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Sonntag, 23. Oktober 2016

Don't go chasing waterfalls

Meine Kollegin ist 30 und wenn ich mit ihr an unseren Arbeitsplatz fahre, wird es meistens erst Tag. In ihrem Auto hören wir "Don't go chasing waterfalls". Bette Midler. Jeden Tag. Tutto volume. Arrangement mit Mut zum Pathos. Ich beginne wieder etwas zu spüren. Etwas von mir. Nur geht es in dem Lied um einen Sohn, little precious, can't seem to keep himself out of trouble.

So einen Sohn habe ich auch. Mein schüchternes grantiges Kind, das mit dem Erhalt des Führerscheins zu einem society-man wird, wobei mir die Art der society nicht ganz geheuer ist. Unser Dr. Jekyll und Mr. Hyde zwischen unfassbarer Frechheit und Umarmungen und Liebeserklärungen. Sorge, Sorge, Sorge, aber auch die Einsicht, dass man nichts tun kann, alles ist gesagt und zwar mehrmals. Dass ich viel ärger war, als Jugendliche, tut nichts zur Sache. Die Abwesenheit von Religion wird zusehends zu einer Bürde, denn ich würde so gerne beten. Ich weiß, anderen Eltern geht es nicht anders. Nicht wegen dem Beten, aber mit den Jugendlichen. Oder geht es mir doch besonders schlecht?

Freunde von uns sind in einer ähnlichen Lebenssituation, sie haben drei Töchter adoptiert und mein überwiegendes Gefühl ihnen gegenüber war bis gestern Neid und Eifersucht. Die älteste Tochter studiert an der Universität. Das heißt, sie hat die Matura gemacht. Sie ist über mein erkärtes Lebensziel, nämlich meine Söhne bis zur Matura zu bringen, zu schleifen, zu streicheln, zu bevormunden, zu füttern, zu brüllen, zu hypnotisieren, hinausgegangen. Neid und Eifersucht auch darüber, dass meine Freundin, trotz Familie, Karriere macht. Möglicherweise ist sie nicht weniger erschöpft als ich, aber sie bringt mehr Geld nach Hause.

Dann sagt mir MM, dass das Kind die älteste Tochter an der Uni getroffen hat. Sie haben jede Menge Selfies gemacht und erstaunlicherweise etwas geredet und das wurde dann MM mitgeteilt. Das Kind habe nämlich erzählt, wie schlecht die Stimmung in unserem Haushalt sei, weil eben sein großer Bruder so ein Widerling ist. Das sei ja dann wie bei ihnen, meint die große Tochter unserer Freunde. Nein, sagt das Kind, sein Bruder habe kein spezielles Problem mit den Eltern, er ginge allen auf die Nerven und würde auch ihn, das Kind, nicht respektieren, denn er stehe so spät auf, dass das Kind beim verspäteten Familientransport dann den Bus zur Schule verpassen könnte. Tatsächlich sind die troubles im Hause meiner karrieremachenden Freundin etwas größer und dort wird nichts mehr gesprochen. Außer das Wort Scheidung. Kein Neid, keine Eifersucht mehr. Mir kommen gleich die Tränen. Alles ist relativ, vor allem in Familien.

Ich denke mit Wärme an meinen rauchenden Sohn, der, nachdem ihn seine erste Freundin verlassen hatte, verzweifelt meinte, er würde jetzt nie mehr eine Freundin finden. Immerhin muss man sich keine Sorgen machen, dass er aus dem Fenster springt, weil er ohne SIE nicht mehr leben kann. Und immerhin redet er mit uns. Auch wenn mitunter mit etwas lauter Stimme. Alles ist relativ und daher kann alles auch gut sein, einen Moment lang. Und für mich kann Bette Midler wieder pathetisch singen, ich mache mir weniger Sorgen. Please stick to the rivers and the lakes you are used to.

Freitag, 10. Juli 2015

Alle schreien immer

Allen voran ich, aber noch nicht in der Früh. In der Früh schreit Carolina, die Katze. Sie schreit den ganzen Schmerz ihres ungewöhnlich langen Katzenlebens gegen die Fensterscheibe, sobald es hell wird. Vielleicht verzeiht sie uns seit etwa 17 Jahren nicht, dass sie draußen leben muss. Sie kann nirgends mehr hinauf springen, aber damit der Hund nicht frisst, was sie fressen soll, wird ihr Fressen hoch oben aufgetischt und sie hinaufgehoben. Wenn man sie hochhebt, schreit sie ebenfalls empört und um vorauseilend bevorstehende Misshandlungen abzuwenden. Der Hund bellt auch gerne gegen die Fensterscheibe, aber erst, wenn er menschliche Bewegungen ausnimmt.

Wenn die ersten Menschen das Haus verlassen, kann man auch meine Stimme hören, mitunter, aber immer seltener. Ich bin irgendwie anders geworden, toleranter? Immer läuft jemand zurück, um Vergessenes zu holen. Seit Jahren, obwohl ich am Anfang geschrien habe.

Die Kinder und MM schreien sicher nicht in der Früh, sie sind eher stumm.

Dann bellt der Hund, wenn ich die Hühner aus dem Stall hole. Er findet es tagtäglich unglaublich traurig, nicht dabei sein zu können. Die Hühner schreien auch, auf ihre Art. Eine Zeitlang hat der Hund auch gebellt, weil er spazieren gehen wollte und bitte gerne mit mir. Er hat nicht verstanden, dass ich morgens Kaffee trinken und meine e-mails anschauen muss.

Jetzt ist es ihm zu heiß und er legt sich in den Schatten. Dann schreit mal lange keiner, außer die Nachbarin nach ihrem Hund: "Zora!"

Dann schreien die Schafe wie alte Männer, denen es das Herz zerreißt. Aber auch die sind gerade im Stall wegen der Hitze oder stumm geworden.

Am Abend schreien auch die Frösche und zwar ohrenbetäubend. Unglaubwürdig. Sie klingen wie Geräuschmacher in einem Tonstudio, die Hölzer einander reiben, so dass sie wie Frösche klingen. Und wenn man in der Nähe ist, vibriert das Trommelfell.

Meine Kinder schreien selten. Und eigentlich kaum aus Wut. Manchmal geben sie irgendwelche pienlichen Brunftschreie von sich. Ein Freund von mir hat wohlwollend bemerkt, dass sie nicht laut sind. Ich glaube, sie haben sich ergeben, gegen mich haben sie keine Chance. Aber irgendwie beunruhigt es mich.

Heute habe ich geschrien. Ich habe zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen die Ölwanne des Autos aufgeschlitzt. Ich habe geschluchzt und MM angerufen, um ihm mitzuteilen, dass ich nie wieder einen Fuß in dieses Auto setze. MM hat versucht, mir die Schuld am Leck in der Ölwanne zu geben und nicht der Straße, dem Auto oder dem Leben. Dann habe ich geschrien, dass mir die Stimme weggeblieben ist. Ich kann das eigenlich empfehlen, wenn man keine Stimme mehr hat, erinnert man sich, dass man so geschrien hat und dass das eigentlich ganz unnötig ist. Meine Kinder meinten, dass es mir vielleicht besser ginge, so ohne Stimme, aber nein, so war es nicht. Im Gegenteil, niemand hat sich wehgetan, es ist ganz und gar sinnlos, sich wegen einer kaputten Ölwanne das Haar zu raufen.

Aber traurig macht es schon.

Später habe ich dem Kind zugeraunt: "Was soll ich nur machen?" "Einfach weitermachen." hat er gesagt. Hab ich da einen Therapeuten großgezogen? Was das Finanzielle betrifft, so hat er mir bereits zehnmal sein gesamtes Erspartes  vermachen wollen. Er braucht auch nicht viel. Fernsehen will er und ab und zu ein Heftchen, das er ausgiebig betrachtet. Und Tagebücher braucht er viele und die sind teuer, denn sie sind aufwendig außen verziert und werden von ihm innen auch verziert. Wenn ich ihn davon überzeuge kann, daraus ein Business zu machen, dann sind meine Autoreparaturen kein Problem mehr.

Ich halte mich an die Anweisungen des Kindes und bereite eine Marillenmarmelade vor, mache eine Nektarinenmarmelade, schneide Nektarinen zum Essen auf, wofür mir alle dankbar sind, schneide Gurken zu Salat und Erdäpfeln und Paprikaschoten für Frittata. Das ist keine schlechte Therapie.

Gemeinsam mit MM trifft der Abschleppwagen ein. Das hat MM gut organisiert. Er hat den Mann, der uns das Auto verkauft hat, angeschrien. Wer weiß, wen der anschreit.

Donnerstag, 25. Juni 2015

Ma il cielo è sempre più blu

Jemand sagt mir, es wäre besser, wenn ich in die große Stadt zurückkehren würde. Ich sei einsam in Italien. Der Mann, der das sagt, macht mir Eindruck und so also auch seine Aussage.

Ja, stimmt, einsam. Im Sinne von: Die meisten meiner gescheiten Freundinnen sind in der großen Stadt.

Ich gehe durch die Tage und denke: Vielleicht habe ich alles falsch gemacht.

Ich bin bewegt.

Ich zweifle.

Ich zweifle aber auch sehr daran, dass in der großen Stadt alles anders wäre. Ich zweifle daran, dass all die Freunde, die ich vermisse, sich mit mir beschäftigen wollten, statt sich um ihre Familie zu kümmern. Das ist jetzt so. In ein paar Jahren wird es wieder anders sein.

Ich zweifle trotzdem. Bis ich den Himmel und das Meer von Belvedere sehe. Am Sonntag in der Früh, als ich in den Supermarkt fahre, denn am Sonntag bekommen dort große Familien 20% Rabatt. Ich hab eine große Familie. Und ich gehe am Sonntag in der Früh einkaufen, ohne meine Familie, bevor die anderen Familien kommen.

Ich habe einen Kaffee und ein Cornetto intus und ein kurzes Gespräch mit der Frau in der Bar, in der es darum ging, dass das Wetter gar nicht so schlecht ist, wie angekündigt, und dass wir beide nicht wissen, wann denn dieses angekündigte schlechte Wetter eigentlich kommen soll. Wir sind verschont geblieben, sage ich.

Und dann sehe ich das Meer und es überfällt mich unerklärlich wie die Liebe. Es ist tiefblau und es liegt unter mir. Nein, ich habe keinen Fehler gemacht. Das ist für mich.

In all diesem Mist und ich meine hier: Mist, denn die Mülltrennung, die mir so sympathisch wäre, ist etwas, was ich privat betreibe, fällt mir das Lied von Rino Gaetano ein:

Er zitiert all die Scheiße, die einem im Leben passieren kann und dabei sind die unglaublichsten Sachen - der eine ist Bauer, ein anderer kehrt den Hof zusammen, ein anderer ist Spion und es gibt auch den, der seine Tante liebt und die, die in Kalabrien leben. Die, die Pensionen stehlen, die, die eine schlechtes Gedächtnis haben und die, die von einem Zug überfahren werden, sowie die, die von Liebe leben. Und der Himmel ist immer blauer. Wer auf die Mauern schreibt, wer von Millionen träumt, wer eine Strafe erhalten hat und wer die Südländer hasst, chi mangia patate, chi beve un bicchiere, ma il cielo è sempre più blu.

Der Himmel ist immer blauer.

Und zwar nicht dort, wo die anderen sind, sondern dort, wo man ist, auch wenn man so ein Handicap hat, wie die Tante zu lieben, Brillen zu tragen oder in Kalabrien zu leben.

Dienstag, 16. Juni 2015

Sommer

Die Schulferien haben in Italien offiziell begonnen und der einzige kritische Moment des Schuljahrs, als die Ministerin für Unterricht und Forschung angekündigt hatte, es werde künftig nur noch einen Monat Ferien geben, liegt bereits vergessen zurück. Nein, Mütter und Väter, auch heuer werden die Schüler 13,5 Wochen Ferien haben und rechnet man dazu, dass die meisten seit Anfang Juni die Schule nicht mehr besuchen, 15 Wochen. Für uns sind es 14 Wochen, denn ein paar Tage kann man auch mit wenigen Mitschülern spielen, wenn man klein ist, oder die letzte Prüfung machen, wenn man größer ist. Nur mit jenen herumhängen, die nicht noch mehr Fehlstunden haben können, muss man dann nicht. Ich sehe dieser sommerlichen Unendlichkeit mit einer Mischung aus Gelassenheit und aufkeimender Panik entgegen. In den vergangenen Jahren habe ich mich gut gerüstet mit Sommercamps, Monaten, in denen der nicht richtig begriffene Stoff aufgeholt und in Mammas Büro gelernt wurde und langen Aufenthalten in der großen Stadt. Heuer ist nichts geplant. Denn man kann mit jungen Menschen, die fast 18, 16 und 13 sind, nicht mehr so leicht verreisen. Zumindest nicht als ihre Mutter. Es ist auch ein bisschen Trotz, denn der Ex-Rallyefahrer, nun Fußballer, hat letzten Sommer gesagt, er wolle nicht mehr in die große Stadt fahren. In Wirklichkeit hat es ihm dort gut gefallen, aber ich bin dennoch ein bisschen beleidigt und vielleicht ist eine Pause wirklich nicht das schlechteste.

Noch sind alle entspannt und ich bin verwundert. Sollte mein jahrelanges säuerliches Vorgeben eines Rhythmus doch etwas gefruchtet haben? Nein, kein elektronisches Gerät vor dem Mittagessen. Du kannst lesen. Welche Hausarbeit willst du verrichten, bevor du die Playstation aufdrehst?
Jetzt sage ich nichts mehr und alle zeichnen am Vormittag. Natürlich haben sie dabei Kopfhörer auf, aber sie sind immerhin nicht im Netz. Ich habe in meinem ganzen Leben nicht so viel gezeichnet wie meine Kinder an einem Tag. Nach dem Mittagessen geht es dann ins hedonistische Technikvergnügen. Und wenn dann noch Energie übrig bleibt, ans Meer. Dieser Zustand wird auch nicht ewig dauern. Denn irgendwann werden wir die Zeugnisse abholen und wenn diese positiv sind, wovon ich ausgehe, nachdem ich in den letzen Monaten laut gebellt habe, wenn Wünsche an mich heran getragen wurden, die anstatt des oder zeitlich vor dem Ausbessern des katastrophalen Halbjahrzeugnis, erfüllt werden sollten, wird man hier beginnen, einen Auto-Führerschein und einen Mofa-Führerschein zu machen.

