Montag, 16. Juli 2012

Heimweh

"Was geht euch am meisten ab von Italien?" frage ich meine Kinder. 59.999.000 Menschen tun immer so, als würden sie mich irrsinnig um meine alte Heimat beneiden. "Dalle stelle alle stalle" sagte eine Frau in Sizilien kürzlich zu mir: Ich sei von den Sternen in die Ställe gekommen. Was geht meinen Kindern also von Italien ab? Zwei krähen: "Papi!", der dritte sagt: "Alles". Weil er ein extrem rationaler 14-jähriger Mensch ist, relativiert er dann: "Manches ist hier besser, manches in Italien."

Ich kann gar nicht sagen, was mir am meisten abgeht, denn ich krieche, wie man hier sagt, am Zahnfleisch. Wer sich nicht so weit herablässt, geht immer noch am Stock.

Während ich in der ersten Woche unseres Aufenthalts im siebten Himmel schwebte: Alte Bäume im Wind, die achso vertraute Sprache, die Bibliothek, die Buchhandlung, die vielen Freunde, das Früher, begann es in der zweiten Woche anstrengend zu werden: Die alten Bäume, die vom Regen gepeitscht werden, die allzu vertraute Sprache, die Verrückten, die auf der Straße loschreien, das Übermaß an Familie und Vergangenheit und zu wenig Zeit, alles zu verdauen. In der Buchhandlung bekomme ich Kopfschmerzen, wegen den Büchern und den Leuten, in der Nacht schlafe ich schlecht und weiß nicht warum und tagsüber hämmert ein Satz, den ich schon lange nicht mehr ausgesprochen habe: "Ich kann nicht mehr."

Ein Tanzfestival findet statt und ich zwinge meine Kinder, zu einer einleitenden Veranstaltung zu gehen. "Warum müssen wir das?" fragt der Rallyefahrer. "Weil ich glaube, dass das vielleicht interessant für euch sein könnte." Ich denke, dass wir in Italien einen Großteil unseres Lebens dem Tanzen/dem Tanzen dem Kinder, meinem ja nicht, widmen und dann kann man bitte gefälligst eine halbe Stunde sich in einen großen Saal mit tanzambitionierten Menschen setzen und schauen was passiert. Ein Video von tanzenden Menschen wird gezeigt und mir rollen gleich ein paar Tränen die Wangen hinunter, denn es sind normale Menschen, die tanzen und denen das Tanzen Spaß macht, kein Schwanensee. Ich will auch. "Mama weinst du?" Der Rallyefahrer will sterben, das Kind zeigt sich erstaunlich renitent, typisch. Tanzen gilt nur, wenn es um ihn geht. Mein Rettungsanker ist der große Sohn, der sich interessiert englische Vorträge anhört und angesichts einer Urban Dance Kostprobe genauso illuminiert ist wie ich. Der Rallyefahrer und das Kind sitzen bereits vor der Tür. Der Rallyefahrer hat entschieden: Er will ab Herbst Fußball spielen (eh schon spät, sagt mein Bruder). Ich habe auch entschieden: Der große Sohn darf Fußball spielen UND Breakdance machen, aber ich glaube er wird ohnehin nur letzteres wollen.

Aber abgesehen davon, dass Menschen wie ich in der großen Stadt tanzen könnten und dabei nicht einmal in den Golden Age Kurs gehen müssten, weiß ich nicht mehr, was ich hier tun soll. MM geht, wenn er hier ist, mit den Kindern in alle Museen und ich glaube nicht, dass sie ihn fragen, warum sie dorthin gehen müssen. Das Funkeln in seinen Augen treibt die Kinder an und seine absolute Ignoranz dem Jammern gegenüber. Ich erinnere mich nicht, dass ihre Beschwerden in ihm je eine andere Reaktion als herzliches Lachen hervorgerufen haben. Aber er ist nicht hier, sondern sitzt immer noch, wie annehme, im Gurkenbeet.

In der dritten Woche dürfen meine Kinder bei meiner Freundin und ihren Kindern die Ferien verbringen.
Und ich?
Ich könnte ins Kloster gehen.
Ich könnte nach Paris fahren.
Ich könnte in meiner Wohnung aufräumen.
Ich könnte wandern gehen.
Ich könnte lesen, lesen, lesen.
Ich könnte schreiben, schreiben, schreiben.
Ich könnte Freunde treffen.
Ich könnte ein Service für die Heizungstherme organisieren.
Ich könnte so viel in Coffeeshops gehen, dass ich bis Weihnachten voll davon bin.
Eines werde ich sicher tun: Ich gehe ins Kino und schaue mir den neuen Film von Agnes Varda an. Ja, möglichst schnell, ich nehme an, dass ich danach weiß, was ich zu tun habe. Bevor ich zurück zum Gurkenbeet fahre, zu den Fröschen und den Zikaden, zu den reifenden Trauben und den hoffentlich vorhandenen Feigen. Und dann wird mir Leid tun, dass ich nicht einen Koffer voller Bücher mit Horrorgeschichten gekauft habe und in der Bibliothek nicht zwischen den Pädagogik- und den Philosophiebänden in meiner langersehnten und kurz aufblitzenden Freiheit schnell einen fremden Mann geküsst habe.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen