet schreiben, die Lehrerin wäre sehr verärgert gewesen, da er sich so seiner Verantwortung entzogen habe. Nicht ein Gebet gemeinsam, wie sie mir weigemacht haben, nein, jeder eines! Nun liegt der Ärger ganz und gar bei mir. Als erstes entzündet er sich an der äußeren Form dieses Papiers. Der Fußballer behauptet, die Lehrerin hätte es ihm so gegeben. Oh nein, das hätte er nicht tun sollen. Mein Zorn schwingt elastisch zwischen einer so schlampigen Lehrerin und einem sich für so schlau haltenden Kind hin und her. Das Wort Gebet wird von mir in einen vulgären Zusammenhang gestellt, ebenso der Fußballer, der mich ärgert, weil er sich nicht gegen so infame Anschuldigungen wehrt. Oder stimmte es etwa nicht, dass sie zu zweit ein Gebet schreiben mussten. Ich äußere laut (sehr laut) meine Gedanken, sie in zwei verschiedene Klassen zu geben, innerlich brodelt sogar der Gedanke an eine andere Schule, aber ein Rest Vernunft bleibt in meinem vom Klassenbewusstsein gerüttelten Ego: bitte nicht, nur dorthin, wo der Schulbus fährt.
Im Auto, als ich die Knaben zum Fußball bringe, nachdem ich 2 x MM angerufen habe, danke, dass er mich anhört, erkläre ich den Kindern in aller Seelenruhe wie ich meine, dass der Glaube eine individuelle Sache sei und dass ich niemanden verbieten könne, ein Gebet zu verfassen, aber auch mich niemand zwingen könne, ein Gebet zu schreiben, wenn die Anrufung Gottes für mich doch nicht in Frage käme. Weit entfernt von meinem vorigen: Soll sie sich ihr geschissenes Gebet doch selber schreiben. Der Fußballer schließt die Augen. Nach zehn Minuten sagt er, ob ich eigentlich wisse, dass man grün sehe, wenn man nach längerer Zeit die Augen wider öffne. Ich sage, ich dachte, es handle sich um orange. Kann auch sein, sagt der Fußballer. Er steigt aus dem Auto und sagt: Entschuldige wegen vorhin. Und ich weiß er meint es ernst.

Am Abend schreibe ich in sein Schultagebuch: Obwohl sich unsere Familie jeder Religion gegenüber enthält, war es unser Wunsch, in Form eines Gebets unsere Glückwünsche für die Weihe zum Priester des Don, dem unsere ganze Wertschätzung gilt, auszudrücken. Meine beiden Kinder haben gemeinsam das Gebet für den Beginn einer Arbeit als passende Botschaft ausgewählt. Mit freundlichen Grüßen Dattilografa.
Ich befürchte, sie wird es einfach vergessen haben, denn morgen ist der Tag des Sports und meine Kinder werden Volleyball spielen, statt Gebete vorzutragen. Aber MM sagt, ich hätte die Dinge mit Eleganz klar gestellt. Dafür bin ich ihm dankbar. Falls sie den Subtext nicht versteht, kann ich ihn ihr bei Gelegenheit ins Gesicht schreien: Ein Gebet ist mehr als genug.