Ich bin überhaupt verwundert, denn die Pubertät scheint etwas Intermittierendes zu sein. Der Fußballer spricht wieder. Zum Beispiel erzählt MM von einem Fall eines geschiedenen Paars, das eine Tochter hat. Die Mutter ist Veganerin und der Vater hat die Mutter verklagt, weil sie die Tochter nicht richtig ernährt. "Wie glaubt ihr, hat der Richter entschieden?" fragt MM. "Sie kommt in eine andere Familie", vermutet der Fußballer. Ich starre ihn fassungslos an. Er hat eine Stimme. Er hat das erste Mal seit zwei Jahren seinen Kopf vom Teller weggehoben. Vielleicht wünscht er es dem Mädchen, in eine andere Familie zu kommen, so wie er es sich vielleicht in den letzten zwei Jahren selbst gewünscht hat. Aber jetzt ist er 16, hat sich seine Balottelli-Frisur abschneiden lassen und lächelt manchmal.
Das Mädchen muss übrigens nach einem ausgewogenen Diätplan ernährt werden, in dem von allem etwas vorgesehen ist.

Das Kind hingegen wehrt sich, in die Pubertät einzutreten, zumindest, was meine Rolle betrifft. Seinem Vater gegenüber ist Schnauben die einzige Kommunikation, zu mir ist er sehr lieb und kindisch und erzählt mir, dass Katy Perry in ihrer Garderobe vor jedem Auftritt eine Kiste eines Biers, dessen Name ich vergessen habe, gekühlt, versteht sich, haben möchte, eine Kiste Mineralwasser, 3 Flaschen gekühlten Pinot grigio und rote und rosa Blumen. Ich bezeuge offenbar so viel Interesse (ehrlich gesagt am Pinot grigio), dass er am nächsten Tag wieder berichtet:
- Mamma, ich habe dir doch erzählt, was Katy Perry in ihrer Garderobe will, aber jetzt sag ich dir, was Miley Cyrus bestellt: 102 rote Rosen und 102 weiße Rosen.
- Was? sage ich, meinst du 200 rote und 200 weiße?
- Nein, 102.
Von einem Moment auf den anderen bekomme ich einen Anflug von dem, was man in meiner Jugend "Blutrausch" genannt hat. Eigentlich weiß ich nicht, ob einem dann das Blut in den Adern kocht, so dass einem der Hals schwillt, oder ob man im Rausch solange auf jemanden einschlägt, bis man Blut sieht. Auf jeden Fall würde ich gerne beide Sängerinnen mit dem Kopf zusammenstoßen.
- Ich finde das manisch, sage ich ungeduldig. Ich will sagen: ich finde das obszön.
- Wieso? fragt das Kind erschrocken.
- Stell dir vor, du würdest zu mir sagen, ich soll dir 102 Blumen ins Zimmer stellen, aber es müssen 102 sein.
Das kommt ihm auch komisch vor. Mein Kind weiß, dass es Leute gibt, die nichts zu essen haben, ich muss es ihm nicht sagen. Ich weiß auch, dass ich in seinem Alter Rod Stewart verehrt habe und der hat sich wahrscheinlich noch was ganz anderes als Blumen in die Garderobe stellen lassen.
Ich nehme weiter die Wäsche ab und stecke die orangen und roten Wäscheklammern in einen Sack. Das Kind trollt sich wieder, sicher Gossip lesen.


Freitag, 5. Dezember 2014

Männer



Hinter unterem Haus stand einst ein Feigenbaum. Er trug einen Teil zu der romantischen Atmosphäre bei, die uns derart gefiel, dass wir dieses Haus kauften. Neben einem Apfelbaum fiel dieser Feigenbaum der Säge zum Opfer. An seiner Stelle wurde ein Parkplatz für unser Auto geschaffen. Hinter dem ehemaligen Feigenbaum wurden riesige Eisenkörbe mit großen Steinen in die Erde gepfropft, auf dass auch LKWs an unser Haus herankönnen und es wurde eine bereits bestehende Mauer erhöht. Damit eben das Auto gut parken kann. Der Feigenbaum zog ohnehin nur Wespen und andere gefährliche Insekten an, wurde mir erklärt.

Der Nachbar zog auch seinen Nutzen aus unseren grobschlächtigen Veränderungen und baute den winzigen Trampelpfad, der hinter unserem Haus zu seinem Haus führte in eine ungepflasterte Straße aus, über die er nicht nur Zugang zur kleinen öffentlichen Straße hat, sondern auf der auch seine Söhne, Schwiegersöhne und Enkel mit Kindermotorrädern, normalen Motorrädern und Motocross-Maschinen fahren.

Vier Jahre stand nun also unser kleines rotes Auto unter einem großen Eichenbaum am oberen Rand dieser immer unverputzt gebliebenen Mauer geparkt, wenn es zu Hause war. Zwischen Mauer und Haus spielten die Jungs Fußball, manchmal mit den Jungs vom Nachbarn. Der linke Nachbar und seine Frau pendeln zwischen ihrem Haus und dem Anwesen des rechten Nachbarn hin und her, denn sie bestellen dessen Garten. Links und rechts sind in diesem Fall von unserem Haus aus gesehene Richtungen und keine politischen Haltungen. Unter dem großen Eichenbaum wird das rote Auto, zumindest im Herbst, von einer klebrigen Schicht überzogen.

Eines Tages im Frühling kam der Nachbar und sagte zu MM, dass er glaube, diese Mauer müsse verbessert werden, denn sie habe sich ausgebeult und man möge ein Unglück vermeiden, schließlich spielen ja Kinder im Schatten dieser Mauer. Das wunderte mich gar nicht, denn aus dieser Mauer hatte ich schon Wasser kommen sehen, aber wie konnte ich annehmen, dass dies nicht ordnungsgemäß war, schließlich wurde diese Mauer nicht vor hundert Jahren hinter dem vor hundert Jahren erbauten Haus gebaut, sondern vor fünf Jahren, als das hundertjährige Haus renoviert wurde. Und zwar von legal bezahlten Fachkräften. Eine Schlange wohnte auch in der Mauer, aber das sagte ich niemandem, denn ich weiß, dass sich die meisten Leute, darunter auch unsere Nachbarin, vor Schlangen fürchten. Außerdem wohnte die Schlange, wenn ich genau sein möchte, nicht in der Mauer, sondern hinter der Mauer.

Nach einigen Wochen Ungläubigkeit sah auch MM ein, dass die Erde über der Mauer eine Art Wasserbecken gebildet hatte, die das Wasser auffing und durchsickern ließ, statt es abzuleiten. Dadurch hatte sich die Erde ausgebreitet und gegen die Mauer gedrückt. So habe ich es mir zumindest vorgestellt. Und wer war schuld? Der Obermaurer. Der Obermaurer, den ich einst so kompetent und liebenswert gefunden hatte, ist für mich mittlerweile an allem schuld, was nicht funktioniert, schmutzig ist oder nach wenigen Jahren ausgetauscht werden muss. Das verbindet ihn mit meinem Ehemann. Und tatsächlich verteidigte dieser den Obermaurer. Also hatten sie gemeinsam eine inkompetente Entscheidung getroffen und eine rachitische Mauer gebaut, die dazu bestimmt war, nach fünf Jahren abgerissen zu werden, auf dass kein Unglück geschehe.

Ich möchte keinesfalls viele Worte zum Mauerabriss und zum Maueraufbau verschwenden. Nur so viel: Es hat lange gedauert. Es war teuer. Es sieht hässlich aus.

Jetzt sind alle zufrieden. MM, der Nachbar, der (für uns neue) Maurer. Sogar meine großen Söhne wurden eingebunden und konnten sich mit stundenweiser Hilfe Geld verdienen.

Ich habe die Vision, dass alle Häuser und Bauten auf unserem Hügel durch ein Erdbeben oder eine andere apokalyptische Naturkatastrophe zusammenbrechen und ins Meer gespült werden, während diese neue Mauer stehen bleiben wird. Man wird sie auf Satellitenbildern ausnehmen können und ich überlege mir, ob ich eine Nachricht für die Generationen oder Lebensformen, die nach uns kommen werden, in dieser Mauer hinterlassen soll.

Und das rote Auto parkt jetzt nicht mehr auf durstiger Erde, sondern auf ästhetisch wertvoll regelmäßig klein gehacktem Schutt, was ein bisschen wie Kieselsteine wirkt. Ich spreche nicht über die Mauer, ich mache das, was man mir sagt. Ich parke hier, ich parke dort, ich parke ein bisschen weiter links, ein bisschen weiter rechts, ein bisschen weiter hinten, ein bisschen weiter vorne, je nach dem Stadium des Mauerbaus. Ich schaue aus dem Schlafzimmerfenster und sehe die graue Mauer. Dafür hätte ich nicht aufs Land ziehen müssen. Ich überlege, welche bis jetzt unbekannten Geldquellen ich anzapfen kann, damit diese Mauer auch verputzt wird, denn ich weiß, dass das Kind dann gerne etwas daraufmalen wollen wird. Ein Regenbogen ist sicher das Minimum.

Das große Glück über diese und mit dieser Mauer versetzt MM in derartige Ekstase, dass er auch das große blaue Auto unter der Eiche parkt. Beim Abendessen doziert er über die zeitlichen Vorteile, die dieses Parken mit sich bringt, denn man stürzt sich die kleine Straße hinab und ist hinter dem Haus und muss nicht die lange gewundene Straße hinter sich bringen, um vor dem Haus anzukommen. Dass man die beiden Autos dann umparken muss, damit das richtige Auto am nächsten Morgen in Poleposition steht, und dass das große blaue Auto schwer zu wenden ist, wird nicht eingerechnet. Da auch ich meine Steckenpferde habe, die immer gewinnen, auch wenn nach rationaler Betrachtung der Lage ihr Vorteil nicht so groß ist, sage ich nichts.

Eines Morgens, als alle vier männlichen Mitbewohner hinter das Haus stapfen, um mit dem blauen Auto zur Schule und Arbeit zu fahren, fahren sie nicht. Als ich das Schlafzimmerfenster öffne und seufzend auf die graue Mauer starren will, sehe ich die drei älteren männlichen Wesen ums Auto herumschleichen und das Kind betreten im Auto sitzen. Ich sehe es sofort: das Auto wurde in den Sand gesetzt. Der Eintonner befindet sich zu nahe an der Mauer und das Hinterrad ist im Schutt versunken. Instinktiv ziehe ich mich zurück und denke an Traktoren, die das Auto herausziehen und an Entschuldigungen in Mitteilungsheften. Ich kann MM nicht einmal zum Autobus bringen, denn das kleine rote Auto steht vor dem blauen und wenn sich dieses nicht bewegt, bleibt auch das rote Auto stehen.

Der Fußballspieler, der sich vor einer Minute noch in Zeitlupe, beschwert von Hormonen, aus dem Haus geschleppt hat, kommt elastisch gelaufen und verlangt eine Schaufel. Ich verlasse das Haus aus Sicherheitsgründen nicht, denn ich würde meinen Mann sehr beleidigen, wenn nicht sogar tätlich angreifen. Der Fußballspieler teilt mir außer Atem mit, dass das Kind Steine weggetreten hätte, worauf das Auto nun feststecke. Das Kind! Soviele Steine konnte das Kind doch gar nicht in drei Minuten wegtreten. Ich nähere mich nicht wieder dem Schlafzimmerfenster, sondern finde mir, ganz gegen meinen normalen Rhythmus eine Beschäftigung in der Küche. Nach zwanzig Minuten gehe ich ins Schlafzimmer, sicher, dass alle längst weg sind. Da schaufeln die noch immer, die Reifen drehen durch, der Motor heult auf, Rufe des großen Sohns: Mehr links, mehr rechts, geradeaus, basta, stopp. Das Kind steht abseits und beginnt nun zu klatschen und zu springen. Offenbar haben sie es geschafft. Ich höre noch mehrmals das Wort „Zement“.

Als sie weg sind, frage ich mich, ob, wenn ich mein Auto dort eingegraben hätte, meine Kinder dann so hilfsbereit gewesen wären und in ihren langwierig ausgesuchten Klamotten Steine umgeschichtet hätten und dabei unternehmungslustiger als normal geworden wären.

Nach ein paar Stunden ruft MM an und sagt, er hätte am Morgen ein kleines Problem mit dem Auto gehabt. In Wirklichkeit sind alle zu spät in die Schule gekommen und MM musste mit dem Auto zur Arbeit fahren, weil der Bus schon lange weg war.
Auch die Jungs sagen, es wäre am Morgen nicht ganz einfach gewesen, wegzufahren. Und man merkt, dass sie glücklich sind, weil sie vor der Schule schon ein bisschen Abenteuer und Schweiß hatten. Das Kind sagt nichts, was darauf hindeutet, dass es vielleicht wirklich schuld an dem Desaster war. Oder weil es noch nicht so eine breite Brust hat, auf die es sich dann klopfen will.

Ich sage auch nichts. Daher schreibe ich es hier: „ICH hätte das Auto dort NIE geparkt.“





Mittwoch, 19. November 2014

Hühnerbegräbnis


In der Genealogie der Hunde, die wir bis jetzt als unsere bezeichnet haben, ist Tommy derzeit der einzige Hund, der uns Gesellschaft leistet.
Tommy ist Bertas Sohn. Berta war ein Schäferhund mit abgeschnittenem Schwanz, der böse die Zähne fletschen konnte und eines mehr als ein Jahr zurückliegenden Tages sehr mager und offensichtlich verstoßen oder geflohen auf unserer Terrasse vorstellig wurde und sich nach kurzer Bedenkzeit bei uns niederließ. Mittlerweile hat sie uns verlassen um in die wahrhaft ewigen Jagdgründe einzugehen. Berta hatte eine Vorliebe für Igel, die sie in ihre Hundehütte brachte, ohne dass wir je gesehen haben, wie sie das machte. Ich trug diese Igel, zumindest glaube ich, dass es nicht immer ein und derselbe war, auf einer Mistschaufel zu den Hennen, legte sie dort ins Gestrüpp, kauerte mich eine Zeitlang zu ihnen, um zu beobachten, was sie taten. Sie atmeten. Am nächsten Tag waren sie dann immer weg.

Tommy ist ein schwarzer Hund mit weißer Brust und hat eine Freundin namens Zora, ebenfalls schwarz und aus einer Rasse stammend. Zugegebenermaßen finde ich, dass Zora dümmer als Tommy dreinschaut. Beide schauen sie naiv. Beide werden sie von den Nachbarn beschuldigt, sämtliches frisch gepflanzte Gemüse ausgegraben zu haben und sich an Kaninchen zu vergehen. Ich habe das nie gesehen und war bis vor kurzem bereit, meine Hand für Tommys Unschuld ins Feuer zu legen.
Bis das Huhn auf der Terrasse lag. Das Huhn war schwarz und möglicherweise eine Henne. Zuerst habe ich nur etwas schwarzes gesehen und hatte ein unangenehmes Gefühl. Während ich noch mit dem Kind über die Fläche einer Raute sprach, die einem Viertel eines äquivalenten Quadrats entspricht, ging ich auf die Terrasse und stellte fest, dass das Schwarze eben ein Vogel ohne Kopf war. Das Kind und ich haben uns erschrocken angesehen. Dann gingen wir zum Hühnerhof, in Hausschuhen und zählten unsere Hühner, was nicht schwer ist, wir haben nur zwei schwarze Hennen und beide kamen fröhlich auf uns zugestolpert.

