Freitag, 25. Januar 2013

Eine Königin

Back with Brecht. Bert Brecht will reisen. Das ist die Vergnügung des Brechts, nicht das Tanzen. Eislaufen ist übrigens auch nicht schlecht, aber da tun wir uns schwer in unserem mediterranen Klima. Ich wollte jedoch etwas zum Thema Singen schreiben. Vor der denkwürdigen Aufführung des Weihnachtslieds von Charles Dickens kam es zu einem interessanten Eklat. Am Freitag abend vor der Aufführung, die am Dienstag abend stattfinden sollte, kamen die Jungs glücklich aus der Probe und verkündeten, dass sie auch morgen, Samstag, zur Probe müssten. Ich sagte alarmiert: aber da ist doch Matheschularbeit! Ja, aber. Die Musiklehrer hätten die Eltern gefragt. Bestätigt MM. Mir ist das mehr als nur recht, ich bin eh kein Fan von Matheschularbeiten. Am nächsten Morgen bringe ich meine Kinder zur Probe ins Theater, denn unser 10000 Einwohner-Ort verfügt über ein recht schmuckes Theater, das sich in seinem Ortskern auf einem Hügel befindet. Außerdem gibt es einen Teil, der sich Marina nennt und wo sich auch die Schule befindet und darüberhinaus mehr als zwanzig weitere Ortsteile, eben einer davon unserer, auf einem anderen Hügel. Auf dem Land, wie man hier sagt, in campagna.
Nach dem Theater fahre ich auf den Markt, um Schuhe für meinen großen Sohn umzutauschen, natürlich für die Aufführung und ein Kinderbuch zu kaufen, nicht für die Aufführung. In der Buchhandlung (für Notfälle- ein Raum im Papier- und Zeitungsladen) begegne ich der Elternvertreterin der Klasse meiner großen Kinder. Sowieso ein Reizthema für mich, die Elternvertreterin. Sie stört mich beim Aussuchen des Kinderbuchs: sie hätte ihre Tochter in die Schule gebracht, denn das wäre ja sehr seltsam, diese Probe sei nie angesagt und die Matheprof eh immer dagegen gewesen und blablabla. Fakt ist: fünf Kinder sind in der Schule, die anderen bei der Probe, die Matheprof wird demnächst eine Pumpgun hervorholen und hat die erste Mutter zur Sau gemacht, die unsicher mit ihrer Tochter die Schule betreten hat. (Selber schuld, die Mutter, im Theater wär ihr das nicht passiert.) Ganz gegen mein Naturell bleibe ich ruhig und sage: Eigentlich interessiert mich das nicht, das sollen sich die Profs untereinander ausmachen. (Hab ich wirklich gesagt. Naja, vielleicht war ich auch ein bisschen lauter und habe es so gesagt: Das hab ich mir eh gleich gedacht, dass es so enden wird, aber ich habe angenommen, dass sich das die Profs untereinander ausmachen). Die Elternvertreterin beginnt, die Kinder anzuschwärzen, sie hätten sich sms geschickt, um ihre Absenz auszuhecken. Das stimmt nicht, sage ich. Die Elternvertreterin bezeichnet die Aufführung als "Recitella", eine kleine Mucki-Butzi-Aufführung. Jetzt schweige ich so laut, dass der Geschäftsinhaber nachschauen kommt, was die beiden Signoras da herumkreischen. Die Elternvertreterin geht, aber nur kurz, sie steht schon wieder mit dem Mobiltelefon am Ohr, als ich den Laden verlassen möchte und dabei vergesse ich, die Fineliner zu kaufen, die in den Adventkalender gehört hätten, was mich noch tagelang ärgern wird. Jetzt hat also die Matheprof die Elternvertreterin angerufen und ihr aufgetragen, sie solle organisieren, dass alle Eltern ihre Kinder in die Schule bringen, weil sie jetzt nämlich ihre Schularbeit abhalten wird. Der Orchesterdirketor weigert sich nämich, diesen Transport zu übernehmen, weil er erstens mit einem Auto ungefähr fünf Mal fahren müsste und außerdem hätten die Eltern ihre Kinder ins Theater gebracht und nicht in die Schule und es sei ein wenig komisch, die Kinder dann dorthin zu bringen, wo ihre Eltern sie offensichtlich nicht hinbringen wollten. Die Elternvertreterin ist verzweifelt. Auf ihren Fingernägeln bröckelt der Nagellack, als sie zittrig immer wieder Nummern in ihr Mobiltelefon eintippt. "Ich hab doch nicht alle Nummern!" stößt sie hervor. Ich erspare es ihr und mir, jetzt zu sagen: "Wer soll sie haben, wenn nicht du, Elternvertreterin!" (Meine Freundin, der ich diese Story bereits erzählt habe, meinte einlenkend, die Elternvertreterin würde vielleicht sonst alles über e-mail machen. Nein, so ist es nicht. Sie macht gar nichts. Eventuell informiert sie ihre Freundinnen von Beschlüssen, die in den Sitzungen, denen sie beiwohnt, getroffen werden). Ich seufze und sage, ich geh jetzt meine Kinder holen und ich nehm auch noch andere mit, so viel halt ins Auto passen. "Tu das nicht!" ruft sie mir nach. "Wenn was passiert, bist du schuld!" Jetzt bin ich auch noch terrorisiert von dem Gedanken, dass ich einen Unfall habe, wenn ich zehn Minuten mit dem Auto fahre. Ich spüre eine innere Kälte in mir aufsteigen.

