Mittwoch, 31. März 2010

La dattilografa goes Freud

Eben ist es mir gelungen, den Gedanken an den Freund aus Jugendtagen zu verscheuchen und rechtzeitig schlafen zu gehen, da mischt er sich in meine Träume: ich befinde mich in einem unterirdischen Waffenarsenal, das an Eleganz kaum zu überbieten ist. Alles ist in schwarz gehalten, auf Podesten glänzen die Schusswaffen silbern. Mein Freund kommt aus dem Inneren dieser Räumlichkeiten und redet mit dem Mann, der mir die Waffe aushändigen soll. Ich bin mir nicht sicher, ob ich eine Pistole oder ein Gewehr (damenhaft klein) bekomme. Ich müsse keine Mehrwertsteuer bezahlen und bekäme auch sonst noch ein Skonto, sagt mein Freund zu dem Mann. Ich stehe aufgeregt im Hintergrund und frage mich, was so eine Waffe eigentlich kostet und ob ich genug Geld dabei habe.
Schnitt.
Der Freund und ich gehen eine Straße in der Stadt entlang, in der wir beide nicht mehr leben. In dieser Straße waren wir nie, aber ich erinnere mich an sie. Er legt den Arm um meine Schultern, ich den Arm um seine Hüften. Wir reden darüber, dass wir neun Tage Zeit hätten und ob ich sonst auch noch was zu tun hätte. Ich sage nein (was für ein Traum: ich habe nichts zu tun??!!), aber ich könne Freunde anrufen, die seien immer sehr spontan und froh, mich zu treffen (man sieht, ich will ihm nicht auf den Wecker gehen). Wir gehen in eine Buchhandlung und suchen die Bücher, die uns die Lösung geben werden. Ich schiebe meine Hände unter seinen Pullover (hat er im wirklichen Leben sicher nie getragen), ich spüre seine Haut und lege meinen Kopf an seine Brust. Wir sehen, dass die Buchhändler alle nackt sind und er sagt, lass uns gehen.
Da läutet der Wecker, den ich nicht und nicht finden kann, es ist wie immer 5.30 und ich brauche eine halbe Stunde, um zu verarbeiten, dass ich im Traum Schusswaffen erstehe, den zweiten Teil des Traum finde ich nicht so skandalös. Warum die Buchhändler nackt sind und nicht wir, wer weiß?
Was bedeuten die kleinen Gewehre? Phallussymbole? Will ich jemanden erschießen? Ist das eine Nachwirkung des Films "The Hurt Locker"? Oder der Regionalwahlen? Ist es, weil der Rallyfahrer sich gestern ein Männchen mit Pistole gewünscht hat (eine Pistole traut er sich nicht zu wünschen, er weiß, dass er keine kriegt).

Erstaunlicherweise folgt ein ausgezeichneter Tag, am späten Nachmittag muss ich mich kurz aufs Sofa legen, von dort aus sage ich zu meinem großen Sohn, der immer eine Antwort weiß: ich habe geträumt, ich habe eine Pistole gekauft, was hat das zu bedeuten? Er zuckt die Achseln: warum träumst du nicht, du kaufst eine Playstation für uns?

Nach dem Abendessen versuche ich es bei MM: mein ehemaliger Freund hat mir im Traum zu einer Schusswaffe verholfen, was würde deine Mutter dazu sagen? MM sagt: Worte. Achja, im Italienischen schießt man ja auch Bemerkungen (ab).

Auf der Baustelle war heute der kleine Bagger, der die hübschen roten Schläuche unter die Erde gehoben hat. MM hat einen Sonnenbrand und das Kind hustet den ganzen Abend, weil es den Maurern die Fliesen gereicht hat und diese Fliesen auseinandergeschnitten werden, was viel Staub macht. Der Obermaurer und MM hatten beim Mediator Architekt eine Aussprache, die zu einer geringen Reduzierung der Kosten geführt hat und dazu, dass wahrscheinlich jeder der beiden glaubt, sein Gegenüber sei wahnsinnig. Ich, die ich nicht dabei war, weiß, dass sie es beide sind. Natürlich ist mir der Wahnsinn von MM lieber, weil er meinem eigenen näher ist.
Weitergehen tut es wie bisher. Ostern kommen und die Maurer sind noch immer nicht fertig.