Das Massaker betraf also irgendwelche Nachbarn, was fast noch unangenehmer war. Vor ein paar Jahren, als unser Hund Benny allerlei Unfug anstellte, was ihm schlußendlich möglicherweise das Leben gekostet hat, habe ich auch ein Huhn gefunden. Ich habe es damals in einen Plastiksack gesteckt und bin eine riesige Runde gegangen und alle Nachbarn behaupteten, dass ihnen dieses Huhn nicht gehöre. Mittlerweile glaube ich fast, sie haben es aus irgendwelchen Gründen des Ehrenkodex nicht zugegeben. Jedenfalls wusste ich schon, dass ich den Besitzer der schwarzen kleinen Henne gar nicht erst zu suchen brauchte. Ich wollte die Henne gerne mit einer Schaufel einfach in den Weingarten schmeißen. Ich mache das oft mit unliebsamen Dingen wie Hunde- oder Katzenscheiße. Aber schon die Igel musste ich weiter wegbringen, ins eingezäunten Hennengehege, weil Berta sie sonst wiedergebracht hätte. Also widerstand ich der Versuchung der einfachen Lösung, aus Angst, Timmy könne den Vogel wieder und wieder bringen und jedes Mal wäre ein Stück weniger dran. Was hätte mein abwesender Mann gemacht? Ich ließ die Schaufel stehen und griff zum Telefon. MM gab mir Anweisungen, das Tier unter dem Birnbaum zu vergraben. In meiner Aufregung wusste ich gar nicht, von welchem Birnbaum er sprach, aber ich konnte mir eine Idee machen und ging auf jeden Fall unter einen Obstbaum und begann, zu graben. Es hat monatelang nicht geregnet und ich hatte das Gefühl, Zement aufzugraben. Ich dachte, ich werde es nie schaffen, ein entsprechend großes Loch zu graben, da half mir auch die Kenntnis der Formeln für Flächen nicht. Und auch wenn ich die Kubikzentimeter berechnen hätte können, wäre mir nicht leichter gewesen. Zentimeter für Zentimeter, Gramm für Gramm hob ich die trockene Erde ab. Ich musste an meine Kindheit denken, als ich im Weingarten meines Vaters Löcher grub, um Dinge zu verstecken, die ich später, in meiner Eigenschaft als Detektivin wieder finden würde. Ich musste an Patricia Highsmiths Kriminalromane denken und wie unfähig ich war, eine Leiche verschwinden zu lassen, auch wenn es sich nur um einen Tierkadaver handelte. Ich musste denken, dass in einer zivilisierten Gesellschaft andere Methoden existieren, sich eines Tierkörpers zu entledigen, aber da ich in einem Teil Europas wohne, in dem derzeit der Müll seit drei Wochen nicht abgeholt wird, fühle ich mich durchaus berechtigt, die Henne unter die Erde zu bringen.

Mittlerweile schwitze ich schon ziemlich, aber das Loch ist doch ein bisschen größer geworden. Noch ein bisschen Anstrengung und Stöhnen und dann nehme ich die Henne wieder auf die Schaufel und lasse sie in die Aushebung plumpsen. Ich lege mit der Schaufel die Klauen zusammen. Zum Glück hat das Tier keinen Kopf mehr und wirkt dadurch abstrakter. Es verschwindet nicht ganz im Loch und als ich es mit Erde bedecke, bleibt ein kleiner Hügel. Ich lege trockenes Gras darauf.

100 m weiter unten ist einer der Nachbarn mit seinen Schafen unterwegs, ich höre ihn mit ihnen sprechen. Ich denke, dass das beste Verbrechen unter den Augen aller vollzogen wird. Eben Patricia Highsmith.

Am nächsten Tag gehe ich durch den Obstgarten und stelle fest, dass mein Hühnergrab unberührt und nur noch an der Grasbedeckung für mich zu erkennen ist. Ich bin fast stolz auf mich. Ich will ja immer die sein, die im Holzfällerhemd das Holz fällt und vor allem mit der Grasschneidemaschine Gras schneidet. Aber ich habe kein Holzfällerhemd und MM hat mir verboten, die Kettensäge zu benutzen.

Am übernächsten Tag liegt wieder etwas auf der Terrasse. Was ist das? Es sieht aus wie ein Stofftier. Ein sehr teures Stofftier. Oh nein, zum Glück ist keiner der Jungs zu Hause. Tommy ist an der Leine. Diesmal ist er wirklich unschuldig. Dieses Kaninchen hat Zora gebracht, die am Morgen hier mit Tommy gespielt hat, bevor ich ihn angeleint habe. Es ist ein graues Kaninchen, wieder ohne Kopf. Es sieht sehr weich aus und hat entzückende Läufe. Diesmal muss ich niemanden mehr um Rat fragen. Einen Moment bin ich versucht, zur Nachbarin zu gehen und ihr zu sagen, dass es Zora war, denn Tommy kann sich nicht alleine ab- und wieder anleinen. Aber ich nehme davon Abstand. Eigentlich weil ich Angst habe, was sie mir dann für Schauergeschichten über umgewühlte Salatbeete und in der Gegend herumkollernde Kürbisse erzählen könnte.

Ich hebe das Kaninchen auf die Schaufel und gehe zum Birnbaum hinunter. Heute bin ich schon ein bisschen flotter, dafür muss die Grube tiefer sein. Das Kaninchen ist erstaunlich beweglich und faltet sich in seinem Loch zusammen. Die Erde ist immer noch trocken und ich lege zum Abschluss einige Steine auf das Grab, um anderen Hunden eine Exhumierung schwerer zu machen.

Und so macht jeder, was er machen muss.

Donnerstag, 6. März 2014

La sofferenza è finita

Ich stehe unter einem Olivenbaum und reiße an ein paar abgeschnittenen Eichenästen herum, mit den kleinen Ästchen will ich den Ofen anheizen. Es ist regnerisch, windig, es ist Faschingsdienstag, die Kinder sind zu Hause. An diesen Tagen, an denen kein richtiger Feiertag ist, aber viele Kinder beschließen, nicht in die Schule zu gehen, müssen auch meine Kinder nicht in die Schule gehen, weil die Gefahr groß ist, dass sie a) anrufen und heimgehen wollen, b) anrufen und sagen, die Mensa kocht nicht für so wenige Kinder, c) nicht anrufen, aber nur zu viert mit der Frau Professor sind und anschließend übel gelaunt für einen ganzen Abend. Ein Mann und eine Frau kommen des Wegs, die Frau ist die Mutter einer Nachbarin, einer, die MM verehrt, weil sie so gut Traktor fahren kann, der Mann könnte der Bruder sein. Er wirkt ein wenig, als wäre er auf Freigang aus einem Irrenhaus, er trägt eine Wollmütze, eine Boxerjacke und eine Trainingshose. Leider schaue ich etwa genauso aus wie er, außer der Boxerjacke, so schick bin ich nicht, ich trage eine ausgeleierte Strickjacke von MM. Er sagt: "Signora, was machen sie da?" "Ich sage, ich mache Kleinholz, um den Ofen einzuheizen." Mir kommt das nicht komisch vor, ich antworte ihm wie einem Kind. Die Mutter der Nachbarin sagt peinlich berührt zu dem Mann, von dem ich meine, er sei ihr Sohn: "Die Signora wohnt da." Oh, das freut ihn und er stellt mir noch einige Fragen, die ich diplomatisch beantworte. Dann frage ich: "Und sie? Machen einen Besuch?" " Er ist gestorben." sagt die Mutter der Traktorfahrerin. Sie deutet mit dem Kinn auf das Nachbarhaus unter mir. Er, der mit dem Kinn angedeutete, ist der Opa. Ohje. Ich weiß, dass er krank war. Der Opa ist ein Herr, der gar nicht alt wirkte, obwohl er jetzt 82 war. Ich würde sagen, er hatte keine Falten. Ich würde sagen, er sah jünger aus, als seine Kinder. Als wir in unser Haus zogen und viel im Garten arbeiteten, ging er mit einem Stock aus seinem Haus und setzte sich auf einen Sessel vor die Garage. Ich denke, wir haben ihm viel Unterhaltung geboten, aber auch die Natur anzuschauen war nicht schlecht. Olivenbäume, Gras, unsere ungeschickten Tomaten- und Bohnenpflanzunzen. Schilfrohr, Feigenbäume. Hunde, die durchs Gras laufen, Wasser, das in unseren Brunnen rinnt. Orangenbäume, Mandarinenbäume und ganz oben Zitronenbäume. So weit konnte er vielleicht nicht sehen. Wir grüßten einander, plauderten miteinander und er war da, wie das Haus da war. Später kam er nicht mehr aus dem Haus, vielleicht taten ihm die Beine zu sehr weh, er saß in einem Sessel vor dem Fernseher im Haus. Jahrelang. Ab und zu kamen wir auf Besuch, er sah immer faltenfrei aus und schaute ein wenig gelangweilt auf den Fernseher. Auf Befragen erzählte er, wie es ihm ging und zeigte violette Stellen an seinen Beinen. Mir tat es leid, dass er nicht mehr vor der Garage saß. Das habe ich ihm aber nicht gesagt, so wie man mit alten kranken Menschen eigentlich nicht redet, sondern nur deutlich sichtbar nickt oder den Kopf schüttelt, um ihnen zu verstehen zu geben, dass man sie versteht, auch wenn das zum Teil nicht wahr ist, oder man es auf dezentere Art ebenfalls mitteilen könnte. Das letzte Mal habe ich ihn im Januar gesehen und ich habe vergessen, mich zu verabschieden. Das war mir sehr peinlich. Ich habe ihn einfach übersehen, in seinem Stuhl vor dem Fernseher, während ich mit seiner Schwiegertochter plauderte. Dabei hat er noch einen Kaffee getrunken, einen starken, süßen Kaffee, den auch ich serviert bekommen habe. Was er wohl gedacht hat? Er muss sich als Möbelstück gefühlt haben. Ein Möbelstück, dass seiner Familie zur Last fällt, weil es sich nicht alleine bewegt und weil es schmutzt. Ein Möbelstück, dass die Nachbarn nicht grüßen, wenn sie das Haus verlassen, weil sie ihm den Rücken zuwenden und man keine Möbelstücke grüßt.