Samstag, 6. April 2013

Komm, Herr Jesus

Der Religionsprofessor meiner großen Kinder wird zum Priester geweiht. Eigentlich haben sie ja gar keinen Religionsprofessor, denn sie nehmen offiziell am Religionsunterricht nicht teil. Schon das zweite Jahr. Als Alternative habe ich beantragt, dass in der Religionsstunde Lehrpersonal mit meinen Kindern Aufgaben macht. Ich habe mir diese Alternative sehr gemütlich vorgestellt, vor allem für mich, die ich das dann nicht mehr zu Hause machen brauche. Aber es gibt dieses geschulte Personal nicht, das mit meinen Kindern lernen möchte. Also sind meine Kinder letztes Jahr in die Religionsstunde gegangen, die Lehrerin war sympathisch und hat einen guten Eindruck bei (nicht nur) meinen Kindern gemacht, da sie, wie sie erzählte, mit ihrem Sohn Wrestlingveranstaltungen besucht. Fast ging die Sympathie soweit, dass der Fußballer sich wieder in Religion einschreiben wollte, weil ihn die Lehrerin darum gebeten hatte. Zu einem Eklat kam es nicht, denn das Schuljahr ging zu Ende und das nächste Schuljahr begann und die Lehrerin war weg, dafür gab es den blutjungen Don, der jetzt Priester wird. Alles ging weiter wie vorher, ich legte meinen Kindern nahe, die Englischhausübung in der Religionsstunde zu machen, da sie doch in der Klasse bleiben. Mein volles Verständnis dafür, dass in einer Schule mit 150 Schülern für 2 nicht am Religionsunterricht teilnehmende Kinder keine Sonderregelung geschaffen wird.
Aber eines Tages, als der Fußballer krank war, hat der Don meinen großen Sohn in die Parallelklasse geschickt, denn der Don hatte kapiert, dass meine Kinder gar nicht legal im Religionsunterricht sind. Da meine Kinder es als geringeres Übel empfanden, im Religionsunterricht zu sitzen und sich Filme über Franz von Assisi anzuschauen, als in der Parallelklasse bereits die Englischprofessorin zu genießen, die sie in der nächsten Stunde ohnehin haben, pilgerte ich zum Don, um ihn zu bitten, meine Kinder zu beheimaten. Ich dachte, es werde sich um den Austausch höflicher Worte in der Dauer von 15-20 Sekunden handeln. Weit gefehlt. Der Don war ein harter Brocken, ich aber auch. Praxis sei, Kinder, die nicht am Religionsunterreicht teilnehmen, aus der Klasse zu schicken, denn offenbar sollen sie ja nicht hören, was da unterrichtet wird, sonst wären sie ja nicht ausgeschrieben. Da hat er nicht ganz unrecht, der Don, denke ich, während ich mich frage, ob er sich eigentlich schon rasieren muss oder ob das noch ein paar Jahre dauert. Ich sage, ich hätte kein Problem, wenn meine Kinder dem Religionsunterricht zuhören, aber ich wünsche nicht, dass sie eine Prüfung ablegen und ich möchte keine Note für Religion im Zeugnis sehen. Meine Stimme ist etwas gepresst, ich weiß. Aber ich habe es gut angelegt. Sowas hat er noch nie gehört, sagt er. Er ist echt verblüfft. Was ist denn dabei, eine Prüfung in Religion zu machen? Statt ihm an die Gurgel zu springen, wiederhole ich nur, dass ich das nicht will. Jetzt hat er eine gute Idee: Er findet das diskriminierend, dass er alle anderen prüft und meine Kinder nicht. Wenn mir die Kinder nicht so leid täten, wenn sie in die andere Klasse zur Englischprof müssen, hätte ich jetzt aufgegeben und zu schreien begonnen. Aber ich habe ein Ziel und ich lasse nicht locker. Die Frau Professor Klassenvorstand kommt hinzugeeilt, man sieht, dass das Gespräch nicht konfliktfrei ist. Ich ätze, dass ich ja das, was ich angkreuzt habe, nämlich die Alternative und bitte individuelle Betreuung durch Lehrer ja nicht bekomme, daher sei es am besten, die Kinder blieben einfach in ihrer Klasse. Die Frau Professor Klassenvorstand bittet den Don, im Sinne der Accoglienza, der Aufnahme (dieses Wort gebraucht man immer im Zusammenhang mit Flüchtlingen), meine Kinder nicht mehr aus der Klasse zu schicken und ihr Wille geschehe. Ich drücke dem Don die kalte kleine Hand. Er ist immer noch fassungslos.
Ein paar Wochen später, nach dem fulminanten Coming out meiner gottlosen Kinder als Sänger bei der Weihnachtsaufführung, begegne ich dem Don wieder. Da ich sehr aufgekratzt bin, begrüße ich ihn freundlich und auch er ist freundlich. Ich stelle ihm das Kind vor und sage, dass das Kind tanzt. Der Don wird regelrecht herzlich und sagt, er tanze auch so gerne, allerdings Gesellschaftstanz. Ich bin fast versucht, das Kind für nächstes Jahr, wenn es auch die Mittelschule besuchen wird, nicht aus dem Religionsunterricht auszuschreiben. Es könnte mit dem Don in der Religionsstunde tanzen. Aber das Kind will nicht in den Religionsunterricht und es ist ihm egal, wenn es dabei das einzige Kind ist.
Übrigens haben wir vor ein paar Tagen eine ehemalige Lehrerin vom Kind getroffen und nachdem wir ein wenig geplaudert haben, sagt sie: Ich hab da nur eine kleine Frage: Wieso macht er denn keine Erstkommunion? Meine Antwort auf die kleine Frage ist ebenso klein: Wir gehen nicht in die Kirche und es scheint uns nicht richtig, ihn an etwas teilnehmen zu lassen, an das wir nicht glauben. Und wenn sie jetzt noch was sagt, dann hole ich aus und das Wort "scheinheilig" wird das mindeste sein. Nein, sie sagt gar nichts mehr. Sie hätte gerne ihre kleine Frage zurückgeholt, wenn sie könnte, sagt ihr Gesichtsausdruck. Wir verabschieden uns rasch. Wir sind übrigens keine Zeugen Jehovas, hätte ich vielleicht zur Sicherheit dazusagen können.
Jetzt steigt der Don also als Priester ein und die Kinder sollen Gebete für ihn schreiben und gehen zu Veranstaltungen, die keiner von uns durchblickt, weil wir nicht eingeweiht sind. Ich denke, wenn wir ein bisschen scheinheiliger wären, wären wir vielleicht mehr eingebunden, in die Gemeinde. Und ich bin ein bisschen melancholisch deshalb. Wenn ich meine Kinder in den Katechismus schicken würde, hätten sie vielleicht auch mehr Freunde. Vielleicht hätten sie mehr Sicherheit, wenn sie einen Glauben hätten. Vielleicht wäre das Leben einfacher, wenn die Bibel uns sagen würde, wie wir leben sollen und nicht allein meine individuellen moralischen Grundsätze. Aber ich kann nicht, es tut mir so leid lieber Jesus, ich möchte das nicht, zu einer Religion gehören, die auf deinem Tod basiert, statt auf deiner Auferstehung. Dass du den Stein weggeschoben hast, war wirklich gut, wieso stehen denn in den Kirchen keine Steine herum, sondern sind Kreuze aufgehängt und an den Hälsen auch. Du kannst auch immer zu mir kommen und mein Gast sein, ich bin gar nicht so unfreundlich. Und du musst auch nicht segnen, was du uns bescheret hast.

Sonntag, 31. März 2013

Kulturelle Missverständnisse


Meine Schwiegermutter ist bekanntlich im Spital, bzw. einer Klinik und es geht ihr meiner Meinung nach extrem gut, sie geht bereits mit Krücken und uns auf die Nerven. Sicherlich leidet sie darunter, dass sie nicht bei sich daheim ist, wo sie viel kocht und Portionen für Hafenarbeiter austeilt. Also sammelt sie Reste ihres Essens, das ihr in der Klinik von sehr nettem Personal gebracht wird. Sie schickt den Kindern halbe Panini, die die Kinder nie zu Gesicht bekommen und der Hund mit Freude verspeist. Als sie letztens das Kind gefragt hat, wie ihm das Panino mit dem Kartoffelkuchen geschmeckt hat, schaute mich das Kind fragend an, so wie ich normalerweise das Kind anschaue, wenn ich die Nonna nicht verstehe und mir das Kind freundlicherweise ihren in barschem Ton gesprochenen Dialekt auf italienisch übersetzt. "Oh das! Das hat mein Mann, dein lieber Sohn bereits auf der Fahrt nach Hause gegessen." Hm, lieber einen gefrässigen Mann vorgeben als zugeben, dass ich ihre einzig verfügbaren Gaben dem Hund verfütterere. Ein Spruch aus meiner Kindheit fällt mir im Zusammenhang mit meiner Schwiegerfamilie häufig ein: "Wie man es macht, man macht es falsch." Denn wenn meine Schwiegermutter versucht, das Kind mit Lasgane zu füttern und das Kind dankend ablehnt, wird die Nonna böse und wenn das ein paar Mal passiert, schaut sie mich empört an und droht dem Kind, dass es sie nicht mehr besuchen darf. Da zuckt das Kind mit den Achseln. Was soll es denn tun, es ist ohnehin nur hier, weil ich seine Bitten, nicht mitkommen zu müssen, nicht erhört habe.