Der Wahnsinn ist aber nicht nur auf unserer Baustelle unterwegs, im Gegenteil. Berlusconi ist wie immer jenseits von gut und böse und der Postbeamte in unserem kleinen Ort gibt mir die eingeschriebene Post nicht, weil ich sie zwar am 31.3. abholen kann, aber erst ab 13.20. "Was steht da?" sagt er zu mir, und hält den Zettel hoch. Ich sage: "Sagen Sie es mir, oder muss ich hier ein Examen ablegen?" 13 Uhr 20. Selten so gelacht. 13 Uhr 20 in Italien. In Süditalien. Lustiger gehts ja gar nicht. Ich würde gerne in sein Gesicht schlagen, aber er hat eine schusssichere Scheibe davor. Da würde mir auch die Pistole nicht helfen.

Samstag, 27. März 2010

eigentlich alles gar nicht so schlimm

Die Wahl-Ferien der Kinder haben auch Vorteile. Mamma dattilografa schläft morgens lange, auch wenn das Kind, das an Schlultagen morgens nie aus dem Bett kommt, beleidigt und orientierungslos auf dem Bettrand sitzt und behauptet, schlafen mache keinen Spaß. Ich bin unnachgiebig und das Kind in seiner Verzweiflung setzt sich an den Tisch: Dann lerne ich eben, droht es. Es geht um englisch, passt eh.

Auch die Schulschürzen müssen nicht panisch gewaschen werden. Müsste ich nicht selbst bald abreisen, wäre ich vielleicht sogar entspannt. So entspannt, wie ich heute den Bruchteil einer Sekunde auf unserer Baustelle war. Samstags und kein Maurer da. MM tratscht mit den Nachbarn, das ekstatische Gebrüll der Kinder, mit dem sie sofort beginnen, sobald sie in the middle of nowhere aus dem Auto springen, verschwindet, das heißt, die Nachbarkinder haben zum Spiel mit der Playstation eingeladen. Endlich kann ich in Ruhe durchs Haus gehen und mir anschauen, was die so machen um viel Geld.
Es ist schön. Die Wände auch, in Wirklichkeit ist auch der Preis dafür nicht aberwitzig, wir haben einfach weniger erwartet. Oben ist der Estrich aufgetragen, unten steigt man noch über Schläuche, ich stelle mich an den äußersten Rand der Terrasse und genieße den Blick auf den kleinen Hafen. Nebelschwaden verstecken die Berge. Ich schaue auf den Grund des alten Nachbarn, den er MM zum Verkauf angeboten hat. Zu teuer natürlich, aber ich will ihn haben, es ist, als ob er zu unserem Haus gehörte. Ich kenne eine Frau, die im Lotto gewonnen hat, wieso soll mir das nicht auch passieren? Ich höre den Fluss unten rauschen. Ich will hier endlich wohnen.

Einmal, als der Obermaurer noch nicht unser Feind war, sagte er: es stimmt, dass es uns nicht gut geht, wir haben uns nur daran gewöhnt, dass es uns schlecht geht. Ich denke oft an diesen Satz und ich denke, dass wir leider auch unfähig sind, zu erkennen, wenn wir glücklich sind. Oder es nicht haben wollen. Dieses Glück. Ich zum Beispiel bin immer glücklich, wenn ich die Kakaoschalen der Kinder aus dem Geschirrspüler hole. Ich will dieses Glück nicht, aber es passiert aufdringlich und regelmäßig. Ich frage mich auch, ob dieses Gefühl in Herzgegend, das so ist, als würde Sirup in einen Trichter laufen, Liebe ist oder Glück.

