Sonntag, 25. Dezember 2011

Die Weihnachtshexe

Der Umstand, dass meine Mutter in der Kirche immer sehr laut gesungen hat und ich mich zu Tode schämte, hat sicher dazu beigetragen, dass ich mich heute als Atheistin bezeichne, dass unsere Kinder kein Sakrament empfangen haben und im erzkatholischen Süditalien vom Religionsunterricht abgemeldet sind. Ich glaube, die Schule hält uns für Zeugen Jehovas, alles andere ist irgendwie unvorstellbar.
Heuer feiern wir erstmals den Heiligen Abend in meiner winzigen Wohnung in der großen Stadt. Und ich habe einen Christbaum, den MM und die Kinder wahnsinnig schnell wahnsinnig hübsch aufgeputzt haben. Da ich mich ja nichts um Weihnachten schere, habe ich manchmal Zeit zu denken, dass unser Leben vor Weihnachten immer ein wenig schwierig wird und dass das an diese Geschichte erinnert, in der eine Frau ein Kind in einem Stall zur Welt bringt, weil sie kein Hotelzimmer gefunden hat. Anschließend muss ich an T.C. Boyles apokalyptischen Roman "America" denken.

Meine Mutter und meine Geschwister kommen, um an meinen Baum zu singen. Meine Mutter hat sogar an das Liederbuch gedacht. Meine Geschwister erinnern sich immer besser an die Texte, die haben in der Volksschule noch nicht so viele verschiedene Dinge lernen müssen. Ich stehe neben meiner Mutter und es geht dem Höhepunkt entgegen: Stille Nacht. Ich singe wirklich gerne. Meine Mutter dreht sich um und sagt: Sing nicht so hoch, so hoch kann ich nicht singen. Ich singe weiter, ein zufriedenes Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. In der Volksschule hat die Singlehrerin gesagt, ich bin unmusikalisch und ich habe geweint. Meine Mutter verstummt. Ich singe immer weiter. Ich bin gemein. Oh wie lacht.

Dienstag, 6. Dezember 2011

Eine Ehe

Die kleinen Bäume haben rote und orange Blätter bekommen und der Hügel gegenüber ist bunt gepunktet. Nach Monaten regnet es wieder und ich versuche zu trotzen und die Wäsche in der Sonne aufzuhängen, obwohl es klar ist, dass diese dunklen Wolken am Himmel nicht nur zum Spaß da sind. Spaß gibt es überhaupt wenig, seit wir Mario Monti und nicht mehr Silvio haben. Mit Silvio war es immerhin surreal, mit Monti ist es ernst. Eine neue Ministerin weint, als sie ihr Sparprogramm vorträgt. Soll mir das sympathisch sein?

Ein paar hundert Meter unterhalb unseres Hauses, auf dessen Dach ich die vielen Socken aufhänge, bewegt sich etwas in den sauber aufgereihten Weinstöcken. Ich sehe nicht mehr so gut, aber die runden Formen lassen auf die Frau des Nachbarn schließen, der vor ein paar Wochen im stolzen Alter von 91 Jahren gestorben ist.
Seine abenteuerlichen Autofahrten habe ich hier bereits beschrieben, er hat sie alle überlebt , was er nicht überlebt hat, war vermutlich ein Wechsel seiner Gewohnheiten, seines Tagesablaufs. Losardo war ein zähes Männchen mit einem Schnurrbart, curvo, wie man auf italienisch sagt, ein wenig krumm. Als seltsam wurde er uns gleich beschrieben. Er war viele Jahre lang in Argentinien gewesen, wie viele Süditaliener, wie der Nonno von MM zum Beispiel. Dann kam er zurück, da muss er schon sechzig gewesen sein. Seine Frau, so erzählten die anderen Nachbarn, sei jünger ale er, was irgendwie gleich an etwas Verruchtes denken ließ, an feiste Schenkel über den dünnen Altmännerbeinen. Aber wenn einer über Neunzig ist, kann seine Frau leicht jünger sein und dabei auch schon Mitte siebzig.
Wenn man den beiden auf ihrem uralten knatternden Traktor begegnete, ließ man die Hoffnung fahren, den Bus zu erreichen oder die Kinder rechtzeitig von der Schule abzuholen. Im Schritttempo tuckerte der Traktor die enge Straße hoch, hinter der Abgaswolke eine kleine Rauchfahne aus der Zigarette des Männleins. Hupen half nichts, wer hörte einen schon in diesem Karacho und bei dieser Taubheit. Und wenn er mit den anderen Nachbarn möglicherweise nicht gut befreundet war, so grüßte er uns doch immer mit einer kreisförmigen Begwegung seines Arms und einem Blick zum Himmel. Wenn man gerade den Garten goss, so konnte das bedeuten: was, du gießt? Es ist viel zu heiß. Oder: ja bei dieser Hitze muss man gießen. Oder aber: wozu gießen, es regnet ohnehin bald, siehst du das nicht?
Dieselbe kreisförmige Bewegung mit der Zigarette in der Hand ohne Gartenschlauch unsererseits konnte als: jaja, nur keine Eile interpretiert werden, oder als: Mann, heute gibt es aber viel zu tun. Ich glaube, die Tendenz des Grußes hing allein von der Stimmung des Begrüßten ab.
Vor seinem Tod verbrachte er ein paar Tage im Spital. Meine Nachbarin Teresa hat ihn dort gepflegt und war danach mit den Nerven ganz am Ende: Er hat mich geschlagen, Dattilografa, kannst du dir das vorstellen?