Ich gehe nach Hause und rufe MM an. Ich sage: "Was muss ich tun? Ich gehe hin und küsse alle und dann gehe ich wieder." "Nein," ruft MM, "küss nicht alle. Küss nur die Familie. Die anderen solltest du nicht einmal grüßen." Ein bisschen Erfahrung habe ich ja, mit diesen Totenwachen. Aber nur ein bisschen. Normalerweise steht mir meine Schwiegermutter bei und sagt mir, was ich tun soll. Aber heute muss ich alleine gehen. Ich wechsle die Kleidung und gehe. Das Haus steht offen, an der Stelle an der normalerweise ein sehr langer Tisch steht, steht der Sarg. Rundherum sind zur Zierde Ständer aufgestellt, aber es sind keine Kerzenständer. Sie sind blank poliert. Hinter dem Sarg steht ein Paravent mit einem riesigen Jesusbild. Jesus hat Augenbrauen in perfekter Form und schaut mit blauen Augen milde und kühl auf die Leiche unseres Nachbarn. Dieser wiederum liegt wie eine Puppe aus dem Wachsfigurenkabinett in seinem Sarg, die Knie angezogen. Vielleicht sind seine Beine vom vielen Sitzen so geworden. Er hat die Augen geschlossen und schaut ernst. Ich kann nicht glauben, dass er tot ist, sicher wird er gleich die Augen aufschlagen. Rechts und links vom Sarg sind Sofas und Stühle aufgebaut, auf einer Seite sitzen Männer, auf der anderen die Frauen, als erste die Oma, die Frau vom Nachbarn. Ich gehe auf den Sarg zu. Ich stelle mich links vom Sarg, betrachte die Leiche und mache ein Kreuzzeichen, weil mir das angebracht scheint. Ich drehe mich zur Witwe und umarme sie und küsse sie. Sie weint, sie wirkt wie ein kleines Mädchen. Sie ist sehr klein und sie wird immer kleiner. Sie hat schon zwei Herzoperationen gehabt und schnauft beim Gehen und beim Reden, aber sie hat ein herzliches Lachen, hat mir schon viele Eier geschenkt und wartet im Sommer auf mich, damit ich die Maulbeeren unter ihrem Baum einsammle, die dort im Überfluss vorhanden sind. Die anderen alten Damen beachte ich, wie mit MM besprochen, nicht.
Ich stelle mich zur Tür, wie in der Kirche, dort stehe ich auch gerne bei der Tür, damit ich unauffällig verschwinden kann, wenn es unerträglich wird. Aber seit ich Messen als beobachtende Forschungsperson besuche, sind sie nie unerträglich. Der Sohn des Opas kommt aus dem Inneren des Hauses durch eine Tür, ich nenne seinen Namen, sage, es tut mir leid, beuge mich zu ihm hinunter und küsse ihn. In dieser Familie sind alle Personen winzig. "Naja, was soll man machen." sagt er, irgendwie abwehrend, nicht mich, sondern die Trauer. Auf dem Sofa ist noch Platz, er zieht mich stark an. Ich setze mich, ach ist es schön, ein wenig auszuruhen, in der Stille, den Blick vom Toten zu den Lebenden schweifen zu lassen, getrost denken zu können, denn dies ist ein Moment der Andacht. Leute kommen. Eine Gruppe von Personen betritt den Raum mit dem Sarg, sie gehen auf die rechte Seite des Toten, berühren ihn an der Stirn, an den gefalteten Händen, murmeln, küssen ihre Hände. Das habe ich offenbar falsch gemacht: linke Seite, nicht berührt, kein Kuss auf die eigenen Finger. Aber diesen Brauch finde ich ohnehin nicht sonderlich nachahmenswert. Oft sehe ich, dass die Menschen, wenn sie an einer Kultstätte, einer Kirche oder einem Friedhof vorbeikommen, die Lippen bewegen, ein Kreuz schlagen und dann ihren Daumen küssen. Auch MM kann mir nicht erklären, weshalb sie das tun und ich finde es peinlich, jemand anders zu fragen, auf jeden Fall bin ich immer froh, wenn ich das sehe, dass meine Kinder aus dem Religionsunterricht ausgeschrieben sind (auch wenn sie ihn besuchen, aber das ist eine andere Geschichte), denn die Tatsache, dass man als gläubiger Mensch seine eigenen Hände küsst, kommt mir überheblich und unappetitlich vor. Eine relativ junge Frau ist unter den Neuankömmlingen und sie sagt etwas zur Leiche. Sie wiederholt ihre Worte dem Sohn gegenüber: "La sofferenza è finita." "Das Leiden ist zu Ende." Das finde ich gut, aber gleichzeitig auch unangemessen. Was weiß sie denn vom Leiden des Opas. Vielleicht hat er ja in Momenten auch Freude am Leben gehabt. Ich denke das, was ich immer denke, wenn ich an den Tod denke und an das Leben, an das Alter. Meine Gedanken sind äußerst einfach und es geht immer darum, dass es einen Tagesablauf gibt und dass die alten Menschen, die nicht mehr selbst gehen können, an die Sonne geschoben werden müssen. Ich schaue die Oma an und ein neuer Gedanke kommt mir in den Sinn, nämlich dass das die Ehe ist, dass wir uns das nicht so vorgestellt haben, aber am Ende kann es sein, dass der Geliebte wie ein Kind zu behandeln ist und dass man ihm die Windeln wechselt. Ich weiß das, denn die Oma hat es mir erzählt, sie hat gesagt, dass sie immer die Wäsche vom Opa wascht und sie hat auch immer seine Unterhosen auf einem Zaun aufgehängt. Das habe ich immer ein wenig komisch gefunden, denn sonst ist auf dem Zaun keine Wäsche aufgehängt, also der Rest der Wäsche der Familie scheint an einem Platz zu trocknen, der für die Nachbarn nicht zugänglich ist. Vielleicht meint die Frau ja, dass das Leiden der Familie ein Ende hat, das Leiden im Sinne der Mühe, die die Pflege eines alten, kranken Menschen bereitet. Ich schaue die Frau an, ich bemühe mich, sie nicht anzustarren. Ich glaube, dass das Leben als Ganzes für sie Leiden ist und dass es endet, wenn der Mensch seinen Weg nach oben antritt. Das meine ich aus ihren Gesten und Worten erkennen zu können. Sie setzt sich neben mich. Sie ist geruchsfrei. Etwas fällt ihr ein und sie fragt, ob etwas gelesen wurde. Man wiederholt die Frage für die Oma, sie hört schlecht. Sie fährt wie aus dem Schlaf hoch und zuckt die Achseln. Sie wirkt sehr allein. Kann sein, dass sie ihrem Mann gesagt hat, was er zu tun hat, aber ich glaube, dass sie jetzt verlassen ist. Die Frau neben mir zieht einen Rosenkranz aus der Tasche und beginnt. "Ave Maria, piena di grazie..." Sie wird gebeten, sich neben die Oma zu setzen, weil die ja nichts hört. Eine ältere Dame setzt sich neben mich. Anfangs ist es ganz lustig, dem Rosenkranz zuzuhören, irgendwann stellt sich ein Moment der Leere im Kopf ein, keine Gedanken mehr, es ist eine Meditation, ich weiß, warum sie das machen, aber sie müssen auch wieder damit aufhören, irgendwann wird ihnen die Luft ausgehen. Ich frage mich, wie oft man bei einem Rosenkranz ein Ave Maria beten muss und versuche den Rhythmus in dem Singsang zu erkennen, aber es gelingt mir nicht. Ich möchte mich im Sofa zurücklehnen, aber es kommt mir unhöflich vor. Mir tut das Kreuz weh. Ich starre auf den Teppich. Das Beten hört nicht auf. Ich höre es rauschen, ich höre das Nichts in meinem Kopf. Die Frau neben mir bittet Jesus, er möge sie vom Feuer des Winters befreien. Wieso? Ist es nicht angenehm im Winter ein Feuer zu haben? Beim vierten oder fünften Mal, als diese Bitte ausgesprochen wird, komme ich zu dem Schluss, dass es das Feuer der Hölle sein muss, Inferno, nicht Inverno. Ich denke an die Kinder, die alleine zu Hause sind und sicher Spiele auf ihren Mobiltelefonen spielen. Ich wünsche mir, sie mögen kommen, damit ich gehen kann. Während des Beten kann ich nicht gehen, also wünsche ich dringend ein Ende herbei. Ich bemerke, dass die Frau mit dem Rosenkranz die Gebete zäsiert, in dem sie eine Anzahl der Mysterien von Jesus Christus erwähnt. Sie ist beim vierten. Wenn ich nur wüsste, wieviele es gibt. Nun sieht die Rosenkranz-Dramaturgie vor, dass man aufsteht, das mache ich nur allzu gerne, denn so kann ich meine schmerzenden Glieder strecken. Nichts und niemand wird mich dazu bringen, mich noch einmal auf dieses unbequeme Sofa zu setzen. Die Traktorfahrerin wird gebeten, etwas zu lesen, damit die Frau mit dem Rosenkranz darauf sagen kann: "Prega per noi." Also scheint es sich um Fürbitten zu handeln. "Prega per noi!" stößt sie immer wieder ungeduldig hervor. "Muss ich weiterlesen?" fragt die Traktorfahrerin an einer Stelle, es ist eine normale Frage, aber dennoch erinnert sie mich an meine Kinder, wenn sie nicht mehr lernen wollen. Ja, sie muss weiterlesen. Ich verliere langsam die Geduld, aber da kommt es: das fünfte Mysterium, der Tod Jesu. Danach kann es doch wohl nichts mehr geben. Zum Glück fällt mir in diesem Moment die Auferstehung nicht ein. Und es ist wirklich vorbei. Man macht ein Kreuzzeichen. Ich auch. Ich stehe noch ein wenig herum und tue so, also wäre ich unschlüssig. In Wirklichkeit weiß ich genau, dass ich gehen werde. Ich hätte gerne gesehen, wie die anderen sich beim Verlassen des Hauses benehmen, aber keiner geht, also gehe ich grußlos, was glaube ich ok ist, also was soll ich auch sagen: "Wir sehen uns dann auf dem Friedhof, Leute"? Ich grüße auch nicht mehr den Toten und es ist mir egal, ob die Leute über mich reden. Ich rede nämlich auch über sie und zu Hause verrate ich, dass die Frau neben mir Winter statt Hölle gesagt hat. Der Fußballer fragt, ob ein Sarg teuer ist und ich erzähle ihm alles über Särge, was ich weiß und setze hinzu, dass ich verbrannt werden möchte. Bevor ich ihm einen konkreten Auftrag geben kann, bittet er mich, nicht mehr über den Tod zu sprechen.

Samstag, 11. Mai 2013

Pazienza

heißt auf italienisch Geduld und wird häufig gebraucht. Seit vielen Jahren versuche ich zu verstehen, ob Pazienza heißt: "Man muss Geduld haben, dann werden sich alle Probleme lösen.", oder ob Pazienza heißt: "Da kann man halt nichts machen."
Wenn ich zwei Mal pro Jahr das Zugticket in die große Stadt kaufe, wappne ich mich mit viel Pazienza. Ich muss dazu auf einen 20 Minuten entfernten Bahnhof fahren und ich weiß schon, dass ich das mehrmals tun muss, denn es klappt nie beim ersten Mal, aber immer passiert auf diesem Bahnhof etwas, was wert wäre, aufgeschrieben zu werden. Diesmal handelt es sich um den Aushang, den ich vor dem unbesetzten Schalter finde: Dieser Ticketverkauf ist vom 7.- 10.5 von 13:43 - 20:57 geöffnet. Da bekommt man Lust zu rechnen, stimmts? Und es ist tatsächlich keiner da um 12 Uhr. Es handelt sich um einen Aushang der Ferrovie dello stato, also kann man auch keinen abwesenden Schalterbeamten beschuldigen. Aber der Bahnhof ist groß, sonst wäre ich ja nicht hier. Kleinere Bahnhöfe sind ja schon lange mit nicht funktionierenden Self-Service-Ticket-Maschinen ausgestattet. Immerhin habe ich damit gerechnet und bin nicht weiter beunruhigt.
Ich will die frei gewordene Zeit nutzen und die Fotos von der Tanzveranstaltung im letzten Jahr abholen. Bezahlt sind sie schon, muss ich zu meiner Ehrenrettung sagen. Ich fahre eine Straße hinauf und bleibe vor großen Betonblöcken stehen. Dahinter befindet sich ein großer Erdhaufen, der auf die Straße gerutscht ist. Aha, daher kam mir das kleine Auto mit der erinnerungswürdigen Aufschrift "Nannini", das vor dem Bahnhof an mir vorbeigefahren ist, kurz darauf wieder entgegen. Noch einer, der nicht automatisch wusste, dass diese Straße gesperrt ist. Kein Schild weist auf die nicht benutzbare Straße hin. Wozu auch, wenn man davor steht merkt man es ohnehin und so eilig wird man's schon nicht haben, oder?
Auf einem Umweg gelange ich doch zum Fotografen. Sein Geschäft ist ein enger, langer Schlauch, in dem gerade zwei Personen nebeneinanders stehen können, wenn sie sich kennen. Unbekannte Kunden stehen hintereinander. Vor mir steht einer, zu dem der gutaussehende, wenn auch in die Jahre gekommene Fotograf, Tonino genannt, soeben sagt: "Das ist ein Grund! Mein Vater, dem INDAP (ich glaube, das ist die staatliche Pensionsstelle) 200 Euro Pension gibt und er sitzt im (pantomimische Darstellung eines Rollstuhls, der mit 80 kmh dahin fetzt)." Wofür das ein Grund ist, weiß ich noch nicht, aber als der andere Kunde den Laden verläßt, nachdem ich böse geschaut habe und Tonino mich auch böse angeschaut hat, erfahre ich es: "Man braucht ein Maschinengewehr. Finden Sie nicht?" sagt Tonino, während er die Fotos sucht. Da bin ich aber ganz seiner Meinung. "Ja, manchmal schon." sage ich zurückhaltend. Ich kann ihm ja jetzt nicht sagen, dass ich eine Pumpgun will, ich weiß nicht, auf wessen Seite er steht. "Anders geht's nicht mehr." Er durchsucht erfolglos die Reihen an Kuverts, die da lagern und ich bekomme Herzklopfen. Nicht meine schon bezahlten Fotos nicht finden, bitte! Er unterbricht seine Suche und wendet sich mir zu. "Ich sage nicht, dass der Mann, der auf die Carabinieri geschossen hat, recht hat." Aha, es gab also einen inspirierenden Vorfall. "Nein", sage ich. Soll ich sagen, dass Carabinieri auch nur Menschen sind? Tonino nimmt mir die Entscheidung ab und sagt: "Ich sage auch nicht, dass man wirklich schießen soll, aber man muss ihnen Angst machen. Timore!" Ich nicke. Ich habe Angst, dass er meine Fotos nicht findet. Mir ist immer noch nicht klar, wem er Angst machen will. "Wir Bürger sollten uns vereinigen und Gewehre nehmen. (Hat er gesagt "unsere" Gewehre?) Und dann stellen wir die Politiker in einer Reihe auf. Und dann werden wir ja sehen, ob sich die Polizei vor sie oder hinter sie stellt. Wenn sie sich vor sie stellt, dann heißt das: Krieg!" Ich nicke wie einer von diesen Spielzeughunden, die in den 70er Jahren auf den Autoablagen standen und ununterbrochen den Kopf auf und abbewegten. "Aber dann müsste man ihnen einen Katheter ansetzen!" sagt Tonino verächtlich. Wieso wechselt er das Thema jetzt zum Krankenhaus, denke ich, dann verstehe auch ich. Ich lache. Das feuert Tonino an: "Windeln muss man ihnen anlegen, weil sie sich anmachen werden vor Angst!" Ich weiß immer noch nicht wer, die Politiker oder die Polizei, aber ziemlich wahrscheinlich beide. "Die Carabinieri," sagt er und blättert wieder in den Kuverts herum, nachdem wir ein paar Varianten des Namens der Kinder durchgegangen sind, "die Carabinieri halten auf der Autobahn LKWs auf und konfiszieren Computer. Die behalten sie dann selber und geben sie ihren Kindern. Oder in der Schule. Zuerst bekommen die Professoren und ihre Kinder. Und wenn ich sage: und meine Kinder? Leider nichts mehr da." Klingt nach Albanien, stimmt aber wahrscheinlich.
Er hat die Fotos gefunden und knallt sie mir vor die Nase. Sie waren unter einer originellen Version des Vornamens des Kindes eingeordnet. Die Fotos sind gut, er ist ein guter Fotograf und jetzt macht er wieder das Zeichen des Durchladens eines Gewehrs. "Man kann nur schießen, sage ich. Habe ich nicht recht? Und dabei bin ich Demokrat!" Jetzt, wo ich die Fotos habe, mache ich mir Sorgen, dass ich den Autobus in die Provinzhauptstadt verpasse. Ich nicke jetzt rascher, in der Hoffnung, dass ich so schneller aus dem Laden komme. Aber Tonino weiht mich nun ein: "In unserer Stadt gibt es 2800 Grillini, Sie wissen schon, die Grillo gewählt haben. Ich sage zu ihnen: wenn wir unser großes Fest habe, warum stellen wir uns nicht schweigend auf die Straße, um zu protestieren. Aber nein, da ziehen sie sich lieber für 200 Euro, und wer weiß, wann sie die bekommen, eine Verkehrshilfe-Jacke an und pfeifen die Autos herum. Nichts haben sie gemacht. Also wundern Sie sich nicht, wenn ich finde, man kann hier Probleme nur mehr mit dem Gewehr lösen. Wie in Amerika." Auweia, jetzt hat er mir mein Argument, sollte ich aufgefordert werden, zu sprechen, aus dem Mund genommen und ich muss aufhören zu nicken. "Demokratisch, wie in Amerika. Mit der Waffe in der Hand, aber demokratisch." In seinen Ausführungen stellt er gerade Indianer und Weiße mit großen Gesten gegenüber, als ein alter Mann mit einem adretten blauen Blazer den Laden betritt. Am Revers trägt er eine Nadel, die für etwas steht, das Toninos Aufmerksamkeit erregt. "Donnerwetter, wie elegant..." beginnt er den Alten in ein Gespräch zu ziehen. Ich bin nicht beleidigt. "Arrivederci!" rufe ich fröhlich und laufe erleichtert auf die Straße. Das nächste Mal schießen wir in Gedanken weiter, Tonino.
Dem ist eindeutig die Pazienza abhanden gekommen.

Übrigens ist am Sonntag Muttertag und anlässlich dessen hat das Kind in seiner Klasse mir ein Zeugnis ausgestellt. Ich habe unverhofft gute Noten bekommen, vor allem die Bestnote in Sportlichkeit und Autofahren freut mich, für Geduld habe ich aber nur die Note 9 statt 10. Neben der Wertung hat das Kind eine Frau mit zu Berge stehendem Haar gezeichnet, aus deren Kopf Rauchschwaden dringen. Die Augen sind extrem vergößert, ich nehme an, es handelt sich um die Illustration des Satzes: Die Augen quollen aus ihren Höhlen. Ich trage dieses Urteil mit Fassung und immenser Pazienza.


