Samstag, 7. Juli 2012

Sex

Wer an zwei Plätzen auf dieser Welt zu Hause sein will, der muss mit einigen Verwirrungen rechnen. Die Frau in der Untergrundbahn der großen deutschsprachigen Stadt kann nicht Maestra Ornella, die erste Lehrerin des großen Sohns sein, sie schaut ihr nur komischerweise ähnlich. Genausowenig ist der Mann, der den Steinbruch am Ende unserer Hügelstraße in Süditalien betreut, ein Komparse aus einem Film über die Kaiserin von Östereich.
Kommen alle Menschen zwei Mal vor auf dieser Welt? Wo bin ich als Doppel?

Mein Hobby an diesem Ort ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren und den Menschen zuhören. Belauschen kann man es nicht nennen, sie schreien nämlich alle. Viele verstehe ich nicht, die sprechen in einer mir unbekannten Sprache, ganz nahe allerdings der Dialog zweier junger Frauen über einen Typen, der irgendwie schwer zu packen ist, man weiß nicht genau, ist er Feuerwehrmann oder was? Jedenfalls hatte er das Licht aufgedreht (das hat der Tommy auch gemacht) und dann haben sie zu knutschen begonnen und das Licht begann zu flackern, das war urarg. Dann hat er die Lampe abgeschaltet. Und das Licht hat weitergeflackert. Dann hat er den Stecker aus der Steckdose gezogen. Das Licht hat weiter geflackert. "Ich hab geglaubt, ich muss vom Fenster springen." Mein Körper versteift sich, auch ich finde es seltsam. Obwohl ich aus dem Fenster gesprungen wäre. Er hat den Hauptschalter ausgemacht, das Licht hat immer noch geflackert. Jetzt weiß ich die Lösung! Er hätte die Glühbirne aus der Fassung drehen sollen, ich kann mich in letzter Sekunde beherrschen, mich nicht umzudrehen und meine Erkenntnis loszuprusten. Zum Glück, denn nun gehen die beiden in ein anderes Zimmer. "Dann haben wir Sex gehabt." Wie bitte? Die Stimme senkt sich dabei nur ein klein wenig. Danach hätte der angebliche Feuerwehrmann sie, von der ich endlich wissen will, wie sie aussieht, gefragt, was sie jetzt tun wolle. Sie hätte gesagt: "Du hast ja jetzt gehabt, was du wolltest, da kann ich ja nach Hause gehen." "Meinst du das ernst?" "Ich weiß nicht."
Darüber muss ich jetzt noch länger nachdenken, als über die flackernde Lampe. Sie wusste nicht, ob sie das, was sie sagte, ernst meinte. 
Ich habe mich dann doch umgedreht. Sie sah aus wie vierzehn, sie konnte aber auch achtzehn sein, sie sah lieb aus. Sehr lieb. Und sie hatte mit dem vermutlichen Feuerwehrmann im flackernden Licht einer ausgeschalteten Lampe Sex gehabt und danach etwas gesagt, von dem sie angeblich nicht wusste, ob sie es ernst meinte. Ich kann nicht aufhören, das Leben schwierig zu finden.

Kurzfristig meinte auch ich, meinen Traummann gefunden zu haben, er hat aber mit der Feuerwehr  nichts zu tun, sondern arbeitet in einem Geschäft für Handys, in dem ich meinen Internetstick gekauft habe, der dann nicht funktioniert hat. Mit seinen zarten Händen hat er an meinem Computer rumgedrückt und mich dann in einen anderen Laden geschickt, wo mein Computer neu aufgesetzt wurde. Alle Daten sind nun verloren und ich fühle mich unendlich frei. Nichts ist schöner als ein weißes Blatt und der Mann, der es einem in die Hand gedrückt hat. In der Nacht ist es zu heiß zum Schlafen und ich denke an das junge Genie mit seinem gebügelten Hemd und seiner unglaublichen Ruhe. Am nächsten Tag sehe ich ihn wieder, als ich die viertägige Mission beende, mich in der großen Stadt mit dem Internet zu verbinden, denn wer alleine mit drei Halbwüchisgen unterwegs ist, kann von der Benützung von Coffeeshops mit Internet nur träumen. Eine hastig gesendete Mail in der städtischen Bücherei ist das höchste aller Gefühle und die Mail geht langweiliger Weise an den Ehemann. Wieder ein gebügeltes Hemd und die Ruhe, heute rasiert. Seit wann gefallen mir eigentliich Milchbubis?

Ich habe das Gefühl alles zu kennen, den Sex mit dem Feuerwehrmann, den genialen Nerd, die Straßenbahn, die U-Bahn, die gepflasterten Straßen, die Komparsen, die Hitze, die Sommerbäder, die Gewitter, die Presslufthämmer, die Müllabfuhr, die großen Bäume, deren Blätter im Wind wackeln, das Wasser am Stadtrand, die Leser und die Bücher und sogar die Schriftsteller. Am wenigsten kenne ich die Halbwüchsigen, deren Erziehungsberechtigte ich bin. Meinst du das ernst? Ich weiß nicht.

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