Samstag, 20. Oktober 2012

Kampf dem roten Rüsselkäfer

Dieser Titel klingt wie ein demagogisches Pamphlet aus den Anfängen des Kalten Kriegs, es geht aber um unsere Palme. Vor unserem Haus steht nämlich eine über hundertjährige Palme oder zumindest ca. hundertjährige, immerhin sagen alle, die hier schon lange wohnen, dass die Palme immer schon da gewesen wäre. Ich weiß nicht, ob wir das Haus gekauft hätten, wenn nicht diese große Palme davor gestanden hätte. Dann habe wir das Haus gekauft und danach hatte ich eine Zeit lang irrationale Ängste, jemand könne aus Bosheit die Palme umsägen. Ich war immer beruhigt, wenn sie noch da war.
Ab und zu habe ich dann in den letzten zwei Jahren, seit wir hier wohnen, gedacht, dass mein Leben leichter wäre, wenn die Palme nicht da stehen würde, denn die Palme hat kleine Datteln, die täglich auf den Boden fallen und die man irgendwann wegkehren muss. Entschuldigung liebe Palme.
Seit heute hat sie keine Äste mehr und sieht kahlgeschoren aus. Man kennt das. Man hofft, dass es vorbei geht.
Irgendwann vor ein paar Wochen hat die treue Pflanze ihre Wedel nicht mehr stolz in den Himmel gereckt, sondern leicht schlapp an sich herunter hängen lassen und sah aus wie der Kopf von Rod Stewart in den späten 1970er-Jahren, schlimmer noch, wie Tina Turner. Ich habe das schon bemerkt, aber ich dachte, dass nach drei Monaten ohne Regen auch eine Palme müde aussehen darf und habe freundlich das abgestandene Wasser in der Trinkschüssel vom Hund auf sie geleert.
In Wirklichkeit hat sie sich schon lange in den Fängen des roten Rüsselkäfers befunden, den ich echt nicht kannte, aber viele andere offenbar schon, denn man hört von ihm auch im Fernsehen und man kann viel im Internet lesen, was ich jetzt aber auch nicht machen werde, denn ich bin ihm heute leibhaftig begegnet.
MM hat das gleich gewusst, der ist nämlich informierter als ich und hat in die Wege geleitet, dass ich mich gestern vor acht Uhr morgens dem Obermaurer gegenüber sah, was meinen Gefühlshaushalt noch mehr durcheinander gebracht hat. Immer wenn es ums Krepieren geht, taucht der Mann auf, um irgendwie zu signalisieren, dass es auch Leben gibt, denn trotz seiner Herzprobleme, die er meines Wissens nach nicht zu lösen gedenkt, lebt er immer weiter mit ungebremster Energie und schonungslos.
Er zählt schon ab, wie viele Gerüstteile er braucht, um unsere Palme einzurüsten, zwei Jahre, nachdem er sein Gerüst am Haus abgebaut hat. Ich schaue ihn verärgert an, denn meine verhohlene Verehrung hat in diesen beiden Jahren mehrere Mutationen vollzogen. Nachdem ich die Phase überwunden hatte, in der ich wie Robert de Niro in Cape Fear vor seinem Haus mit einem Messer auftauchen wollte, nämlich als der Abfluss vor dem Haus nicht funktionierte und ich beim Betrachten der zahlreichen Fliesen in den zahlreichen Badezimmern dachte, dass ich selber besser verfliesen kann/könnte und bei allen anderen Problemen auch ihn verantwortlich machte, vor allem bei den Problemen mit der Bank, wurden er und die ganze Geschichte, die mit ihm verbunden ist, allmählich blässlich in meinen Gedanken, bis ich wieder die lebensrettende Funktion in seiner Existenz für mich entdeckte und dann fing alles wieder von vorne an.
Am selben Nachmittag hüpfen dann die Maurer auf ihrem in "quattro quattro otto" (bei uns würde man sagen: in null komma nichts) aufgestellten Gerüst herum und ich versuche, einen intelligenten Eindruck zu machen, und nicht händeringend neben dem Schauplatz zu stehen.
Insgeheim hoffe ich immer noch, dass MM einer Verschwörungstheorie zum Opfer gefallen ist und es keinen roten Rüsselkäfer, der Palmen aushöhlt, gibt. Ich denke, dass eine Beschneidung der Palme aber sicher nicht schaden wird. MM ist zwar ein Held, aber kein Superheld, und er ruft den Obermaurer an, um ihn zu bitten, noch ein paar Gerüstteile einzusetzen, denn er fühlt sich nicht gar so wohl in der Höh mit der Motorsäge in der Hand. Ja, am nächsten Morgen wird dafür gesorgt werden, obwohl es Sonntag morgen sein wird und ich noch verärgerter schauen werde.
Ein paar Palmwedel liegen schon auf dem Boden, das Kind wird dramatisch: "Meine Palme!"
Da mit dem Obermaurer immer ein paar Sachen einher gehen, betritt nun auch ein weiterer Mann mit einer Motorsäge die Bühne, nämlich Aldo, der Held des Baumschnitts, der hier schon eigentlich vor Wochen auftauchen sollte. In Wirlichkeit müsste man das alles filmisch festhalten, wie diese Männer auf unseren Bäumen herumspringen, denn anderswo wird das ans Fernsehen verkauft, aber ich sitze verbissen in meinem Arbeitszimmer UND WILL ES NICHT SEHEN, denn ich will nicht nachdenken, wer zahlen muss, wenn da einer abstürzt. Aldo schneidet zur Freude meiner Schwiegermutter unserer großen Eiche ein paar Äste ab, was uns angeblich heizungstechnisch durch den Winter bringen wird. Aldo ist mit Piero unterwegs und um es kurz zu machen: Piero kniet irgendwann auf der Palme und sägt ihr die Wedel ab. Aldo hält ihn an einem Fuß fest. Sie sind ganz nah bei mir, aber aus dem Augenwinkel sehe ich nur die Äste wackeln und ich schaue ganz fest in meinen Computer. Die Kinder schauen ganz fest in ihre neuen Nintendospiele und ab und zu höre ich MM: "Piero, Piero, warte!" rufen. Keine Frau schaut zu, Männer brauchen diesen Hormonrausch ganz alleine für sich. Angeblich hätte sich unsere brave alte Palme hin und herbewegt, mit Piero auf ihrer Krone.
Ok, die Männer haben es überlebt. Ob es die Palme überleben wird, werden wir sehen.