Im Theater gehe ich auf die blonde Prof zu, die gesagt hat, dass auch Kinder eingebunden werden sollen, die nicht immer in der ersten Reihe stehen. Ich sage: "Professoressa, c'è un casino." Was soviel bedeutet wie: Frau Professor, das ist ein Chaos." Ja, sagt die Professoressa und schaut mich sorgenvoll an. Sie meint, ein wenig Gemeinsinn wäre auch bei der Matheprof angenommen worden. Sei aber ein Irrtum gewesen. Der Direktor des Orchesters telefoniert wild herum. Ich auch. MM sagt, wir sollen uns da nicht in einen Krieg ziehen lassen. Mittlerweile stehen wir außerhalb des Theaters, das extra aufgesperrt wurde und in dem das Orchester sitzt und wartet. Der Orchesterdirektor hat jetzt die Matheprof dran. Er sagt, dass wenn die Kinder jetzt in die Schule gebracht werden würden, bestehe die Gefahr, dass sie weder die Probe, noch die Matheschularbeit machen könnten. Zum Glück sagt er nicht: Hier steht eine Mutter, die den ganzen Vormittag Chauffeur spielen möchte. Im übrigen die einzige Mutter. Wie haben die anderen das denn gecheckt? Die sind vielleicht nicht der Elternsprecherin begegnet. Der Orchesterdirektor, auf Deutsch heißt das Dirigent, entfernt sich ein bisschen von uns. Aus ihren wunderbar blauen Augen, deren Wimpern sehr schwarz getuscht sind, schaut ihm die Musikprof nach, immer noch extrem besorgt. Sie schüttelt den Kopf und sagt einen Satz, in dem das Wort "Regina", also Königin vorkommt. Komischerweise denke ich, sie meint, es brauche nun Queen Elizabeth, so wie manchmal nach einem Führer gerufen wird und frage neugierig nach, was sie da gesagt hat. "Manchmal fühl ich mich wie eine Königin." sagt sie, mit dem Blick verloren zwischen Himmel und dem unter uns liegenden Meer. Ich schaue sie verblüfft an. Sie erwidert meinen Blick. "Ich stehe über diesen Dingen, ich hab diesen Stress nicht, deshalb fühl ich mich wie eine Königin." Und dann beginnt sie viel zu reden. Dass Musik halt immer unterbewertet ist, und dass in der ersten Klasse die Kinder nicht im Chor der Aufführung singen wollten und als sie fragte, weshalb, meinte ein Kind, seine Mutter wolle, dass es Schule mache. "Und ich?" hätte die Matheprof gefragt: "Bin ich ein Clown?" Sie erzählt, dass sie mit einem stotternden Kind gearbeitet habe, das nicht stottern musste, wenn es sang. Ob das Kind jetzt immer singen müsse, wurde sie dann gefragt. Über diese Geschichte habe ich in diesen Wochen viel nachgedacht.
Und deshalb bin ich froh, dass der Bert Brecht auch singen wollte.
Der Dirigent löst das Dilemma Probe versus Matheschularbeit, er sagt, die Matheprof hätte jetzt eingesehen, dass die Probe an erster Stelle stehen würde. Ich beruhige damit zwanzig ängstlich schauende Kinder. (Im Übrigen hat sie die Schularbeit dann mit fünf Kindern gemacht, die anderen machen sie nicht. Was das bedeutet, will ich nicht nachfragen, ich fühle mich nicht berufen.) Der Dirigent und die Königin gehen ein wenig zur Seite und diskutieren laut. Es geht um Respekt. Ich fahre nach Hause.

Nach der gelungenen Aufführung steht die Königin auf der Bühne und weint fast. Und ich würde gerne eine Singstunde nehmen. Die Singlehrerin in meiner Volksschule hat nämlich gesagt, ich kann nicht singen. Die Idee, dass es ihre Aufgabe sei, mir das beizubringen, ist ihr nicht gekommen. Also bin ich so alt geworden und habe immer gewusst, dass ich nicht singen kann. Manchmal habe ich das als Waffe eingesetzt, ungefähr so wie stinkende Socken.

Aber jetzt kenne ich eine richtige Königin und werde reisen (oder lesen oder tanzen), singen und freundlich sein.

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