Donnerstag, 14. Februar 2013

Atmen ist schön

und es geht ganz leicht.
Man vergisst es nur dauernd.
Genug geschlafen zu haben ist auch hilfreich. Letztens ist es mir gelungen, mich wohl zu fühlen. Obwohl die Professorin gesagt hat, meine Kinder sollen zu einer Psychologin gehen, weil sie eben keinen Satz analysieren können und weil sie an ihrem Unterricht nicht interessiert sind. Und obwohl mir der Inhalt des Urintests meines großen Sohnes, der in einer Fußballmannschaft spielen will, über die Finger gelaufen ist. Das war alles schrecklich. Sehr schrecklich. Und ich bin dagestanden (nachdem ich mir die Hände gewaschen hatte und nachdem ich einen Kaffee getrunken und ein Cornetto Crema Amarena gegessen hatte) und obwohl das alles so schrecklich war, habe ich mich wohl gefühlt. Ich nahm an, dass es daran lag, dass ich genug geschlafen hatte. Denn das ist mein Plan: 8 Stunden täglich zu schlafen. Vielleicht lag es einfach am Kaffee und am Cornetto. Oder daran, dass ich mir die Hände gewaschen hatte?
Ich werde es weiter probieren. Das mit den 8 Stunden gelingt mir nur selten. Das mit dem Kaffee und dem Cornetto noch weniger. Mir die Hände zu waschen, sollte ich im Auge behalten, für den Notfall.
Aber das mit dem Atmen ist immer wieder eine Überraschung.
Ich hab das nicht erfunden. Meine gebildete Freundin hat es mir schon oft gesagt, aber jetzt möchte ich es in die Welt hinausschreien: Atmet, Leute, atmet.

Mit der Psychologin habe ich telefoniert. Sie hat zwar nicht gerade gelacht, aber fast. Dann hat die Professorin ihre Anfrage zurückgezogen. Wenn ich mit ihr spreche, weicht sie immer sehr weit zurück. Ich weiß, dass sie einen schlechten Atem hat, vielleicht weiß sie das auch oder auch ich habe einen schlechten Atem. Das wird mich sicher nicht daran hindern, weiter zu atmen. Im Gegenteil.

Und den Urin hat der Sohn nochmal abgegeben. Diesmal hat er den Becher sehr gut zugeschraubt. War auch nicht so schwer.

Also alles zusammen: atmen, schlafen, Kaffee trinken, Hände waschen, Cornetto essen (nach Möglichkeit Crema Amarena), mit gescheiten Menschen telefonieren und Becher gut verschrauben, vor allem wenn Urin drin ist. In zweiter Linie: arbeiten, lesen, schreiben. Aber nicht auf facebook.

Mittwoch, 30. Januar 2013

Un vero disastro

Keine Angst, das ist nur die Bewertung des Grammatiktests meiner großen Söhne. Ein echtes Desaster.

Da wollte die Lehrerin wohl das sein, was man auf italienisch "spiritoso" nennt. Ironisch? Geistreich?

Manchmal muss ich an eine Episode denken, die aus der Zeit stammt, als ich eine junge Studentin am Institut der Theaterwissenschaft war und in einem Seminar über eine Theorie berichtete, die meiner Meinung nach eine gewisse Gefahr in sich barg. "Kollegin", sagte der Seminarleiter (und ich denke, das beste, was einem an der Universität passieren kann, ist, Kollegin genannt zu werden). "Kollegin, gefährlich ist, wenn das Dach jetzt über uns einstürzt, aber diese Theorie kann nicht gefährlich sein." Ich habe ihn gehasst, den Seminarleiter, denn ich war ungefähr 19 Jahre alt, und es war wirklich ziemlich viel gefährlich rund um mich. In den vielen Jahren, die seitdem vergangen sind, habe ich in regelmäßigen Abständen an dieses Ereignis denken müssen und durch den Grammatiktest meiner Kinder kam es zur Katharsis.

Und ich habe es geschafft, ganz gegen mein dringendes Bedürfnis, mich total und unaufhaltsam aufzuregen, beim Abendessen einfach zu sagen: "Kinder, was eure Lehrerin da meint, scheint mir ein bisschen übertrieben. Wenn unser Hügel im Meer versinkt, dann ist es ein Desaster. Wenn unser Garten auf das Haus unseres Nachbarn Vincenzo rutscht, dann ist es ein Desaster. Wenn ihr nicht imstande seid, einen Satz zu analysieren, dann ist das zwar ein Problem, aber ein Desaster ist es nicht." Meine Kinder sind überrascht und verwirrt.

Selbst MM ist überrascht und verwirrt.

Am nächsten Tag frage ich die Kinder, ob die Lehrerin jetzt ihre Drohung wahr gemacht hat und mich in die Schule bestellt hat, aber sie sagen "Nein, sie hat nur gesagt, wenn wir uns nicht mehr anstrengen, wird sie uns nicht mehr beachten." Ich sage: "Da hat sie wohl die falschen Worte gewählt, denn das wäre euch ja mehr als nur recht, wenn sie euch nicht beachten würde. " Meine Kinder grinsen belustigt. "Sie meinte aber, wenn ihr euch nicht mehr anstrengt, werdet ihr sitzen bleiben. Das wollte sie sagen." Meine Kinder sind nicht mehr belustigt. Wenn schon schwarze Pädagogik, dann aber richtig. Wenn schon schlechte Noten, dann schlechte Noten, aber keine witzigen Ausdrücke. Danke.

Montag, 28. Januar 2013

Musik

"Music was my first love, and it could be my last", sang Barry Manilow, als er noch (gemeinsam mit Rod Stewart) der einzige Mann in meinem Leben war. Das war auch ungefähr die Zeit, als ich in mein Tagebuch schrieb: "Solange es Wein und Musik gibt, werde ich mir nicht das Leben nehmen." Und so ist es auch viele Jahre später, trotz Wirtschaftskrise.

Wobei sich das mit der Musik natürlich verändert hat. Über den orangen Philips-Plattenspieler versus you tube brauchen wir hier nicht zu reden, kommen wir lieber gleich zur Sache und das ist die mit der Mittelschule mit dem musikalischen Schwerpunkt, man erinnert sich tralalalala, die Söhne spielen Schlagzeug und singen und es gibt ein Orchester und eine königliche Musiklehrerin. Jetzt muss ich auch das Kind in diese Schule einschreiben und das Kind soll ein Instrument auswählen. Das Kind ist, auch das weiß man, ein wahrer Nonkonformist und geht nicht Fußball spielen sondern in klassischen Tanz. Das Kind kündigt bereits vor der Vorstellung der Instrumente an, dass es gedenkt, Harfe zu lernen. HARFE? Nein, das Kind hat nur einen Scherz gemacht. Sagt es.

Ich gehe  mit dem Kind zur Präsentation der Instrumente und wo etwa 50 Kinder mit glänzenden Augen einer Vorstellung von 8 Musikinstrumenten folgen sollen, sitzen etwa 12 Kinder, dafür kommen mir gleich mehrmals die Tränen. Da gibt es Querflöte, Harfe, Klavier, Oboe, Klarinette, Trompete, Percussion und Geige. Die Lehrer stellen sich vor und ein oder mehrere Schüler geben etwas zum Besten. Die Instrumente werden auch für die nächsten drei Jahre ausgeliehen. Meine Freundinnen in der großen Stadt bekommen große Augen, ich weiß. Meine Freundinnen in der mittelgroßen Gemeinde in Kalabrien sind leicht genervt. Was? Auch noch ein Instrument? Eine Mutter der fünf Kinder aus der Klasse meines Kindes sagt, ihr Sohn sei nur gekommen, um die Instrumente zu sehen, er werde sicher keines spielen, er ginge ja ohnehin schon Fußballspielen. Andere Mütter bringen ihre Kinder nicht, denn wenn diese auch ein Instrument erlernen werden, dann muss ihnen das bitte nicht vorgestellt werden. Man weiß doch, was das ist, oder?

Ich musste hingehen, damit mein Kind sieht, dass es genauso gut Oboe lernen könnte, auch Geige ist nicht schwach, aber das Kind, zwar elektrisiert von der gesamten Darbietung, bleibt bei seiner Entscheidung: es wird Harfe lernen. Da hilft auch nichts, dass der  Dirigent, der Freund der Königin, auftritt und sich herausstellt, dass er nicht nur dirigiert, sondern auch Trompete unterrichtet und der Chef der Blasmusikkappelle des Orts ist. Ich denke zwar, dass ich vielleicht Trompete statt Organetto lernen sollte und das Kind ist auch sehr erfreut, dass die beiden Schüler nun "When the saints go marchin' in" blasen, aber das hält ihn nicht davon ab, nach der Darbietung zu sagen: "Ich habe nur eine Frage: können auch Männer Harfe spielen, oder ist das nur was für Frauen." In diesem Moment kommt der Dirigent auf uns zu und ich frage mich erstens, ob er sich an unser aufregendes Erlebnis im Theater erinnert und zweitens, ob ich aus Gründen des allgemeinen Wohlbefindens mich jetzt blitzschnell in den Dirigenten verlieben soll, und da ist er schon in meinem olfaktorischen Bereich und NEIN, das habe ich in der Frischluft vor dem Theater nicht ahnen können: er ist Zigarrenraucher. Er fragt, ob er was für uns tun kann. Danke, aber mein Sohn will Harfe lernen.

Ich mache das Kind mit der Harfelehrerin bekannt. Und das ist Liebe. Ja, es gibt noch einen anderen kleinen Jüngling, der Harfe lernt. Das Kind ist beruhigt. Lehrerin und Kind planen bereits, wie sie mit der Harfe lateinamerikanische Rhythmen zupfen werden. Der Percussionlehrer ist noch dazu der Mann der schönen peruanischen Harfenfrau und im lateinamerikanischen musikalischen Gehirn werden rhythmische Familien-Happenings ausgesponnen.

Ich will heim zu meinem Kassettenrecorder und Barry Manilow. Und ich gestehe: es gab mehr als Barry und Rod. Da waren auch die Bay City Rollers...Ihnen ist es zu verdanken, dass ich auch heute noch davon besessen bin, dauernd einen Rock'n'Roll Love Letter schreiben zu wollen. Das kann ich dann tun, wenn nächstes Jahr gezupft und getrommelt wird.

Mittwoch, 2. Januar 2013

2013 mit Bert Brecht

In den letzten Wochen und dann nur mehr Tagen hab ich wieder einmal die Welt nicht verstanden. Nicht nur, dass man alles unter Dach und Fach für ein Weihnachtsfest haben soll, soll man auch einen ruhigen Advent verbringen. Schon mal eine Quadratur des Kreises, wenn man bedenkt, dass alle in diesen letzten Tagen vor Weihnachten noch ihre lang vorbereiteten (und auch nicht im Sommer begonnenen) künstlerisch wertvollen Aufführungen machen und im geringsten Fall einfach in der Schule singen (damit das Gesù Bambino geboren werden kann, wie die Italienischlehrerin des Kindes es leicht geschwächt ausdrückte). Die Charles Dickens Aufführung der großen Kinder war ein wirklicher ungeschmeichelter Erfolg und der Erfolg der Kinder als Sänger und Darsteller und vor allem als Mädchenhelden ganz real. Meine Beanspruchung davor auch. Dazu sagt man Stress, heutzutage.
Das wirklich Unerbittliche aber ist, dass man, ist Weihnachten einmal vorbei, nicht einmal Luft holen kann und schon muss man Blei gießen, um das nächste Jahr positiv zu interpretieren. Den Programmpunkt mit dem Blei haben wir diesmal ausgelassen und den mit dem Sekt auch. Wir haben schlaftrunken ein Feuerwerk aus dem Zug aus gesehen, in der angeblich sehr hübschen Stadt Villach, im österreichischen Bundesland Kärnten. Ich betone das, weil meine Kinder nach dem Weihnachtsferien eine Prüfung in Geografie zum Thema Österreich ablegen müssen und ich betone nun alles, was mit Österreich zu tun hat.
Der Betrug an diesem Jahresende und nicht nur diesem ist, dass unter dem lauten Plopp der Sektkorken und dem beruhigenden Geglitzer der Christbaumkugeln untergeht, dass in meinem Postkasten alle Jahresabrechnungen liegen, die ausgeglichen werden sollen und kaum jemand will mir dabei einen Überschuss auszahlen und nächste Woche alle Mitgliedsbeiträge beglichen werden sollen, die sich auf das neue Jahr beziehen. Diese beiden Monate sind mit Abstand die teuersten im ganzen Jahr. Heute Nacht habe ich schon sehr kindisch davon geträumt, dass Beamte des italienischen Fernsehens Rai hier in unserer ländlichen Gegend Fernsehkonsumenten suchten, die noch nicht den Mitgliedsbeitrag bezahlten. Peinlicherweise habe ich ihnen im Traum gleich gesagt, dass ich zahle, wahrscheinlich wollte ich verhindern, dass sie in mein ungeputztes Haus kommen.
Und in dieser kurzen Zeit, die mir im Monat Dezember zum Denken geblieben ist, habe ich es weder geschafft, das letzte Jahr Revue passieren zu lassen und meine Schlüsse daraus zu ziehen, noch das neue Jahr zu planen und wenn schon nicht gute Vorsätze zu machen, dann doch immerhin mir das eine oder andere Ziel zu setzen. Derer gäbe es ja viele, man müsste sie nur in den richtigen Rahmen stellen.

Ein Ziel ist jedoch gewiss und dazu braucht es kein neues Jahr: ich will mehr schlafen, denn ich krieche, wie man bei mir zu Hause, also in dem Viertel, in dem ich aufgewachsen bin, sagt: am Zahnfleisch daher. Meine Mutter verwendet solche Ausdrücke nicht, dabei sind sie sehr bildlich. Ich bin also sehr müde und manchmal weiß ich nicht mehr was ich gerade tun wollte. Das heißt glaub ich auch Stress.
Und diesen Vorsatz versuche ich jetzt gleich zu realisieren, solange die Schule es mir noch ermöglicht und sofort sprießen kleine grüne Blättchen dort, wo nichts mehr hängt, oder Eiszapfen baumeln. Mein erstes grünes Blättchen sind drei Worte, die mir beim Aufstehen (endlich ausgeschlafen, zum ersten Mal seit einigen Jahren) in den Sinn kommen und sie stammen von Bert Brecht: Tanzen, Singen, Freundlich Sein. Ich weiß, sie stammen aus dem Gedicht "Vergnügungen" und zeigen eine weiche Seite vom Brecht. Ich behaupte das jetzt jedenfalls. Oder hat er Lesen, Singen, Freundlich Sein geschrieben? Nein, ich schau das jetzt nicht nach, nein. Für mich sind es jetzt die drei. Immense Herausforderungen, denn getanzt wird mit dem Körper der Dattilografa ja nicht mehr, wie sie beschlossen hat (und dann zur Über-90-jährigen Party eingeladen wurde oder zum Zumba - NEIN!), aber vielleicht findet sich noch eine Alternative zur überwuzelten Möchtegern-Discoqueen. Im übrigen bleibt mir immer noch die Tarantella. Zum Thema Singen fällt mir auch was ein, aber jetzt muss ich die Kinder wecken und dabei versuchen freundlich zu sein. Und wenn sie beim Frühstück sitzen, schau ich nach, ob der Brecht wirklich getanzt hat.