Als meine Schwiegermutter noch im richtigen Spital war, in das man sich seine Familie zum Schutz mitnehmen muss, hat die Haushälterin meiner Schwägerin eine Nacht bei meiner Schiwegermutter verbracht, um meine Schwägerin (auch Madre Teresa des Mittelstands gennnt) zu entlasten. Danach hat meine Schwiegermutter, zwar unter großen Schmerzen, aber doch, erzählt, was alles die Haushälterin (eine aus Rumänien stammende Frau) vom Essen meiner Schwiegermutter verputzt hat. Einige halbe Gerichte, die für meine Schwiegermutter zu viel waren, waren dabei, plus ein ganzer Apfel. Für Außenstsehende klang es so, als hätte diese Frau eine Nacht neben meiner Schwiegermutter verbracht, um anschließend gierig deren Mittagessen zu verschlingen. Da ich aber meine Schwiegermutter kenne, weiß ich, dass sie, wenn auch mit letzter Kraft diese Frau genötigt hat, alles zu essen, was sie selbst nicht schaffte. Und ich wage zu behaupten, dass die Haushälterin eine erzogene Frau ist, die, um meine Schwiegermutter nicht zu beleidigen, oder vielleicht auch, weil sie Angst vor ihr hatte, nichts ablehnte, sondern höflich das übriggelassene Essen verspeiste.

Aber angesichts immer größer werdender kultureller Mißverständnisse, die, wie ich meine, auch innerhalb der eigenen Ursprungskultur passieren, kann man ganz unbeschwert leben, wenn man das tut, was man meint tun zu müssen, denn falsch ist es in jedem Fall.

Dienstag, 26. März 2013

Ein Beispiel

Wie viele alte Damen lässt sich meine Schwiegermutter eine Prothese am Knie machen, natürlich im letzten möglichen Moment, denn wie viele alte Damen glaubt sie an die wundersame Heilung abgenutzter Knochen und der häufige Besuch der Kirche ist alles in allem angenehmer als die Via crucis, sich in ein Spitalsbett zu begeben. Obwohl man dort exzellent leiden kann, was meine Schwiegrmutter mit einem Rosenkranz in der Hand in diesen Tagen tut.

Aber als ob physisches Leiden in der Karwoche nicht genug Geißelung wäre, macht man meine Schwiegermutter auch noch psychologisch fertig. Nach einer Woche im normalen Spital, hat Dr. Soundso vorgesehen, sie in seiner Klinik zu beherbergen, in der Physiotherapie vorgesehen ist.

Das normale Spital in Süditalien ist ja eine Einrichtung, deren Funktionieren ich nie verstehen werde. Dort gibt es viele Krankenpfleger und dennoch ist es üblich, wenn nicht sogar (moralische) Pflicht, dass ein Familienmitglied beim Kranken Wache hält. Rund um die Uhr. Sollte dies aus irgendwelchen Gründen nicht möglich sein, wird eine Person dafür engagiert. Meine Nachbarin verdient auf diese Weise ihr Geld und eine Nacht in einem Stuhl neben einer bettlägrigen Person ist den Familien viel wert. Meine Schwägerin hat diese Aufgabe meiner Schwiegermutter gegenüber übernommen und zu ihrem Glück oder als Erfüllung ihrer frommen Gebete, war das zweite Bett neben meiner Schwiegermutter frei und so konnte sie ihre Nächte schlafend verbringen. Die Ansicht meiner Schwiegermutter, sie müsse vor Schmerzen sterben, hat die Aufgabe meiner Schwägerin sicher nicht erleichtert und daher darf ich mich nicht lustig machen, obwohl ich dazu große Lust hätte.

So, und dann sollen die Papiere für die Überweisung in die schöne Klinik von Dr. Soundso ausgefüllt werden und es beginnt, was meine Schwiegermutter als "Oioioi una giornata nera, nera e io a piangere!" bezeichnet. Ein schwarzer Tag, an dem sie geweint hat. Denn die Überweisung, die Dr. Soundso für seine Klinik braucht (auf dass er dann das Geld, das meine Schwiegermutter dort für ihre Rehabilitationskur bezahlen sollte, von der Region Italiens, in der wir leben, zurückerstattet bekommen kann, denn klarerweise zahlt meine Schwiegermutter als fast 80 jährige Dame nichts für ihre Spitalskosten, immerhin.), muss bestätigen, dass meine Schwiegermutter nun eine Knieprothese in ihrem Bein hat, die der Rüstung von Iron Man alle Ehre machen würde. Da diese Prothese wirklich existiert und wirklich in meiner Schwiegermutter steckt, was mittels eines Röntgenbilds leicht zu beweisen wäre, kann es keine schwierige Aufgabe zu sein, eine derartige Bestätigung auszustellen. Aber diese Bestätigung wird nicht ausgestellt und obwohl ich mehrere Stunden gebraucht habe, um zu verstehen, warum, kann ich es nun ganz klar weitergeben: die Region Italiens, in der wir leben, hat den Spitälern verboten, diese Bestätigungen auszustellen, denn dann können die Menschen mit frisch eingesetzten Prothesen nicht in teure Kliniken zur Physiotherapie gehen und dann muss die Region keine hohen Kosten übernehmen.

Zum Unglück meiner Schwiegermutter wurde dies den Spitälern am Tag ihrer Operation mitgeteilt und so weigerte sich der Assistent des Arztes, der sie operiert hatte, das Formular wahrheitsgetreu auszufüllen, da er eine Buße von seiten der Region erwartete. Alternative für die Patienten war keine angedacht. Sicherlich kann auch der Rechtsweg begangen werden, aber ich nehme an, dass meine Schwiegermutter in zehn Jahren mit einem steifen Bein keine Physiotherapie mehr machen will oder kann. Also hat meine Schwägerin sich über ihr "MadreTeresa" T-Shirt einen Superwoman Umhang gelegt und hat am Tag nach dem schwarzen Tag die Ärzte bestürmt. Meine Schwiegermutter vermutet zwar, dass der Arzt, der die Überweisung machen sollte, bestochen werden wollte, aber falls dem so gewesen wäre, ist es nicht passiert. Wie genau meine Schwägerin vorgegangen ist, wird sie uns sicher gerne genauer erzählen, für den Moment wissen wir nur, dass der Arzt, den sie dann nach einem Vormittag breitgeschlagen hatte, erstens der Mann einer Arbeitskollegin von ihr war, und zweitens von ihrem Mann, einem praktischen Arzt, durch Beiziehung der halben Ärzteinnung  der Provinz und darüberhinaus, in physischer oder geistiger Form, überzeugt wurde, dieses Verbrechen gegen die Anweisung der Region zu begehen. Die Buße wird meine Schwägerin zahlen, so hat sie es versprochen. Der Akt der Befreiung meiner Schwiegermutter war von vielen "Oioioiois", Flüchen und Gebeten begleitet und einigen Haaren, die meine Schwiegermutter verloren hat, als sie sich das Haar raufte, wie sie es uns in ihrem wunderbaren Bett in der friedlichen Klinik mit Blick auf alte Pinienbäume, die im Wind rauschen, demonstriert. Im letzten Moment sei sie mit dem Krankenwagen in der Klinik angekommen, wo alle zusammengelaufen wären, um zu sehen, ob sie es wirklich und leibhaftig wäre.

Und so überleben die Italiener, obwohl sie nicht aufhören, sich Regierungen wählen, die sie ausbeuten und auf die Schlachtbank führen. Sie machen sich selbst zu den Stars in ihren persönlichen Seifenopern.

Montag, 18. Februar 2013

Was ist eine Muse?

Letztens habe ich (in einem tweet wohlgemerkt) gelesen, dass eine Frau (oder ein Mann) schreibt, weil alles, was er/sie schreibt, ein Liebesbrief an die Frau/den Mann ist (also an ein Dich ist), er/sie nie zu schreiben aufhören würde. Das gibt mir zu denken. Ganz viel. Das mit dem Liebesbrief gefällt mir gut und dass dieser nicht endet, noch viel mehr. Aber in diesem Fall handelt es sich, glaub ich, um ein Paar und das finde ich doch sehr seltsam. Kann man wirklich miteinander leben und sich derart inspirierend finden, dass man permanent am ultimativen Liebesbrief herumzukritzelt? Für mich wäre das nichts.

Nein, das mit der Muse funktioniert glaub ich anders. Ich denke, dass die Muse nicht die Lebenspartnerin ist und vielleicht nicht einmal einen echten erotischen Background hat. Die Muse inspiriert, wie beim Verliebtsein, zu sagen: Schau! Schau! Inspiriert dazu, das, was einen umgibt, mit neuen Augen zu sehen und es beschreiben zu wollen. Abbilden zu wollen. Der Wunsch nach Erotik wird durch den künstlerischen Akt sublimiert. Nehm ich an, denn wirklich studiert hab ich das ja nicht. Und die Muse lässt einen etwas tun, sie verlangt nicht und sie bewertet nicht, sonst wäre sie Auftraggeberin oder Kritikerin. Sie ist keine Freundin, sie ist absichtslos. Und sie will nichts für sich selbst. Deshalb weiß man so wenig über die Musen von Frauen, denn das wären ja in den meisten Fällen Männer und wer kennt schon absichtslose Männer, die nichts für sich selbst wollen?

Wir, ja, wir, meine großen Söhne und ich, haben ein Sonett von Dante auswendig gelernt, in dem es um die engelsgleiche Beatrice geht. Und die Beatrice war ja nicht Dantes Lebens- und Bettgefährtin sondern eben das untadelige Wesen, das ihm, dem Dante, so viele Worte verlieh. Da Beatrice im Alter von 24 Jahren verstorben ist, musste sie das unschuldig Inspirierende auch nicht mit Anstrengung verteidigen.

Es geht also darum, ein Auge auf einen Menschen zu werfen, der einem die Illusion gibt, dass das, was man macht, wichtig ist. Plötzlich hört man sich selbst schreien: We want it all and we want it now! Oh wie peinlich. Aber da steht die Muse und lächelt. Sie wendet sich ab und schwebt davon. Ihr nach!
Man wirft ein Auge auf einen Menschen, der einen antreibt. Und wehe, wenn der/die Muse dann nicht herschaut. Dann wühlt man eben noch mehr im Schlamm herum.

Natürlich hat es doch mit Erotik zu tun, aber es ist noch mehr, und vor allem endet es nicht mit der Erotik, sonst könnte man eine gefinkelte Verführung ausdenken. Doch der Ansporn, den die Muse gibt, geht über das Seufzen - endlich, endlich spüren - weit hinaus: Ich will es in deinen Körper ritzen.

Reden wir also nicht von Liebesbriefen.

Besonders gut als Musen eignen sich Menschen, die weit entfernt sind. Die man nicht unterstützen muss. Man möchte aureichend wenig von ihnen wissen, denn man möchte ihnen ja alles von sich selbst ins Gesicht klatschen. Und wenig wissen, heißt viel Spielraum in der Interpretation. Und gleichzeitig möchte man sich doch verstanden fühlen. Ein bisschen leiden sollte der andere (die Muse), sonst wäre er ja nicht sensibel genug, zu lechzen, zu verstehen und nicht erschrocken zu sein, wenn man ihm das Messer ansetzt.

Während dieses Nachdenkens, während dieses Hechelns habe ich geträumt, dass ich mit dem Schriftsteller im Bett lag. Der Schriftsteller schlief und schlief. Er wachte auch nicht auf, als ein junger Mann die Bühne (also dieses Bett) betrat und mir einen mit Aceton benetzten Finger auf die Lippen legte. Sogar in diesem angestrengten Traum wusste ich, dass man mit Aceton Nagellack entfernt, und dass es nun auf meinen Lippen brennen würde. Der junge Mann sagte: Damit du dich daran gewöhnst.
Wenn der junge Mann die Muse war, dann danke, lieber nicht.
Ich fand den gar nicht attraktiv, den jungen Mann. Ich glaube, ich habe ihn letztens in einem Video auf you tube gesehen. Warum kann ich nicht von einem gut erhaltenen Neil Young träumen?
Wieso ist der Schriftsteller bei diesem Tohuwabohu nicht aufgewacht?
Und ja: Es brennt auf den Lippen.