Der Hund hat ihn übrigens entdeckt, den roten Rüsselkäfer, und hat ihn schrecklich angebellt. Normalerweise bellt er Igel auf diese insistierende Art an, aber auch Hirschkäfer und so eine Art ist der rote Rüsselkäfer und sein Rüssel ist irgendwie eine Art Speerspitze und ich habe ihn mit Freuden zerquetscht. Er ist viel größer, als ich mir das vorgestellt habe, er ist mindestens drei Zentimeter groß und meine Schwiegermutter sagt am Telefon, ich soll vorsichtig sein. Die Palme ist ihr herzlich wurscht. Der Rallyefahrer, der jetzt Fussballer ist und mit Leidenschaft die ganzen Palmwedeln und die unreifen Datteln verbrennt, fragt sich auch, was er machen soll, wenn ihn der Rüsselkäfer beisst.
MM sagt, das nächste Exemplar, das mir unterkommt, soll ich in ein Glas tun, damit er ausprobieren kann, wie das Gift wirkt. Ehrlich gesagt würde ich jeden Rüsselkäfer am liebsten einzeln erschießen. Und dann möchte ich gerne alle erschießen, die mich mit dem Blick ansehen, der sagt: diese Frau hat es geschafft, eine hundertjährige Palme umzubringen. Nein, ihr Deppen, jemand hat den Rüsselkäfer aus Melanesien eingeschleppt und ich war das nicht, ich weiß nicht einmal wo das ist. Ich sage (weil mir das meine gebildete Freundin erzählt hat), dass ganz Sizilien mit dem Problem kämpft und die wohlwollendste Antwort, die ich bekomme, ist, dass nicht nur in Sizilien, dieser unwichtigen kleinen Insel, sondern auch in unserem extrem bekannten Ort zwei Palmen bereits ein der Rettung dienliches Häubchen verpasst bekommen haben.

Es ist sehr still draußen, weil keine Palmzweige rascheln. Ein bisschen erschrocken sieht sie aus, die Palme, so ganz ohne Bedeckung, und ein bisschen starr.