Freitag, 26. März 2010

una sola parola: ahime

Zwei Tage hat mich einiges bedrückt. Ich dachte schon, ich muss hundert Fragen stellen. Aber das wäre eine ziemlich Arbeit gewesen: Wer? Was? Wie? Hä? Warum? In echt? usw. usw. Einmal werde ich das machen, aber nicht jetzt. Heute ist wieder Land in Sicht.
Das Kind im Auto auf der Fahrt zur Schule räuspert sich: "Glaubst du, sehen meine Schulkollegen morgens Zeichentrickfilme, bevor sie zur Schule gehen, ja oder nein?" "Nein!" lüge ich unerschrocken. "Doch!" schreit das Kind triumphierend. Aus meiner Brust will jetzt eigentlich der Wortschwall heraus, eine Art Wahlkampfrede gegen das Fernsehen, aber meine Stimme sagt nur belustigt: "Na sowas!" Ich muss eingepuppt sein, vielleicht werde ich ein Schmetterling (ein blauer, wie der aus Alice in Wonderland)
Der Rallyefahrer hat einen Film mit Bruce Lee gesehen und ist danach wie betrunken aufgekratzt, kommt nackt mit seiner Pyjamahose giggelnd aus dem Kinderzimmer und sagt, ich muss das Etikett aus der Hose schneiden. Ich muss immer alle Waschanleitungen aus den Hosen, Leiberln, Hemden schneiden. Ich sage: "Bring die Schere", das macht er aber in seinen Bruce Leeschen Allmachtsgefühlen nicht, sondern schneidet selbst ein Loch in die Hose, die er vor zwei Tagen als Ostergeschenk von einer Freundin bekommen hat. Ich habe mich noch nicht mal bedankt.
Dann muss er schlafen gehen, während seine Brüder noch drei Lieder vom Sanremo-Festival hören und sehen können. Manchmal findet MM etwas pädagogisch wertvoll, was im Fernsehen ist und nimmt es auf. Daher kennen unsere Kinder alle Lieder, die täglich mehrmals aus dem Radio dröhnen, auswendig. Zum Glück singen sie besser als ich. ("Sono un re matto, cambio spesso regole" - ich mache den verrückten König zu einem "re mattone" zu einem Ziegelkönig, was die Kinder sehr erheitert)

Auf unserer Baustelle ist die Treppe verfliest, wie mir mitgeteilt wird. Und es ist passiert, was vorauszusehen war: die Abrechnung des Obermaurers ist zu hoch ausgefallen und zwar, was die Instandsetzung der Mauern betrifft. MM schaut mich an, als ob es ausschließlich meiner Ekstase zu verdanken wäre, dass die Summe das doppelte ausmacht, als gedacht. Deshalb rächt er sich: er erzählt dem Obermaurer, er riskiere die Scheidung, weil seine Frau finde, er sei unfähig, die Arbeiten zu kontrollieren und wie sowas passieren kann. Ich sage: alle Achtung, das nenn ich aber wirklich Pirandello. Am Montag wird es eine Aussprache beim Architekten geben und dazwischen ist Eiszeit.
Und dann wird etwas überbleiben, was ich schon lange befürchtet habe: unser Haus wird keine Farbe bekommen. Zumindest nicht jetzt. Und wir reihen uns in das Gesamtbild der kalabresischen Häuser ein, immerhin ist unser Haus verputzt, viele Häuser sind nicht mal das. Die haben aber innen meistens goldene Türschnallen, das werden wir nicht haben, wenn wir überhaupt Türschnallen haben werden. Ich habe mich damit abgefunden, es ist mir eigentlich sogar egal. Ich werde doch ohnehin ein blauer Schmetterling und ich bin es jetzt so gewohnt, auf einer Baustelle zu agieren, dass ich gar nicht möchte, dass das Haus wirklich fix und fertig wird.

Heute war die Arbeit nicht mehr so schlimm. Ich werde bald für die nächste Arbeit weg fahren und ich möchte mich mit Händen und Füßen an einen Türstock klammern, um nicht weg zu müssen. Blöderweise haben wir im neuen Haus noch keine richtigen Türstöcke.