Donnerstag, 6. Dezember 2012

A christmas carol

Das Kind und ich warten darauf, dass die großen Jungs ihre Proben für die Weihnachtsaufführung absolvieren. Wir stehen in der Aula der Schule. Auf dem Boden wälzen sich zwanzig bis dreißig Mädchen ohne Musik, erst am Ende ihrer ungelenk wirkenden Bewegungen wird kurz die Musik eingespielt. Ein Musical , „Canto di natale“, „A Christmas Tale“ von Charles Dickens, das ich letztes Jahr nach Weihnachten mit großem Vergnügen gelesen habe. Das Kind schwitzt in der Hand, in der es seine nicht fertig gegessenen, ekelhaft schmeckenden, aber süchtig machenden Käseflips oder -flops verkrampft hält. Wir leiden. Ich starre die Verlobte aus dem Vorjahr an. Nie hat man erfahren, warum diese wunderbare pathetische und sehr theoretische Liebesgeschichte zwischen ihr und dem Rallyefahrer geendet hat, und er wird sehr unwirsch, wenn man darüber sprechen möchte. In Wirklichkeit ist es auch ganz egal, mir zumindest, ich denke nur manchmal, man müsste sich am Seelenleben seiner Kinder interessiert zeigen, was ganz und gar nicht zutrifft. Die großen Jungs sind in einem Zimmer versteckt und ab und zu kommt einer von ihnen extrem lässig und doch unlocker durch die Aula auf mich zugestapft, um Fluchtpläne zu besprechen. Erst der Rallyefahrer, der zum Fußball muss, dann der große Sohn, den die Panik befällt, ich könne ihn vergessen, während ich den Rallyefahrer zum Fußball bringe. Ich gebe ihnen das Kind mit. Der Rallyefahrer öffnet die Tür des Zimmers und schaut heraus, als wäre er der Direktor dieser Schule und ich eine wartende Bittstellerin. „Eine Minute!“ deutet er mir. Ich habe also die Freundlichkeit, zu warten. Das Kind hoffe ich, amüsiert sich in dem Zimmerchen bei den geheimen Proben mehr, als bei der Ansicht dieser traurigen stummen Ballettaufführung.

Die Musiklehrerin kommt an mir vorbei und sie sagt: „Complimenti!“ Einen Moment lang finde ich das ganz normal. Ich nehme an, sie macht mir Komplimente für mein Leben, dafür, dass ich Managerin dieser drei wunderbar aktiven Kinder bin und meine Nachmittage im Auto verbringe, ohne dabei zu schreien, dafür, dass ich einen Ofen beheize, weil uns das Geld für die Heizung ausgegangen ist, dafür, dass ich es in neun von zehn Fällen schaffe, die Kinder mit einem gewaschenen Dress zu ihrem Sport schicke, auch wenn sie dieses vorher föhnen mussten. Dafür, dass meine Kinder in neun von zehn Fällen ihre Hausübungen machen, also sagen wir mal, beim Rallyefahrer in fünf von zehn Fällen, aber dafür hat er andere Qualitäten. Seine Italienischprofessorin findet ihn sympathisch, zum Beispiel. Mir kommt das also nicht komisch vor, dass die Musikprofessorin mir „Complimenti!“ zuraunt und ich lächle freundlich. „Ihre Kinder singen wirklich gut!“ „Aber dann gilt das Kompliment ihnen!“ sage ich. Ich bin enttäuscht, aber ich muss ehrlich zugeben, dass wenn meine Kinder gut tanzen, singen und zeichnen, dann hat das ganz und gar nichts mit mir zu tun, wenn man von meiner Güte absieht, sie das machen zu lassen und wenn es sein muss, ausgiebig, denn ich selbst kann weder das eine noch das andere und zeichnen schon gar nicht. Außerdem muss man ihr überhaupt Komplimente machen, dass sie diese beiden Jungs dazu gebracht hat, den Mund aufzuklappen, und in ein Mikrofon zu röhren, denn sie sind ja dem Leben gegenüber verpflichtet, aus ihrem Mund ausschließlich das Wort „Nichts“ herauszuquetschen. Zumindest zu Hause, auswärts bereichern sie ihren Wortschatz eventuell mit Schimpfwörtern. Manchmal vergessen sie auch kurzzeitig, dass sie pubertieren und sind ganz nett. Diese Musikprofessorin also, hat bereits letztes Jahr den Rallyefahrer zu ekstatischem Flötespiel animiert, was mich lange Zeit denken ließ, sie müsse die Doppelgängerin der wohlgeformten Blonden aus CSI Miami, die mit dem milden Blick und dem ironischen Lächeln, sein. Weit gefehlt. Die Musiklehrerin schaut aus wie die Hexe aus dem Märchenbuch, sie hat zwar keinen Buckel, aber eine Warze auf der Nase. Ok, die Zähne sind ein wenig besser erhalten. Man muss aber gar nicht an eine Hexe denken, denn sie strahlt Energie und etwas aus, das man schwer benennen kann, vielleicht ist es Präsenz, vielleicht Engagement, Interesse, hm, möglichweise sogar Liebe. Sie lacht viel und hat dabei etwas verschwörerisches. Irgendwie hat sie es geschafft, sich mit meinen Kindern zu verbrüdern, die ihr zuliebe jetzt das Gespenst aus der Zukunft und aus der Vergangenheit singen. „Attento Scrooge!“

„Wir haben sie so bearbeiten müssen!“ sagt sie lachend und legt dem großen Sohn die Hand auf den Arm. „Das denk ich mir!“ sage ich, und frag mich, was hier vor sich geht. Eine andere energische Musiklehrerin mischt sich ein und erklärt mir, dass es ihnen vor allem darum ginge, die Jugendlichen, die besonders reserviert seien, dazu zu bringen, sich zu öffnen. Ohje, ich dachte, sie können singen? Offenbar hätten die Knaben dann eine Kommission (ich will jetzt aber nicht wissen, ob die Schulwarte in der Kommission waren, oder kompetentes Personal) beeindruckt. Was mich beeindruckt, ist, dass mein großer Sohn, der wirklich nicht für seine spontane Art bekannt ist, ein bezauberndes Lächeln im Gesicht hat, während die Hand der Lehrerin auf seinem Arm ruht. Und da beginne ich das Geheimnis der als Hexe verkleideten Fee zu erkennen. Sie hat die Kinder einfach ernst genommen. Nicht mehr und nicht weniger. Tutto qua.

Montag, 19. November 2012

Der Abschied der Dancing Queen

Jetzt, Houston, haben wir ein echtes Problem, eines nämlich, bei dem man nicht einfach fleißig sein kann, oder vertrauensvoll, sondern eines, das man so leicht nicht lösen kann, und ich glaube, es ist das Alter und sein angemessenes Verhalten diesbezüglich. Ich habe mich schon vor ein paar Monaten von meiner inneren Dancing queen verabschiedet, als ich irgendwo im Vorbeigehen Frauen in meinem Alter ausgelassen tanzen gesehen habe. Das schaut einfach nicht gut aus, I can't help it. Das letzte Mal, als ich mich anschickte, das Tanzbein zu schwingen, auf Ritas Hochzeit, als ich gute Gelegenheit hatte, da sich einige unserer Nachbarn als wirklich coole Discotänzer der 80ies outeten, protestierte das Kind, angeblich, weil ich mir einen Muskelriss zuziehen könne, was mir kurz vorher anlässlich eines Federballspiels passiert war. Ich fand ihn einen großen Spielverderber und dachte, dass mein Moment schon noch kommen wird, aber ich glaube, mein Moment ist vorbei. Zu "I will survive" von Gloria Gaynor sollen sich jetzt junge Frauen zwischen 12 und 28 verrenken. Und was mach ich? In meinem Auto plärrt Eminem und fuckt so around und meine Kinder, die den Sound aus ihren Handies holen, wissen glaub ich, hoffentlich, nicht was da genau los ist und ich weiß auch nicht genau, wie ich das Wort auf italienisch übersetzen soll und ob ich als Mutter das wirklich machen soll. Immerhin sind wir dann ja auch gleich bei den Motherfuckern. Das Auto schaut aus, wie ein Lastwagen der Konzerttournee einer boysgroup mit Schlagzeug und Congas und vor allem den entsprechenden boys. Wenn ich ihre Breakdanceschritte mache, dann kugeln sie auf dem Boden vor Lachen und wenn sie mich dann imitieren, sieht es tatsächlich so aus, als hätte sich ein verkappter Schuhplattler in eine Streetgang verirrt.

Was mach ich jetzt? Das ist wichtig! Als ich ein Mädchen war, wollte ich nicht wachsen, weil ich dachte, ich müsste dann Erwachsenenliteratur lesen, oh Graus. Und jetzt? Jetzt will ich nicht alt werden, weil ich dann nicht mehr in der Disco tanzen kann. Und jetzt soll mir keiner daher kommen und erzählen, ich soll mit dem Ehemann einen Tanzkurs machen, nein, das ist sicher lustig, aber kein Substitut.

So you think you can tell, heaven from hell, blue sky from grey.

Soll man dann bei Gelegenheit am Rand der Tanzfläche stehen und wohlwollend nicken? In der Hand nicht einmal mehr eine Zigarette, sondern maximal ein Glas und das sicher nicht mit interessanten harten Getränken gefüllt. Und wen man soll man anschauen? Menschen, die 20 bis 30 Jahre jünger sind? Help! Soll man über Politik und Wirtschaft sprechen, derweilen getanzt wird? Ich will sterben.
Es ist ein Graus und es kommt mir vor, als könnte man niemandes Hand mehr halten, jetzt, wo man dauernd die schwitzigen Kinderhände gehalten hat. Und immer dann, wenn man auf das glitzernde Wasser schauen könnte, liegt man in Wirklichkeit total erledigt im Bett.

 I've been through the desert on a horse with no name, but it felt good to be out of the rain. Haben America einmal gesungen, aber Entschuldigung, so super ist das im Trockenen auch wieder nicht.

Montag, 12. November 2012

Sind so kleine Hände

lautet der Titel eines Lieds von Bettina Wegener, das mir immer schon auf die Nerven gegangen ist. Musste man damals aber hören. Und jetzt musste ich das ganze Wochenende an dieses Lied denken, denn ich war wieder mal gefangen in der Tanzschule vom Kind. Ja, dort, wo ich immer so leide, wenn ich so lange warten muss und die Mütter reden höre. Der Mann, der mit mir in die Schule gegangen ist und der auf facebook immer die guten Sachen veröffentlicht, hat an diesem Wochenende ein schönes Foto gepostet und geschrieben: Komm wir lassen uns erschießen. Wie üblich hat er damit voll den Nerv (den ohnehin blankliegenden) getroffen und ich möchte mich viel lieber erschießen lassen als mit den kleinen Händen in der Tanzschule zu sein, aber: zu spät. Im Dezember wird es eine Tanzaufführung an der Universität geben, deren Reinerlös kranken Kindern zu Gute kommt (nein ich weiß nicht welche Krankheiten diese Kinder haben, und ob der erste Verdienst des Kindes nicht in die Hände der Mafia fällt, aber ich gehe jetzt mal davon aus, dass das in Ordnung ist). Nun muss das Kind viel mit vielen Mädchen tanzen und Frau Direktorin sagt, die Kinder müssten bei der Aufführung ein T-Shirt tragen, welches bedruckt wird und zwar mit den lieben kleinen Kinderhänden. Die Mütter machen das mit ihren Kindern, sagt sie, und ich versuche, außer die Augen weit aufzureißen, keine Reaktion zu zeigen. Meine Reaktion wäre nämlich, ihr an die Gurgel zu springen und zu schreien: "Hören Sie, mir geht das dermaßen auf den Arsch, dass alle glauben, die Eltern wissen nicht, was sie mit ihren Kindern machen sollen, und dass dauernd für ein kreatives Freizeitprogramm gesorgt wird und dass ich eh weiß, dass man mit Kindern basteln und backen soll, aber ich bin total unkreativ und will mit meinen Kindern vor dem Fernseher sitzen und mit ihnen Criminal Minds anschauen, das ist nämlich der gemeinsame Nenner des Fernsehgeschmacks und wenn wir schon beim gemeinsamen Nenner sind: Sie haben keine Ahnung, was ich alles tue den ganzen Tag und wieviele Recherchen ich für meine Kinder anstelle und ich habe keine Zeit, ihnen die Knöpfe an die Hosen zu nähen, deshalb fallen ihnen die Hosen in die Knie und nicht nur, weil es modern ist und sie wollen von mir, dass ich mit dem Kind Leiberln bedrucke? Wenn, wird das Kind das allein machen, es ist nämlich viel begabter und geschickter als ich in diesen Dingen." Ich bin sehr stolz auf mich, dass ich in all diesen Jahren Gratwanderung gelernt habe, nur meine Familienmitglieder anschzureien, die können mich nämlich nicht in eine Zwangsjacke stecken.

Ich denke, das wird man alles noch sehen, denn der Termin der Tanzaufführung ist weit entfernt, aber Frau Direktorin macht Druck und es stellt sich heraus, dass eine Mutter organisiert, dass die Mütter gemeinsam mit den Kindern die Leiberln bedrucken, und mit gemeinsam ist gemeint: alle gemeinsam. Die Frau, die das organisiert, ist die, die letztes Mal, als wir so lange warten mussten, erzählt hat, sie hätten ein Kind getauft. Heimlich, weil die Eltern das nicht wollten. Ob das so stimmt, weiß ich nicht, aber so hat sie es erzählt. Ein weiteres Mal reiße ich einfach die Augen auf: "Nein, das Kind möchte das selber machen." Und wieder vergesse ich das Ganze gleich, ich habe nämlich noch zwei andere Kinder, die zwar keine Leiberln bedrucken müssen, aber Comix für eine Veranstaltung mit einem leibhaftigen Autor zeichnen, Urinproben für den Fußballklub abgeben und meterlange Listen an Hausübungen abarbeiten. Abgesehen davon werden sie von Hormonräuschen geschüttelt und sind extrem anstrengend.