Donnerstag, 14. Februar 2013

Atmen ist schön

und es geht ganz leicht.
Man vergisst es nur dauernd.
Genug geschlafen zu haben ist auch hilfreich. Letztens ist es mir gelungen, mich wohl zu fühlen. Obwohl die Professorin gesagt hat, meine Kinder sollen zu einer Psychologin gehen, weil sie eben keinen Satz analysieren können und weil sie an ihrem Unterricht nicht interessiert sind. Und obwohl mir der Inhalt des Urintests meines großen Sohnes, der in einer Fußballmannschaft spielen will, über die Finger gelaufen ist. Das war alles schrecklich. Sehr schrecklich. Und ich bin dagestanden (nachdem ich mir die Hände gewaschen hatte und nachdem ich einen Kaffee getrunken und ein Cornetto Crema Amarena gegessen hatte) und obwohl das alles so schrecklich war, habe ich mich wohl gefühlt. Ich nahm an, dass es daran lag, dass ich genug geschlafen hatte. Denn das ist mein Plan: 8 Stunden täglich zu schlafen. Vielleicht lag es einfach am Kaffee und am Cornetto. Oder daran, dass ich mir die Hände gewaschen hatte?
Ich werde es weiter probieren. Das mit den 8 Stunden gelingt mir nur selten. Das mit dem Kaffee und dem Cornetto noch weniger. Mir die Hände zu waschen, sollte ich im Auge behalten, für den Notfall.
Aber das mit dem Atmen ist immer wieder eine Überraschung.
Ich hab das nicht erfunden. Meine gebildete Freundin hat es mir schon oft gesagt, aber jetzt möchte ich es in die Welt hinausschreien: Atmet, Leute, atmet.

Mit der Psychologin habe ich telefoniert. Sie hat zwar nicht gerade gelacht, aber fast. Dann hat die Professorin ihre Anfrage zurückgezogen. Wenn ich mit ihr spreche, weicht sie immer sehr weit zurück. Ich weiß, dass sie einen schlechten Atem hat, vielleicht weiß sie das auch oder auch ich habe einen schlechten Atem. Das wird mich sicher nicht daran hindern, weiter zu atmen. Im Gegenteil.

Und den Urin hat der Sohn nochmal abgegeben. Diesmal hat er den Becher sehr gut zugeschraubt. War auch nicht so schwer.

Also alles zusammen: atmen, schlafen, Kaffee trinken, Hände waschen, Cornetto essen (nach Möglichkeit Crema Amarena), mit gescheiten Menschen telefonieren und Becher gut verschrauben, vor allem wenn Urin drin ist. In zweiter Linie: arbeiten, lesen, schreiben. Aber nicht auf facebook.

Mittwoch, 30. Januar 2013

Un vero disastro

Keine Angst, das ist nur die Bewertung des Grammatiktests meiner großen Söhne. Ein echtes Desaster.

Da wollte die Lehrerin wohl das sein, was man auf italienisch "spiritoso" nennt. Ironisch? Geistreich?

Manchmal muss ich an eine Episode denken, die aus der Zeit stammt, als ich eine junge Studentin am Institut der Theaterwissenschaft war und in einem Seminar über eine Theorie berichtete, die meiner Meinung nach eine gewisse Gefahr in sich barg. "Kollegin", sagte der Seminarleiter (und ich denke, das beste, was einem an der Universität passieren kann, ist, Kollegin genannt zu werden). "Kollegin, gefährlich ist, wenn das Dach jetzt über uns einstürzt, aber diese Theorie kann nicht gefährlich sein." Ich habe ihn gehasst, den Seminarleiter, denn ich war ungefähr 19 Jahre alt, und es war wirklich ziemlich viel gefährlich rund um mich. In den vielen Jahren, die seitdem vergangen sind, habe ich in regelmäßigen Abständen an dieses Ereignis denken müssen und durch den Grammatiktest meiner Kinder kam es zur Katharsis.

Und ich habe es geschafft, ganz gegen mein dringendes Bedürfnis, mich total und unaufhaltsam aufzuregen, beim Abendessen einfach zu sagen: "Kinder, was eure Lehrerin da meint, scheint mir ein bisschen übertrieben. Wenn unser Hügel im Meer versinkt, dann ist es ein Desaster. Wenn unser Garten auf das Haus unseres Nachbarn Vincenzo rutscht, dann ist es ein Desaster. Wenn ihr nicht imstande seid, einen Satz zu analysieren, dann ist das zwar ein Problem, aber ein Desaster ist es nicht." Meine Kinder sind überrascht und verwirrt.

Selbst MM ist überrascht und verwirrt.

Am nächsten Tag frage ich die Kinder, ob die Lehrerin jetzt ihre Drohung wahr gemacht hat und mich in die Schule bestellt hat, aber sie sagen "Nein, sie hat nur gesagt, wenn wir uns nicht mehr anstrengen, wird sie uns nicht mehr beachten." Ich sage: "Da hat sie wohl die falschen Worte gewählt, denn das wäre euch ja mehr als nur recht, wenn sie euch nicht beachten würde. " Meine Kinder grinsen belustigt. "Sie meinte aber, wenn ihr euch nicht mehr anstrengt, werdet ihr sitzen bleiben. Das wollte sie sagen." Meine Kinder sind nicht mehr belustigt. Wenn schon schwarze Pädagogik, dann aber richtig. Wenn schon schlechte Noten, dann schlechte Noten, aber keine witzigen Ausdrücke. Danke.

Montag, 28. Januar 2013

Musik

"Music was my first love, and it could be my last", sang Barry Manilow, als er noch (gemeinsam mit Rod Stewart) der einzige Mann in meinem Leben war. Das war auch ungefähr die Zeit, als ich in mein Tagebuch schrieb: "Solange es Wein und Musik gibt, werde ich mir nicht das Leben nehmen." Und so ist es auch viele Jahre später, trotz Wirtschaftskrise.

Wobei sich das mit der Musik natürlich verändert hat. Über den orangen Philips-Plattenspieler versus you tube brauchen wir hier nicht zu reden, kommen wir lieber gleich zur Sache und das ist die mit der Mittelschule mit dem musikalischen Schwerpunkt, man erinnert sich tralalalala, die Söhne spielen Schlagzeug und singen und es gibt ein Orchester und eine königliche Musiklehrerin. Jetzt muss ich auch das Kind in diese Schule einschreiben und das Kind soll ein Instrument auswählen. Das Kind ist, auch das weiß man, ein wahrer Nonkonformist und geht nicht Fußball spielen sondern in klassischen Tanz. Das Kind kündigt bereits vor der Vorstellung der Instrumente an, dass es gedenkt, Harfe zu lernen. HARFE? Nein, das Kind hat nur einen Scherz gemacht. Sagt es.