Ich habe Rilkegedichte vertont gehört und ich denke nun, dass es unter allen Worten nur eines gibt, das wirklich wichtig ist, und das ist: "Ach". Das gibt es auch auf italienisch, da heißt es: ahime, gesprochen ajme. Niemand sagt es je, außer intellektuelle Radiosprecher in ausgesuchten Texten. In der gesprochenen Sprache sagt man eher "minchia", was so viel wie "cazzo" heißt, was wiederum soviel wie Schwanz heißt, womit das männliche Geschlechtsorgan gemeint ist. Angeblich ist es nicht einmal besonders anstößig, weil es wie ein hmhm dauernd verwendet wird. Zumindest in Sizilien. Der Ökonomie halber sagt man einfach:"Miii", wenn einem etwas auf die Nerven geht oder: "ma che miii dici?", was redest du da für einen Scheiß?

ach ach ach ach ach ach ach schreibt La dattilografa mit ihren Möchtegern-Stenotypistinnenhänden. Hoffentlich geht alles gut. Auch bei den Wahlen am Sonntag.

Donnerstag, 25. März 2010

senza parole

Bars (und ich meine die italienischen, in denen man Kaffee trinkt, nicht die Bars mit dem Whiskey und den Cocktails) werden von mir in erster Linie nach dem Kriterium des Häusls bewertet. Immer schon, aber seit wir kein Klo in unserem neuen Haus haben, mit besonderer Sorgfalt. Normalerweise setze ich das Kind in der Schule ab und begebe mich direkt auf den Hauptplatz der Marina, in die Bar, die den Namen San Marco trägt. Und zwar nicht an Anlehnung an Venedig, wie ich erst dachte, sondern weil auch in unserem relativ unbedeutenden Ort der Hauptplatz San Marco heißt. Dort esse ich una treccia crema amarena und wundere mich, wer aller um acht Uhr morgens schon Geld in Spielautomaten wirft. Ich glotze die Fernsehnachrichten vom Canale cinque und lese manchmal eine interessante Seite in einer gar nicht so schlechten regionalen Zeitung. Der junge Mann stellt mir ungefragt Wasser und Kaffee hin, wenn ich die Brösel des süßen Zeugs abwische. Zum Abschluss gehe ich in ein nach Chlor riechendes Klo. Ich habe Schlimmeres gesehen.
Neuerdings treibt es mich allerdings in den eigentlichen Ort auf dem Hügel, und zwar deshalb, weil dort ein kleiner Supermarkt den Prosecco, den die Konsumentenvereinigung, der ich angehöre (und mit deren Rechtsanwalt ich wegen der Telecom ab und zu telefoniere), zum Besten erkoren hat - und wir enthusiastisch mit -, im Sonderangebot verkauft und ich täglich zwei Flaschen erstehe. Dabei geht es gar nicht so sehr darum, dass es ihn billiger gibt, sondern, dass es ihn überhaupt gibt.
Eigentlich dachte ich, ich würde Vorräte für unsere Housewarming Party anlegen, aber an gewissen Tagen frage ich MM, ob er auch findet, man müsse jetzt ein Flasche Prosecco öffnen, und daher muss ich immer wieder in den kleinen Supermarkt gehen. Die erste Bar am Corso hat ein annehmbares Klo und außer, dass der Kellner morgens so aussieht, als hätte er noch viel mehr Prosecco getrunken als ich, ist mir nichts nennenswertes aufgefallen - bis heute. Als ich meine 1,60 Euro bezahle, nehme ich im Hintergrund eine Weinflasche mit dem Schriftzug Mussolini wahr. Aha. Und plötzlich sehe ich noch viel mehr. Der Duce grüßt auf einer Postkarte. Nächste Postkarte: Viva il duce. Dritte Postkarte: blablabla, kann ich nicht lesen, ist zu klein gedruckt, groß gedruckt: La destra und irgendwas zum Thema Europa. Angewidert gehe ich an die Frischluft. Ich habe Lust, den nächsten Passanten anzusprechen: Grüß Gott, können sie mir bitte sagen, wo die Bar des PCI ist? Gleichzeitig bin ich froh, dass im allgemeinen Gewäsch sich der Feind wenigstens deutlich zeigt. Da ich gestern 70 Studienbeginner auf einem Haufen vor mir hatte, von denen einer nach dem "Fiurrer" rief und ich abschließend feststellen musste, dass die heutigen 20-jährigen einfach unkontrolliert sind und glauben, dass sie sich dauernd in einer talkshow statt in ihrem eigenen Leben befinden (Ausnahmen gibt es natürlich auch!), finde ich es eigentlich ok, dass der unglückliche Mann in der Bar sich als Faschist outet und mir die Möglichkeit gibt, seinen Laden auch nicht mit 1,60 € zu fördern.
Ich erinnere mich daran, dass einer unserer jungen Maurer auch bei den Regionalwahlen kandidiert. Ein Kollege hat ihn gefragt, ob er eigentlich rechts oder links sei (offenbar haben ihm die diversen Bürgerlisten den Blick verstellt), worauf der junge Mann etwas antwortete, das ich mit "Geh bitte, das ist doch schon alles längst überholt!" übersetzen würde. Er fährt, nebenbei bemerkt, einen Audi und ist etwa 22.
Als nächstes fällt mir ein, dass ein Freund von MM, der Filmgeschichte an der Uni unterrichtet, erzählte, ein Prüfling hätte auf die Frage nach einem Film von Ettore Scola nicht antworten können, welche Männer es genau gewesen wären,die sich da in den Bergen versteckt hätten. Auf den Hinweis, das seien Partisanen, hätte er geschnauft: "Professor, bitte, ich beschäftige mich nicht mit Politik."