Dann treffe ich die Täuferin zufällig im Vorzimmer der Tanzschule, und sie rechnet mir vor, dass ich allein für die vier Farben, in denen die Hände auf das weiße Leiberl geklatscht werden sollen, neun Euro ausgebe, während es nur zwei Euro sind, wenn wir uns alle zusammentun. Na gut, ich kann jetzt nicht sagen: "Ich zahle lieber sieben Euro mehr, anstatt mit ihnen etwas zu tun zu haben." Ich versuche mir noch eine Hintertür offen zu halten und sage, ich weiß nicht, ob ich das T-Shirt dann schon gekauft haben werde, wenn sich die Mütter treffen, aber es klingt absurd. Für keine dieser Mütter ist es ein Problem, ein weißes T-Shirt zu kaufen, in Gegenteil, sie warten Monate untätig darauf, dass ihnen die Dirketorin der Tanzschule sagt, dass sie JETZT ein T-Shrt kaufen dürfen und dann preschen sie los. Ich weiß, dass klingt ungerecht, wenn ich das so schreibe, es ist aber nicht ungerecht, es ist wahr.

Der Samstag kommt, ich habe das T-Shirt, die Mütter treffen sich eine halbe Stunde vor dem Beginn der Tanzstunde, ich habe die zwei Euro schon gezahlt und ich habe vor, in der zwei Stunden dauernden Tanzprobe meinen wöchentlichen Einkauf an Lebensmitteln zu absolvieren. Ich habe zwar noch kurz den Gedanken, dass man in einer halben Stunde kein T-Shirt bedrucken kann, bin aber zu naiv, zu zerstreut, zu bescheuert, mir darüber im Klaren zu sein, was da auf mich zu kommt. Natürlich will keiner in einer halben Stunde das tun und während unsere lieben Kinder tanzen, knien wir in der Garderobe auf dem Boden und drucken. Da ich schnell wieder weg will, beginne ich gleich, mit einem Schneebesen die Farben anzurühren. Das Leiberl vom Kind ist das erste, ein Prototyp sozusagen, denn das Kind ist das einzige männliche Mitglied dieser Truppe und wird deshalb immer bevorzugt behandelt. Ok, die Farben sind angrührt, die Zeitung auf dem Boden ausgebreitet, im Leiberl steckt auch eine Zeitung, es sind etwa 12 Mütter im Raum, alle reden, die Täuferin und ich führen das Ganze an, es wird heiß, das Kind kommt, alles geht erschreckend langsam, denn vier Farben, und dazwischen die Hände abwaschen mit dem Kind, das sagt: "Mama, das ist das Damenklo, ich hab ein anderes." Ich reduziere innerlich die Einkaufsliste aufs Essenzielle und fahre in Gedanken bereits mit überhöhter Geschwindigkeit, während jetzt erst die Kreativität ausbricht. "Der Gedanke ist der des freien Spiels der Kinder mit den Farben!" sagt die Täuferin. Die Mutter der Direktorin kommt und sieht das halbfertige Leiberl und sagt: "Hier muss noch eine blaue Hand hin! Er ist doch der einzige Junge, hier muss er noch eine blaue Hand machen." "Willst du das nicht machen?" frage ich sie. Nein, das Kind, bereits auf dem Weg zurück zur Probe, wird noch einmal zurückgepfiffen, blaue Hand, das Kind ist sehr freundlich und zeigt gerne die teure Zahnspange, die sein grauenhaftes Gebiss hollywoodlike macht und zwar in echt, danke Dottoressa Francesca. Ich gehe mit ihm die Hände waschen, na gut halt aufs Herrenklo und sehe die Spritzer in der Farbe "Fuchsia", ein Wort, das mir schon die Schweissperlen auf die Strin treibt auf seiner Tanzuniform und schaue so, dass er sagt: "Mama, dass war die Dame, die mir die Farbe auf die Hand gestrichen hat." Später sagt mir eine Frau, dass die Farbe beim Waschen rausgeht, aber wozu bedrucken wir dann die T-Shirts? "Mono-Uso?" frage ich. Natürlich geht die Farbe nicht aus dem Tanzdress, das weiß ich jetzt. Andere Kinder kommen, andere Mütter reden. Die Mädchen dürfen nur eine Farbe auf die Hände streichen, sonst geht ja bei der Probe nichts weiter. Eh klar. Ab und zu will ich der Täuferin sagen, dass wir das Ganze ein wenig industrialisieren müssen. Dass ich noch zum Einkaufen komme, glaube ich ohnehin nicht mehr, aber langsam bekomme ich Angst, ich verbringe die halbe Nacht in der brütend heißen Garderobe, in der ich jetzt auch noch das Leiberl des Kindes föhne und ein paar andere auch. Es ist nämlich nicht klar, ob man das T-Shirt seines ureigenen Kindes macht oder alle und die meisten machen das eigene und alle, aber ein paar Mütter machen vor allem das eigene, was ja auch ok ist, zumal andere Mütter nur kritisch schauen. Auch das kann ich verstehen, kritisch schauen ist das, was ich am allerbesten kann auf der Welt, aber wenn ich sehe, dass die ehemalige Englischlehrerin des Kindes sehr besorgt schaut und sagt: "da werdet ihr nie fertig" und bei der Diskussion um die blaue Hand beiträgt: "da steht doch die Mutter, sie soll das entschieden!", dann denke ich nur, nein, nur kritisch dreinschauen ist auch zu wenig. Ich müsste ihr sagen: "Hören sie, sie dumme Kuh, ich habe keine Worte, um auszudrücken, wie wurscht mir diese blaue Hand ist, weder in italienischm noch in deutsch oder englisch!" Ich sage kurz, dass ich glaube, dass man das auf der Bühne beim Tanzen unter 20 Kindern nicht so genau nachvollziehen wird können, aber ich komme mir dabei ein wenig wie eine Spielverderberin vor.


Eine Mutter, die die nie was redet, was mir eigentlich sympathisch ist, sitzt zweieinhalb Stunden auf einem Schemel und schaut dem immer hektischer werdenden Treiben zu. Wir reißen die Fenster auf. Bruchteile von Sekunden empfinde sogar ich so was wie gute Laune. Die Rückseite der T-Shirts kann sein, wie sie will, sagt die Mutter der Direktorin. Aber die blaue Hand musste millimetergenau sein, das versteh ich nicht, drehen sich die nie, die Kinder. Schschtt, keine neuen Probleme aufwerfen. Die Täuferin kriecht ohnehin schon auf den Knien zu einer anderen Frau und sagt: "Hier sind Mütter, die ihre zwei Euro nicht bezahlt haben, parliamoci chiaro!" Ich war's nicht. Damit das alles schneller geht, beginnen einige Mütter ihre Hände zur Verfügung zu stellen, die Täuferin ist ohnehin schon die ganze Zeit dran. Eine Mutter, die etwa zwei Meter groß ist und von der ich keine geschmiert bekommen möchte, legt los. Am Ende hat sie dann beide Hände voller Farbe und lässt sich von den anderen Müttern die Hose, die ihr über den Hintern rutscht wieder hochziehen und ihre in Schamhaargegend angebrachte Tätowierung verschwinden. Eine andere Mutter hat die Namen ihrer Kinder auf dem Unterarm tätowiert und föhnt eifrig das T-Shirt ihrer Tochter, unglücklicherweise ist es die, die dem Kind gerade am besten gefällt in dieser reichlichen Auswahl. Weil die Lange mit den großen Händen so viel Farbe verwendet, muss die am Unteram Tätowierte besonders lang föhnen. Manchmal sagt eine: "Wir sind kindischer als die Kinder!", das kann ich von mir nicht behaupten, ich bin todmüde und versuche mich irgendwie noch nützlich zu machen in diesem Chaos, in dem dann doch auf wundersame Weise ein paar T-Shirts fertig werden und zum Trocknen aufgehängt. Besondere Freude bereitet den Müttern, dass sie auch das T-Shirt der Tanzschuldirektorin bedrucken können und mit ihren riesigen Pranken druckt die Lange zwei orange Hände dorthin, wo vielleicht einmal der Busen der Frau Direktorin untergebracht sein wird. Ein paar andere Mütter kommen, die der Täuferin zwei Euro in die Hand drücken wollen, was aber nicht geht, weil die Hand ja voller Farbe ist. So ist das nämlich. Manchen gelingt es, sich auszuklinken. Aber die Täuferin ist immerhin eiskalt: "Ihren Nachnamen und Vornamen!" Diesen Müttern nützt es jetzt auch nichts, wenn ihre Töchter den Katechismus besuchen. Am Ende, als die Kinder fertig mit der Probe sind, und über ihre Mütter steigen, die auf dem Boden herumrutschen, machen die Töchter dann Fotos von den Müttern mit den bunten Händen.

Ich rase nun mit dem Kind davon und kaufe immerhin noch zwei Liter Milch. Ich bin ein bisschen beleidigt, weil eine Mutter, eine Freundin der Täuferin, eine Dame mit birnenförmiger Figur zu mir gesagt hat, ich könne jetzt eh gehen, es sei besser, wenn weniger da seien. Hätte sie mir das zwei Stunden vorher gesagt, die Birne! Zu Hause rennen mir alle entgegen, weil sie mit den vollen Einkaufstaschen rechnen. Die Armen. Eine Stunde später habe ich geschafft, jeden einzelnen von ihnen zu verärgern, weil ich so frustriert bin. Am Ende hatte mich die Täuferin gefragt, ob ich mich amüsiert habe. Ja, so, dass ich meine Kinder um neun Uhr schlafen schicke, obwohl Samstag ist, damit ich lange sinnlos mit meinem Ehemann diskutieren kann. Das Kind hat aus lauter Ärger über mich mit seinen kleinen Händen an die Tafel im Kinderzimmer einen Gruß an mich gerichtet: "Brutta notte!" Schlechte Nacht, als hätte nicht schon der Nachmittag gereicht.

Freitag, 2. November 2012

Manchmal

wenn ich abends kurz vor neun mit MM in der Küche stehe, im Ofen ein Blätterteigkuchen mit Ricotta und Mangold, und ihm sage, dass ich Neuigkeiten über die Schule des Kindes habe, nämlich dass die Carabinieri und die NAS (Nucleo Antisofisticazione), die die Hygiene kontrollieren, in der Schule waren, weil die Mütter aus der einen Schule, die Mütter (?) der anderen Schule, die übergangsweise in der Schule A einquartiert wurden, weil die Schule B renoviert wird, geklagt haben, weil die Kinder aus der Schule B den Kindern aus der Schule A den Speisesaal der Mensa rauben, weil sie dort eine Klasse untergracht haben und also die Carabinieri und die NAS festgestellt haben, dass es in der Schule nicht möglich ist, unter hygienischen Umständen zu essen, worauf der Bürgermeister gemeint hat, dann gibt es also ab Montag keine Mensa und meine Freundin, die mir das erzählt hat, sagte, dann müssen die Eltern ihre Kinder mittags von der Schule holen, ihnen zu Hause was zu essen geben und sie dann wieder in die Schule bringen, die ja bis vier Uhr dauert, was sie aber sicher nicht machen würde und dass im übrigen die Lehrerin bei der Versammlung, bei der ich nicht war, weil ich von dieser Lehrerin bitte nichts mehr hören möchte, gesagt hätte, dass diese Klasse eine hervorragende sei und sie in der Mittelschule nicht getrennt werden würde, denn die Kinder würden sich gegenseitig positiv beeinflussen und ich sage zu MM, dass die Lehrerin im Land der Feen lebe, denn ob eine Klasse getrennt wird oder nicht, hängt nicht davon ab, ob sie das will oder nicht, sondern einzig und allein davon, welchen Stundenplan die Eltern wählen, nämlich 30 oder 40 Stunden und mir MM sagt, er verstehe meine Philosophie der Lehrerin gegenüber nicht und ich antworte, ich hätte gar keine Philosophie, ich würde nur Fakten aufzählen, und dann später, wenn wir den Blätterteigkuchen mit den beiden großen Kindern essen, denn das Kind ist beim Halloweenfest eben bei der Freundin, die mich mit diesen besorgniserregenden Neuigkeiten versorgt hat, der große Sohn sagt, er hätte nicht verstanden, ob er für das Treffen mit dem Autor eines politisch wertvollen Kinderbuches, das gegen die Mafia spricht, ein Haus zeichnen solle, ein großes, oder einen Comix, und ich sage, dann glaube ich, dass ich die Lehrerin anrufen muss und er sagt, danke, das glaube ich auch, dann wünsche ich mir, dass ich irgendwen anrufen und sagen kann: "Hol mich hier raus". Aber wer sollte das sein?

Sonntag, 29. Juli 2012

Telefonieren

"Nein, ich bin der Rallyefahrer, ja, es geht mir gut, sehr gut, wie geht es euch?" Wieso lügt der Rallyefahrer am Telefon? Sein Leben ist schwierig, da weder seine Mutter, noch sein Vater, noch seine Brüder seine neue Lebensphilosophie akzeptieren wollen, die da lautet: Die größte Folter für mich ist zu arbeiten und zu lernen. Er ist dreizehn. Menschen, die sich professionell mit dem Wachsen von Menschen befassen, sagen, das ist normal.
"Ja, Mamma ist da." Boing, wird mir ein Telefon ins Gesicht gedrückt. Am anderen Ende lächelt eine Männerstimme. Ich bin zwei Stunden versucht zu denken, das gelte mir. Mein Freund, der Vater der drei Töchter ist dran. Anfangs denke ich, er lacht, als hätte er in einem Hotelzimmer, abseits unserer sechs Kinder und zwei Angetrauten entdeckt, was das Leben sonst noch zu bieten hat und sei höchst erfreut darüber. Dann geht MM mit dem großen Sohn ein Feuerwerk anschauen und der Rallyefahrer plus das Kind können ihre geheimen Wünsche, nun bis drei Uhr morgens fernzusehen nicht verwirklichen und müssen ins Bett gehen. Ich wasche das Geschirr ab und dabei kommt mir eine Erkenntnis. Er denkt gar nicht an mich. Er denkt an sich. Er telefoniert gern mit mir, weil ich "Ja, ja!" sage und nicht versuche, selbst zu sprechen. Das habe ich mir verboten, weil unsere Telefonate sonst endlos dauern würden. Keine andere Frau in Italien würde das tun, ausgenommen eine Russin, aber da kennt er wahrscheinlich keine. Alle italienischen Frauen reden selbst. Russinnen sind (glaube ich) schlau, ich bin gut erzogen. Aber das ist noch nicht die Erkenntnis. Die Erkenntnis hat etwas mit meinen Lieben zu tun, die anfingen, als ich noch klein war und die Männer mir das Gefühl geben konnten, ich wisse nichts (von dem). Dann gab es die lange Zeit der Übereinkunft, in der sie wissen, also verstehen. Und jetzt bin ich es, die weiß und also versteht, das macht mich attraktiv.
Jahrzehnte, Jahrhunderte kommt mir vor, führen wir einen Kreuzzug, um verstanden zu werden. "Du musst dich nicht entschuldigen, ich will nur, dass du mich verstehst."
An einem sehr entlegenen Ort, an dem, wie ich glaube, wenig Menschen je waren, obwohl er schön ist und es einen See gibt, aber wer war schon in Makedonien, hat ein Mann, den ich dort kennengelernt habe, meine Hand ergriffen und mir erklärt, dass seine Frau ihn nicht verstehe. Was für eine Hypothek. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich ihn verstehen können.
Klar, selten sagt jemand: Ich liebe diese Frau, sie versteht mich nicht.
Nach der Erkenntnis, dass mein Freund mit den drei Töchtern nicht mich, mich, mich liebt, sondern einfach gern mit mir telefoniert, weil ich höre, was er sagt und weil ich lese was er schreibt (er ist nämlich nicht nur Vater von drei Töchtern und Geschichtelehrer, sondern auch Autor - nicht Schriftsteller, das ist ein anderer...), komme ich auch noch zu der Einsicht, dass das Interessanteste an jemand anders das ist, was man nicht schon kennt und versteht. So sagt er zum Beispiel abgesehen davon, dass er die Schulbücher von seinen Töchter verkauft hat, dass er gerne verreist, weil es ihm gefällt, von einem andern Ort auf das zu schauen , was er hier tut. Und das kommt mir beim Geschirrwaschen. Ich glaube, alle griechischen Philosophen haben ab und zu Geschirr abgewaschen, außer Diogenes, der hat gleich im Abwaschbecken Platz genommen.

