Sonntag, 29. Juli 2012

Telefonieren

"Nein, ich bin der Rallyefahrer, ja, es geht mir gut, sehr gut, wie geht es euch?" Wieso lügt der Rallyefahrer am Telefon? Sein Leben ist schwierig, da weder seine Mutter, noch sein Vater, noch seine Brüder seine neue Lebensphilosophie akzeptieren wollen, die da lautet: Die größte Folter für mich ist zu arbeiten und zu lernen. Er ist dreizehn. Menschen, die sich professionell mit dem Wachsen von Menschen befassen, sagen, das ist normal.
"Ja, Mamma ist da." Boing, wird mir ein Telefon ins Gesicht gedrückt. Am anderen Ende lächelt eine Männerstimme. Ich bin zwei Stunden versucht zu denken, das gelte mir. Mein Freund, der Vater der drei Töchter ist dran. Anfangs denke ich, er lacht, als hätte er in einem Hotelzimmer, abseits unserer sechs Kinder und zwei Angetrauten entdeckt, was das Leben sonst noch zu bieten hat und sei höchst erfreut darüber. Dann geht MM mit dem großen Sohn ein Feuerwerk anschauen und der Rallyefahrer plus das Kind können ihre geheimen Wünsche, nun bis drei Uhr morgens fernzusehen nicht verwirklichen und müssen ins Bett gehen. Ich wasche das Geschirr ab und dabei kommt mir eine Erkenntnis. Er denkt gar nicht an mich. Er denkt an sich. Er telefoniert gern mit mir, weil ich "Ja, ja!" sage und nicht versuche, selbst zu sprechen. Das habe ich mir verboten, weil unsere Telefonate sonst endlos dauern würden. Keine andere Frau in Italien würde das tun, ausgenommen eine Russin, aber da kennt er wahrscheinlich keine. Alle italienischen Frauen reden selbst. Russinnen sind (glaube ich) schlau, ich bin gut erzogen. Aber das ist noch nicht die Erkenntnis. Die Erkenntnis hat etwas mit meinen Lieben zu tun, die anfingen, als ich noch klein war und die Männer mir das Gefühl geben konnten, ich wisse nichts (von dem). Dann gab es die lange Zeit der Übereinkunft, in der sie wissen, also verstehen. Und jetzt bin ich es, die weiß und also versteht, das macht mich attraktiv.
Jahrzehnte, Jahrhunderte kommt mir vor, führen wir einen Kreuzzug, um verstanden zu werden. "Du musst dich nicht entschuldigen, ich will nur, dass du mich verstehst."
An einem sehr entlegenen Ort, an dem, wie ich glaube, wenig Menschen je waren, obwohl er schön ist und es einen See gibt, aber wer war schon in Makedonien, hat ein Mann, den ich dort kennengelernt habe, meine Hand ergriffen und mir erklärt, dass seine Frau ihn nicht verstehe. Was für eine Hypothek. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich ihn verstehen können.
Klar, selten sagt jemand: Ich liebe diese Frau, sie versteht mich nicht.
Nach der Erkenntnis, dass mein Freund mit den drei Töchtern nicht mich, mich, mich liebt, sondern einfach gern mit mir telefoniert, weil ich höre, was er sagt und weil ich lese was er schreibt (er ist nämlich nicht nur Vater von drei Töchtern und Geschichtelehrer, sondern auch Autor - nicht Schriftsteller, das ist ein anderer...), komme ich auch noch zu der Einsicht, dass das Interessanteste an jemand anders das ist, was man nicht schon kennt und versteht. So sagt er zum Beispiel abgesehen davon, dass er die Schulbücher von seinen Töchter verkauft hat, dass er gerne verreist, weil es ihm gefällt, von einem andern Ort auf das zu schauen , was er hier tut. Und das kommt mir beim Geschirrwaschen. Ich glaube, alle griechischen Philosophen haben ab und zu Geschirr abgewaschen, außer Diogenes, der hat gleich im Abwaschbecken Platz genommen.

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