Ich gehe  mit dem Kind zur Präsentation der Instrumente und wo etwa 50 Kinder mit glänzenden Augen einer Vorstellung von 8 Musikinstrumenten folgen sollen, sitzen etwa 12 Kinder, dafür kommen mir gleich mehrmals die Tränen. Da gibt es Querflöte, Harfe, Klavier, Oboe, Klarinette, Trompete, Percussion und Geige. Die Lehrer stellen sich vor und ein oder mehrere Schüler geben etwas zum Besten. Die Instrumente werden auch für die nächsten drei Jahre ausgeliehen. Meine Freundinnen in der großen Stadt bekommen große Augen, ich weiß. Meine Freundinnen in der mittelgroßen Gemeinde in Kalabrien sind leicht genervt. Was? Auch noch ein Instrument? Eine Mutter der fünf Kinder aus der Klasse meines Kindes sagt, ihr Sohn sei nur gekommen, um die Instrumente zu sehen, er werde sicher keines spielen, er ginge ja ohnehin schon Fußballspielen. Andere Mütter bringen ihre Kinder nicht, denn wenn diese auch ein Instrument erlernen werden, dann muss ihnen das bitte nicht vorgestellt werden. Man weiß doch, was das ist, oder?

Ich musste hingehen, damit mein Kind sieht, dass es genauso gut Oboe lernen könnte, auch Geige ist nicht schwach, aber das Kind, zwar elektrisiert von der gesamten Darbietung, bleibt bei seiner Entscheidung: es wird Harfe lernen. Da hilft auch nichts, dass der  Dirigent, der Freund der Königin, auftritt und sich herausstellt, dass er nicht nur dirigiert, sondern auch Trompete unterrichtet und der Chef der Blasmusikkappelle des Orts ist. Ich denke zwar, dass ich vielleicht Trompete statt Organetto lernen sollte und das Kind ist auch sehr erfreut, dass die beiden Schüler nun "When the saints go marchin' in" blasen, aber das hält ihn nicht davon ab, nach der Darbietung zu sagen: "Ich habe nur eine Frage: können auch Männer Harfe spielen, oder ist das nur was für Frauen." In diesem Moment kommt der Dirigent auf uns zu und ich frage mich erstens, ob er sich an unser aufregendes Erlebnis im Theater erinnert und zweitens, ob ich aus Gründen des allgemeinen Wohlbefindens mich jetzt blitzschnell in den Dirigenten verlieben soll, und da ist er schon in meinem olfaktorischen Bereich und NEIN, das habe ich in der Frischluft vor dem Theater nicht ahnen können: er ist Zigarrenraucher. Er fragt, ob er was für uns tun kann. Danke, aber mein Sohn will Harfe lernen.

Ich mache das Kind mit der Harfelehrerin bekannt. Und das ist Liebe. Ja, es gibt noch einen anderen kleinen Jüngling, der Harfe lernt. Das Kind ist beruhigt. Lehrerin und Kind planen bereits, wie sie mit der Harfe lateinamerikanische Rhythmen zupfen werden. Der Percussionlehrer ist noch dazu der Mann der schönen peruanischen Harfenfrau und im lateinamerikanischen musikalischen Gehirn werden rhythmische Familien-Happenings ausgesponnen.

Ich will heim zu meinem Kassettenrecorder und Barry Manilow. Und ich gestehe: es gab mehr als Barry und Rod. Da waren auch die Bay City Rollers...Ihnen ist es zu verdanken, dass ich auch heute noch davon besessen bin, dauernd einen Rock'n'Roll Love Letter schreiben zu wollen. Das kann ich dann tun, wenn nächstes Jahr gezupft und getrommelt wird.