Seine Frau, die junge, die Mitte siebzig ist, erinnert an einen etwas verschrumpelten Apfel, rot und gelb, wenn man ihn schält, ist er süß. Sie saß auf dem Traktor neben ihm, oberhalb von ihm. Morgens kamen sie auf ihr Grundstück und abends fuhren sie in ihr Haus zurück, das etwas oberhalb dieses Stück Lands mit den Weinreihen liegt. Letzten Sommer haben sie Kürbisse angebaut, die MM neugierig ausgespäht hat, hinter den Schilfrohrpflanzungen. Und dann hat MM auch begonnen Kürbisse anzubauen. Wochenlang sprach er über nichts anderes als über Kürbisse, so wie andere von Smartphones sprechen. Ich glaube, die Kollegen, mit denen er in der Mensa isst, waren froh, als die Kürbiszeit mit einigen Exemplaren zu Ende ging, die das hochgesteckte Ziel nicht erreicht hatten. Aber die Kürbispflanzung des Nachbarn erstrahlte jeden Morgen mit ihren gelben Blüten.
Wenn Mann und Frau auf dem Traktor fuhren und man hinter ihnen alle Zeit der Welt hatte, die dicken Waden der Frau zu betrachten, die unter einer Art Wanderkniebundhose hervorlugten, dann kam einem unvermeidelich Hubert von Goiserns Song von den dicken Wadeln in den Sinn. "Ich glaube, die beiden haben es gut", sagte ich einmal zu meinen pubertierenden Kindern, die sich vor lauter Lachen nicht mehr erfingen, weil sie sich vorstellten, wie die dicke Frau das Männchen täglich zu Boden schleudert. So stellen sie es sich eben vor: es gut haben.
Und eines Tages im Sommer fiel er zu Boden. Er stürzte oft, erzählte die Frau später MM, und hatte ein Hämatom auf dem Kopf, worauf die Frau beschloss, ihn ins Spital zu bringen. Nach kurzem wurde er wieder entlassen und bereits auf dem Heimweg meldete er Hunger an. Die Frau sagte, sie werde ihm etwas kochen und als die Pasta fertig war, hatte der Mann keinen Hunger mehr, im Gegenteil, er musste erbrechen. Bald fanden sich die beiden wieder im Krankenhaus ein und es wurde festgestellt, dass der Magen des Mannes perforiert war. Ich weiß nicht, ob unser Körper sich einfach zu gegebener Zeit auflöst oder ob es die drei bis vier Flaschen Vecchia Romagna waren, die der Mann angeblich pro Woche konsumierte. Vecchia Romagna ist ein alkoholisches Getränk, ich glaube etwas Cognak Ähnliches. Wegen seines perforierten Magens sollte der Mann in das Krankenhaus in die größere Statdt gebracht werden. Die Frau organisierte die Reise für sich selbst, denn sie fährt nicht Auto. Kinder haben die beiden keine. Als die Frau sich vorbereitet hatte, bekam sie einen Anruf, der besagte, dass die Ambulanz bereits wieder auf dem Rückweg war, denn der Mann hätte im Krankenwagen derart rebelliert, dass er zurück gebracht werden musste. Der Mann wollte nicht ins Krankenhaus in die Stadt, der Mann wollte nach Hause. Vermutlich wollte er Vecchia Romagna trinken und seine Ruhe haben. Deshalb war er wahrscheinlich auch delirierend aggressiv zu Teresa.
Wenig später war er tot.

An einem Sonntag Morgen höre ich eine sanfte Frauenstimme draußen mit MM sprechen. Ich denke, MM wird mich gleich rufen, aber nichts geschieht. Später frage ich ihn, wer da war. Die Witwe, ohne Traktor geht sie schneller direkt an unserem Haus vorbei. Sie hat MM erzählt, wie die Dinge vor sich gegangen waren. Und sie erzählte, dass sie es war, die ihrem Mann geraten hatte, mit dem alten Traktor zu fahren, nachdem die Polzei seinen Führerschein nicht mehr verlängert hatte. (Hallelujah!)Er mochte den Traktor nicht, denn er konnte die Gänge nicht einlegen. "Lass mich das machen!" hatte die Frau gesagt und dann sagte er ihr jeweils, wann zu schalten war. "Sei una maestra!" hat er dann zu ihr gesagt. Du bist eine Meisterin.