Freitag, 13. Juli 2012

Die Dattilografa geht ins Kloster

In der großen Stadt hat die Dattilografa eine richtige Tante und die ist richtige Klosterschwester. Sie geht sie mit den Buben besuchen und weiß beim Betreten des Klosters gleich und ganz und gar, warum vieles so ist, wie es ist. Warum ich aus der Kirche ausgetreten bin und warum ich, wenn ich mich nach Ruhe und Klarheit sehne nur einen Ort vorstellen kann: ein Kloster. Wenn das nicht geht, hilft auch eine Kirche, aber bitte kein Dom, je kleiner und schrumpeliger die Kirche, desto größer die Einsicht, die zu gewinnen ist. Das hat also, ganz klar, etwas mit dem kleinen Mädchen zu tun, welches die später entartete Nichte der Klosterschwester einmal war. Jetzt ist die Frau wieder herzeigbar, denn sie hat drei Kinder zum Herzeigen und die sind stattlich und außerdem viel sozialer und belastbarer als ich es mir je gedacht habe. Ich weine gleich, als ich die nun 90-jährige Tante Klosterschwester sehe. Der Rallyefahrer grinst in einer Mischung aus verständnisvoll und betreten: "Mamma, sag nicht, dass du gerührt bist." Keiner weiß, dass ich so bewegt bin, weil ich die Tante das erste Mal ohne Schleier sehe und ich mich immer immer immer gefragt habe, wie sie ohne den aussieht. Die Mutter der Dattilografa ist auch mit, sie hat das alles ja inszeniert und dann sind da noch ein paar Klosterschwestern (ein paar machen um 3 Uhr nachmittags gerade in der riesigen Küche sauber - wie ich die Küchen in den Klostern liebe...) und ein paar Krankenpflegerinnen aus einem Nachbarland. Das ganze Kloster liebe ich. Da ist der Linoleumboden über den wir letztens auf dem Fest so viel geredet haben und er ist makellos geputzt. Stille, Sauberkeit, Schlichtheit. Wo sind die anderen Schwestern? Das ist die Frage.
Die Tante spricht seit ihrem 90. Geburstag nicht mehr, sie ist auch eigentlich bettlägrig, aber die tüchtigen Pflegerinnen habe sie uns zu Ehren in einen Rollstuhl gesetzt und wir sitzen in einem netten Zimmer. Die Kinder schauen sie freundlich an und sie schaut auf demselben Niveau zurück. Ehrlich gesagt wünsche ich mir, sie würde angesichts dieses Tatsache zu sprechen beginnen und das tut sie auch, aber man erwartet von ihr, sie spräche wie ein Wasserfall. Artig sagt sie "Danke", wenn man Grüße ausrichtet. Sie schaut beglückt auf die Kinder und die schauen beglückt zurück. Sie stellen fest, dass die Oma und die Tante sich voll ähnlich schauen und ich habe auch denselben Mund. Am nächsten Tag gehe ich zur Friseurin. Die kann zwar meinen Mund nicht verändern, aber von ihm ablenken. Die Schwestern haben eine riesigen Kuchenteller vorbereitet und sagen: "Wie haben uns gedacht, bei den Burschen geht was weg." Das haben sie ganz richtig eingeschätzt und die Buben lassen sich nicht bitten." "Sehr tüchtig, die Schwestern!" stellt das Kind nach dem dritten Stück Kuchen fest und die Schwester lacht (auch tüchtig), als ich es ihr kolportiere. Sie wird es der Küche ausrichten. Ich nehme an, die werden dann auch glücklich kichern.
Um halb vier Uhr kommt bereits das Abendessen, immerhin sind wir auf der Krankenstation. Eine wichtige Schwester fragt die Tante freundschaftlich, ob sie ihr Abendessen jetzt, oder später auf dem Zimmer wolle. Die Tante schaut lange sehr nachdenklich. Ich glaube, diese Entscheidungen sind sehr anstrengend. Die winzigen, sehr liebevoll belegten Brote werden gebracht und dazu ein Teller mit Broten für die Kinder. Das Kind greift auch hier wohlerzogen zu. Die Tante Klosterschwester bekommt auch einen Teller mit Nektarinen, die sie augenblicklich isst. Der Rallyefahrer reicht ihr ein Taschentuch, er hat bemerkt, dass sie sie sich gerne schnäuzt und anschließend ihr Taschentuch sehr ordentlich wieder zusammen legt. Als ich aufs Klo muss und meine Mutter mich begleitet, stelle ich fest, dass die Putzgeräte auf dem Klo mit einem nie gesehenen Sinn für das Praktische, Unausweichliche und Notwendige aufgehängt sind. Das Irdische einfach. Dann eile ich zurück, weil ich mich frage, was meine Kinder inzwischen ganz allein mit der schweigsamen Tante machen. Ich stürme ins Zimmer und sie sagen mit der Ruhe der Weltreisenden, die sie sind: "Sie hat uns ihre Brote gegeben."  Jedes Kind sitzt vor einem der liebevoll belegten winzigen Brötchen, die Tante schaut zufrieden. "Sie wollte teilen." sagt meine Mutter, ein wenig irritiert. Sicher ist es komisch, eine kindische große Schwester zu haben.
Als wir gehen, müssen wir eine Tür hinter uns lassen, auf der steht: "Tür bitte sanft schließen." Das Kind zieht die Tür mit einer Anmut zu, als ginge es darum, die ganze Welt vor Last und Störung zu schützen.
Am nächsten Tag reden wir wieder über die Schwestern. Ich sage, sie haben ihr Leben Gott gewidmet. "Gott gibt es nicht." sagt das Kind. "Das ist eine Frage des Glaubens." sage ich. "Nein, wie die Welt entstanden ist, kann ich dir sagen. Also: da gab es diese Explosion..." Das hat er jetzt aber nicht von mir. Und ich finde es auch ein bisschen traurig.

Sonntag, 24. Juni 2012

Weichseln



Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das besagt, dass wer immer glücklich in seinem Leben sein will, Gärtner werden soll. Damit sind bestimmt Gärtner im Stadtgartenamt einer wohlhabenden Stadt im nördlichen Teil Europas gemeint. Sie pflanzen im Sommer von 8 Uhr bis 16 Uhr (eine halbe Stunde Mittagspause bezahlt) Blumen. Im Winter trinken sie Tee und mulchen. Sie haben ein fixes Einkommen und sind im besten Fall unkündbar. Wenn sie Karriere machen, dürfen sie planen, welche Blumen im Park gesetzt werden.
Uns kann man vielleicht nicht als Gärtner bezeichnen, sondern eher als Opfer eines gewissen Landbesitzes. "Wir wollten ein bisschen Land haben", sage ich oft, um unseren Hauskauf zu rechtfertigen, der uns in the middle of nowhere geführt und uns eben ein bisschen Land, nämlich 5000 qm, was zu viel für einen Blumengarten und zu wenig für eine Landwirtschaft ist, beschert hat. Auf dem bisschen Land stehen ein paar Obstbäume. Nach der Heimsuchung der Pflaumen, die immer noch andauert, sind nun auch die Weichseln reif. Möglicherweise gehört der Weichselbaum sogar den Nachbarn, aber auf unserer kleinen Straße stellen wir die Leiter auf und zurren die Weichseln in den Korb. Ich erkläre mir meine extreme Unlust, die Weichseln ins Körbchen zu holen, damit, dass letztes Jahr an dem Tag, als wir die Weichseln ernteten, unsere Nachbarin Teresa unverhofft vor mir auf die Knie gegangen ist, aber nicht, weil sie mich so bewundernswert findet, sondern weil ihr plötzlich schwarz vor den Augen geworden ist. Was dann geschah und wie das Kind alle kräftigenden Getränke, die der armen Frau kredenzt wurden, zu sich genommen hat, habe ich in dem Blogeintrag "una domenica bestiale" beschrieben. Das muss jetzt ungefähr ein Jahr her sein und es ist erschreckend, wie wenig wir uns verändert haben. Diesmal ist es nicht so heiß, der läppische orange Hut des großen Sohns ist tief in einer Lade vergraben und der Rallyefahrer stellt sich erst hilfsbereit auf die Leiter und langweilt sich dann schnell. Er beschließt, dass mir die Leiter zu halten viel heldenhafter ist und erzählt mir dabei von allen elektronischen Spielen, die es gibt oder seiner Meinung nach geben müsste.
Teresa taucht nicht auf. Dafür wurde der Opa des Studenten ins Spital gebracht, weil er Schwierigkeiten mit dem Atmen hatte, was nicht weiter verwunderlich ist, weil er ja jeden Tag in der zum Aufenthaltsraum umgewidmeten Garage vor dem eingeschalteten Fernsehgerät sitzen muss. Ich glaube, man muss den Leuten nur zuhören um zu begreifen, was ihnen fehlt. MMs Kusine zum Beispiel, die Mutter der beiden schon halb aus der Kirche exkommunizierten (?) Töchter wurde auch letztens ins Spital gebracht, weil es ihr schlecht ging. Sie ist schwerhörig und trägt ein Hörgerät. Mir erzählt sie gleich, dass sie es nicht aushält, dass dauernd der Fernseher läuft und dass ihre Töchter zu laut reden, vor allem die kleinere (die Witwe, die den Streit mit dem Pfarrer hat). Mich wundert es nicht, dass im Spital festgestellt wird, dass sie keine pathologischen Erscheinungen hat, sondern Panikzustände. Dann muss sie wieder heim und ihre Töchter über sich ergehen lassen. Der Opa des Studenten muss sich vielleicht auch einfach vom übermäßigen Genuss des Fernsehens erholen, zumindest hoffe ich das.
Terasa sehen wir also am Tag der Weichselernte nicht, aber ich habe vor ein paar Tagen mit ihr Kaffee getrunken und ihr versucht, zu erklären, dass ich jetzt auch weiß, wie das ist, in Panik zu geraten, denn bei einem Konzert vor kurzem hatte ich Angst, über einer Tiefgarage zu stehen und einzubrechen, weil das Publikum so entfesselt hüpfte und tanzte und der Boden bebte. Was ich dabei gelernt habe, ist, zu sagen, was einen so bewegt bzw. so nicht bewegt, sondern so lähmt. MM hätte mir gleich gesagt, dass wir nicht über einer Tiefgarage stehen. Aber dieses Problem scheint Teresa mit ihren Panikanfällen ohnehin schon gelöst zu haben. Letztens war sie morgens aufgewacht, erzählt sie, sie verstand gar nicht, warum es ihr nicht gut ging, sie hatte gut geschlafen, aber nun hatte sie ein Gefühl der Leere, im Kopf, im Magen. Sie bat ihren Mann, zu Hause zu bleiben, oder ihren Sohn, wenn möglich. Ich finde das gut und tüchtig von ihr. Sie sagt: "Ich musste nämlich zum Friseur und ich dachte, was mach ich, wenn es mir im öffentlichen Autobus plötzlich schlecht geht". "Ja", sage ich und stelle mir vor, wie schrecklich es ist, wenn es einem in öffentlichen Verkehrsmitteln schlecht geht. Sie sagt, sie hätte eine Pille genommen. Ich sage: "Klar, dafür sind sie ja da." Dann hätte ihr Sohn sie mit dem Auto zum Friseur gebracht. Tatsächlich hat sie eine makellose jugendlich-sportliche Frisur und ich fühle mich alt und schlaff mit meinen Zotteln, da ich doch seit mehreren Jahren aus Gründen, die als Trauma zu bezeichnen sind, eine Friseurin an meinen Haaren nichts anderes habe machen lassen, als die Spitzen zu schneiden. Und dann - unter der Trockenhaube sei es ihr plötzlich wieder ganz anders geworden. "Es ist die Trockenhaube!" rufe ich aufgeregt. "Aber nein," sagt sie ruhig, "es kommt einfach so, man weiß nicht wann und wie."
Heute ist das Kind nicht bei mir, er hätte sicher eine abschließende Antwort gewusst, so verbleiben wir in der Gewissheit, dass wir beide nicht wissen, wann und wie es passiert, aber die Lösung in der Vermeidung von Trockenhauben zu suchen, ist auf jeden Fall zu kurz angelegt.
Mit einem Sack grüne Bohnen in einer Hand und einem Sack Zwiebeln in der anderen eile ich nach Hause, wo meine Kinder das neue Kajak ins Auto bugsieren und sich dabei mit allen Schimpfwörtern bedenken, die ich, wie bekannt ist, nicht mag. Wahrscheinlich dauert es deshalb ein paar Stunden, bis ich mich wieder mit Teresa und ihrem Wohlbefinden beschäftigen kann. Und dann denke ich, dass ich den Friseurbesuch abgesagt hätte.
Um aber wieder zum Garten und dem chinesischen Sprichwort zurückzukommen: Wenn man unter Glück versteht, dass MM im Gurkenbeet sitzt und langsam Unkraut ausrupft, während hinter ihm seine beiden großen Söhne mit Schilfrohrstäben selbst kreierte Martial Arts Kämpfe ausführen und ich in der Küche die weißen Wände mit den Weichseln so anspritze, dass sie blau werden und ich mir überlege, ob ich die Küche nun in diesem graublau streichen soll, dann ja, dann macht ein Garten wirklich glücklich.