Freitag, 25. Januar 2013

Eine Königin

Back with Brecht. Bert Brecht will reisen. Das ist die Vergnügung des Brechts, nicht das Tanzen. Eislaufen ist übrigens auch nicht schlecht, aber da tun wir uns schwer in unserem mediterranen Klima. Ich wollte jedoch etwas zum Thema Singen schreiben. Vor der denkwürdigen Aufführung des Weihnachtslieds von Charles Dickens kam es zu einem interessanten Eklat. Am Freitag abend vor der Aufführung, die am Dienstag abend stattfinden sollte, kamen die Jungs glücklich aus der Probe und verkündeten, dass sie auch morgen, Samstag, zur Probe müssten. Ich sagte alarmiert: aber da ist doch Matheschularbeit! Ja, aber. Die Musiklehrer hätten die Eltern gefragt. Bestätigt MM. Mir ist das mehr als nur recht, ich bin eh kein Fan von Matheschularbeiten. Am nächsten Morgen bringe ich meine Kinder zur Probe ins Theater, denn unser 10000 Einwohner-Ort verfügt über ein recht schmuckes Theater, das sich in seinem Ortskern auf einem Hügel befindet. Außerdem gibt es einen Teil, der sich Marina nennt und wo sich auch die Schule befindet und darüberhinaus mehr als zwanzig weitere Ortsteile, eben einer davon unserer, auf einem anderen Hügel. Auf dem Land, wie man hier sagt, in campagna.
Nach dem Theater fahre ich auf den Markt, um Schuhe für meinen großen Sohn umzutauschen, natürlich für die Aufführung und ein Kinderbuch zu kaufen, nicht für die Aufführung. In der Buchhandlung (für Notfälle- ein Raum im Papier- und Zeitungsladen) begegne ich der Elternvertreterin der Klasse meiner großen Kinder. Sowieso ein Reizthema für mich, die Elternvertreterin. Sie stört mich beim Aussuchen des Kinderbuchs: sie hätte ihre Tochter in die Schule gebracht, denn das wäre ja sehr seltsam, diese Probe sei nie angesagt und die Matheprof eh immer dagegen gewesen und blablabla. Fakt ist: fünf Kinder sind in der Schule, die anderen bei der Probe, die Matheprof wird demnächst eine Pumpgun hervorholen und hat die erste Mutter zur Sau gemacht, die unsicher mit ihrer Tochter die Schule betreten hat. (Selber schuld, die Mutter, im Theater wär ihr das nicht passiert.) Ganz gegen mein Naturell bleibe ich ruhig und sage: Eigentlich interessiert mich das nicht, das sollen sich die Profs untereinander ausmachen. (Hab ich wirklich gesagt. Naja, vielleicht war ich auch ein bisschen lauter und habe es so gesagt: Das hab ich mir eh gleich gedacht, dass es so enden wird, aber ich habe angenommen, dass sich das die Profs untereinander ausmachen). Die Elternvertreterin beginnt, die Kinder anzuschwärzen, sie hätten sich sms geschickt, um ihre Absenz auszuhecken. Das stimmt nicht, sage ich. Die Elternvertreterin bezeichnet die Aufführung als "Recitella", eine kleine Mucki-Butzi-Aufführung. Jetzt schweige ich so laut, dass der Geschäftsinhaber nachschauen kommt, was die beiden Signoras da herumkreischen. Die Elternvertreterin geht, aber nur kurz, sie steht schon wieder mit dem Mobiltelefon am Ohr, als ich den Laden verlassen möchte und dabei vergesse ich, die Fineliner zu kaufen, die in den Adventkalender gehört hätten, was mich noch tagelang ärgern wird. Jetzt hat also die Matheprof die Elternvertreterin angerufen und ihr aufgetragen, sie solle organisieren, dass alle Eltern ihre Kinder in die Schule bringen, weil sie jetzt nämlich ihre Schularbeit abhalten wird. Der Orchesterdirketor weigert sich nämich, diesen Transport zu übernehmen, weil er erstens mit einem Auto ungefähr fünf Mal fahren müsste und außerdem hätten die Eltern ihre Kinder ins Theater gebracht und nicht in die Schule und es sei ein wenig komisch, die Kinder dann dorthin zu bringen, wo ihre Eltern sie offensichtlich nicht hinbringen wollten. Die Elternvertreterin ist verzweifelt. Auf ihren Fingernägeln bröckelt der Nagellack, als sie zittrig immer wieder Nummern in ihr Mobiltelefon eintippt. "Ich hab doch nicht alle Nummern!" stößt sie hervor. Ich erspare es ihr und mir, jetzt zu sagen: "Wer soll sie haben, wenn nicht du, Elternvertreterin!" (Meine Freundin, der ich diese Story bereits erzählt habe, meinte einlenkend, die Elternvertreterin würde vielleicht sonst alles über e-mail machen. Nein, so ist es nicht. Sie macht gar nichts. Eventuell informiert sie ihre Freundinnen von Beschlüssen, die in den Sitzungen, denen sie beiwohnt, getroffen werden). Ich seufze und sage, ich geh jetzt meine Kinder holen und ich nehm auch noch andere mit, so viel halt ins Auto passen. "Tu das nicht!" ruft sie mir nach. "Wenn was passiert, bist du schuld!" Jetzt bin ich auch noch terrorisiert von dem Gedanken, dass ich einen Unfall habe, wenn ich zehn Minuten mit dem Auto fahre. Ich spüre eine innere Kälte in mir aufsteigen.

Im Theater gehe ich auf die blonde Prof zu, die gesagt hat, dass auch Kinder eingebunden werden sollen, die nicht immer in der ersten Reihe stehen. Ich sage: "Professoressa, c'è un casino." Was soviel bedeutet wie: Frau Professor, das ist ein Chaos." Ja, sagt die Professoressa und schaut mich sorgenvoll an. Sie meint, ein wenig Gemeinsinn wäre auch bei der Matheprof angenommen worden. Sei aber ein Irrtum gewesen. Der Direktor des Orchesters telefoniert wild herum. Ich auch. MM sagt, wir sollen uns da nicht in einen Krieg ziehen lassen. Mittlerweile stehen wir außerhalb des Theaters, das extra aufgesperrt wurde und in dem das Orchester sitzt und wartet. Der Orchesterdirektor hat jetzt die Matheprof dran. Er sagt, dass wenn die Kinder jetzt in die Schule gebracht werden würden, bestehe die Gefahr, dass sie weder die Probe, noch die Matheschularbeit machen könnten. Zum Glück sagt er nicht: Hier steht eine Mutter, die den ganzen Vormittag Chauffeur spielen möchte. Im übrigen die einzige Mutter. Wie haben die anderen das denn gecheckt? Die sind vielleicht nicht der Elternsprecherin begegnet. Der Orchesterdirektor, auf Deutsch heißt das Dirigent, entfernt sich ein bisschen von uns. Aus ihren wunderbar blauen Augen, deren Wimpern sehr schwarz getuscht sind, schaut ihm die Musikprof nach, immer noch extrem besorgt. Sie schüttelt den Kopf und sagt einen Satz, in dem das Wort "Regina", also Königin vorkommt. Komischerweise denke ich, sie meint, es brauche nun Queen Elizabeth, so wie manchmal nach einem Führer gerufen wird und frage neugierig nach, was sie da gesagt hat. "Manchmal fühl ich mich wie eine Königin." sagt sie, mit dem Blick verloren zwischen Himmel und dem unter uns liegenden Meer. Ich schaue sie verblüfft an. Sie erwidert meinen Blick. "Ich stehe über diesen Dingen, ich hab diesen Stress nicht, deshalb fühl ich mich wie eine Königin." Und dann beginnt sie viel zu reden. Dass Musik halt immer unterbewertet ist, und dass in der ersten Klasse die Kinder nicht im Chor der Aufführung singen wollten und als sie fragte, weshalb, meinte ein Kind, seine Mutter wolle, dass es Schule mache. "Und ich?" hätte die Matheprof gefragt: "Bin ich ein Clown?" Sie erzählt, dass sie mit einem stotternden Kind gearbeitet habe, das nicht stottern musste, wenn es sang. Ob das Kind jetzt immer singen müsse, wurde sie dann gefragt. Über diese Geschichte habe ich in diesen Wochen viel nachgedacht.
Und deshalb bin ich froh, dass der Bert Brecht auch singen wollte.
Der Dirigent löst das Dilemma Probe versus Matheschularbeit, er sagt, die Matheprof hätte jetzt eingesehen, dass die Probe an erster Stelle stehen würde. Ich beruhige damit zwanzig ängstlich schauende Kinder. (Im Übrigen hat sie die Schularbeit dann mit fünf Kindern gemacht, die anderen machen sie nicht. Was das bedeutet, will ich nicht nachfragen, ich fühle mich nicht berufen.) Der Dirigent und die Königin gehen ein wenig zur Seite und diskutieren laut. Es geht um Respekt. Ich fahre nach Hause.

Nach der gelungenen Aufführung steht die Königin auf der Bühne und weint fast. Und ich würde gerne eine Singstunde nehmen. Die Singlehrerin in meiner Volksschule hat nämlich gesagt, ich kann nicht singen. Die Idee, dass es ihre Aufgabe sei, mir das beizubringen, ist ihr nicht gekommen. Also bin ich so alt geworden und habe immer gewusst, dass ich nicht singen kann. Manchmal habe ich das als Waffe eingesetzt, ungefähr so wie stinkende Socken.

Aber jetzt kenne ich eine richtige Königin und werde reisen (oder lesen oder tanzen), singen und freundlich sein.

Mittwoch, 2. Januar 2013

2013 mit Bert Brecht

In den letzten Wochen und dann nur mehr Tagen hab ich wieder einmal die Welt nicht verstanden. Nicht nur, dass man alles unter Dach und Fach für ein Weihnachtsfest haben soll, soll man auch einen ruhigen Advent verbringen. Schon mal eine Quadratur des Kreises, wenn man bedenkt, dass alle in diesen letzten Tagen vor Weihnachten noch ihre lang vorbereiteten (und auch nicht im Sommer begonnenen) künstlerisch wertvollen Aufführungen machen und im geringsten Fall einfach in der Schule singen (damit das Gesù Bambino geboren werden kann, wie die Italienischlehrerin des Kindes es leicht geschwächt ausdrückte). Die Charles Dickens Aufführung der großen Kinder war ein wirklicher ungeschmeichelter Erfolg und der Erfolg der Kinder als Sänger und Darsteller und vor allem als Mädchenhelden ganz real. Meine Beanspruchung davor auch. Dazu sagt man Stress, heutzutage.
Das wirklich Unerbittliche aber ist, dass man, ist Weihnachten einmal vorbei, nicht einmal Luft holen kann und schon muss man Blei gießen, um das nächste Jahr positiv zu interpretieren. Den Programmpunkt mit dem Blei haben wir diesmal ausgelassen und den mit dem Sekt auch. Wir haben schlaftrunken ein Feuerwerk aus dem Zug aus gesehen, in der angeblich sehr hübschen Stadt Villach, im österreichischen Bundesland Kärnten. Ich betone das, weil meine Kinder nach dem Weihnachtsferien eine Prüfung in Geografie zum Thema Österreich ablegen müssen und ich betone nun alles, was mit Österreich zu tun hat.
Der Betrug an diesem Jahresende und nicht nur diesem ist, dass unter dem lauten Plopp der Sektkorken und dem beruhigenden Geglitzer der Christbaumkugeln untergeht, dass in meinem Postkasten alle Jahresabrechnungen liegen, die ausgeglichen werden sollen und kaum jemand will mir dabei einen Überschuss auszahlen und nächste Woche alle Mitgliedsbeiträge beglichen werden sollen, die sich auf das neue Jahr beziehen. Diese beiden Monate sind mit Abstand die teuersten im ganzen Jahr. Heute Nacht habe ich schon sehr kindisch davon geträumt, dass Beamte des italienischen Fernsehens Rai hier in unserer ländlichen Gegend Fernsehkonsumenten suchten, die noch nicht den Mitgliedsbeitrag bezahlten. Peinlicherweise habe ich ihnen im Traum gleich gesagt, dass ich zahle, wahrscheinlich wollte ich verhindern, dass sie in mein ungeputztes Haus kommen.
Und in dieser kurzen Zeit, die mir im Monat Dezember zum Denken geblieben ist, habe ich es weder geschafft, das letzte Jahr Revue passieren zu lassen und meine Schlüsse daraus zu ziehen, noch das neue Jahr zu planen und wenn schon nicht gute Vorsätze zu machen, dann doch immerhin mir das eine oder andere Ziel zu setzen. Derer gäbe es ja viele, man müsste sie nur in den richtigen Rahmen stellen.

Ein Ziel ist jedoch gewiss und dazu braucht es kein neues Jahr: ich will mehr schlafen, denn ich krieche, wie man bei mir zu Hause, also in dem Viertel, in dem ich aufgewachsen bin, sagt: am Zahnfleisch daher. Meine Mutter verwendet solche Ausdrücke nicht, dabei sind sie sehr bildlich. Ich bin also sehr müde und manchmal weiß ich nicht mehr was ich gerade tun wollte. Das heißt glaub ich auch Stress.
Und diesen Vorsatz versuche ich jetzt gleich zu realisieren, solange die Schule es mir noch ermöglicht und sofort sprießen kleine grüne Blättchen dort, wo nichts mehr hängt, oder Eiszapfen baumeln. Mein erstes grünes Blättchen sind drei Worte, die mir beim Aufstehen (endlich ausgeschlafen, zum ersten Mal seit einigen Jahren) in den Sinn kommen und sie stammen von Bert Brecht: Tanzen, Singen, Freundlich Sein. Ich weiß, sie stammen aus dem Gedicht "Vergnügungen" und zeigen eine weiche Seite vom Brecht. Ich behaupte das jetzt jedenfalls. Oder hat er Lesen, Singen, Freundlich Sein geschrieben? Nein, ich schau das jetzt nicht nach, nein. Für mich sind es jetzt die drei. Immense Herausforderungen, denn getanzt wird mit dem Körper der Dattilografa ja nicht mehr, wie sie beschlossen hat (und dann zur Über-90-jährigen Party eingeladen wurde oder zum Zumba - NEIN!), aber vielleicht findet sich noch eine Alternative zur überwuzelten Möchtegern-Discoqueen. Im übrigen bleibt mir immer noch die Tarantella. Zum Thema Singen fällt mir auch was ein, aber jetzt muss ich die Kinder wecken und dabei versuchen freundlich zu sein. Und wenn sie beim Frühstück sitzen, schau ich nach, ob der Brecht wirklich getanzt hat.