Mittwoch, 24. März 2010

Fatti miei

Das eine Kind muss den Konjunktiv in den verschiedenen Zeiten richtig einsetzen, das andere über die Kreter lernen. Ich rase mit ihnen das dritte Kind holen und alle dann zu ihrem Vater bringen, damit ich auf den Elternsprechtag gehen kann. Als wir unseren Hügel runterfahren, reden wir über Schlangen. Ich bin ja froh, dass sich die Kinder vor Schlangen nicht fürchten, aber ich will auch nicht, dass sie sie liebkosen, ich sage ihnen das. Ich will ihnen einen Vergleich mit einem Huhn erzählen und mir fällt eine Geschichte ein, die meine Schwiegermutter erzählt hat, in dem ein Huhn einer Maus dem Kopf aufpeckt. Diese Geschichte hat mein Sohn in einem Aufsatz beschrieben und als wir das der Nonna erzählten, machte sie eine andere Geschichte daraus. Ich denke, meine Schwiegermutter ist eine große Geschichtenerzählerin, aber eben eine Erzählerin, sie erinnert sich nicht an das, was vorher war. In diesem Moment verlässt mich selbst die Erinnerung und ich habe das Gefühl mein Gehirn würde sich in einer Schale aus dem Kopf heben. Ich weiß nichts mehr! Ich begebe mich auf die Staatsstraße. Ich denke: ist das ein Panikanfall? Mein Herz ist aber ganz ruhig. Ich kann mich einfach an nichts mehr erinnern. Ich weiß keine Geschichten mehr.

Ich versuche mich zu trösten: niemand kann alles aus dem Stegreif hervor rufen. Auch meine Kinder, begnadete Nacherzähler, holen zuerst Luft.

Ich sollte mehr schlafen.

Ich hadere den ganzen Tag mit diesem Gefühl, ich hätte mein Gedächtnis verloren.
Ich suche verzweifelt im Autoradio nach einem Lied, das mir ein Zeichen gibt.
Am Abend denke ich, ich habe einfach zu viele Menschen gesehen, ich habe zu viele Supermärkte auf der Suche nach den Ostereiern besucht.

Mir ist zu viel passiert, was ich vorausgesehen habe. Ich denke, ich muss heute den gehenden Mann sehen, ich bitte geradezu darum. Da geht er auch schon und kreuzt noch dazu die Straße, das hat er noch nie getan. Mein großer Sohn besitzt nicht die dezente Art des jüngsten, er sagt: "Der ist alt geworden!" Aber es sind nur ein paar Monate vergangen, seit er ihn gesehen hat, in der Zwischenzeit ist der gehende Mann alt geworden. Ich starre ihn an, ich versuche sein Bild festzuhlten. Er trägt einen blauen Zopfgummi. Er schaut wirklich alt aus und braun oder rot. Er hat dieselbe Haut wie ich. Ich habe auch am ersten Tag mit Sonnenschein und einem langen Gespräch mit dem Obermaurer Richtung Sonne eine rote Stirn bekommen. Der Mann geht zur Busstation. Hat er aufgegeben?

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Fatti i fatti tuoi, sagen die Italiener. Kümmer dich um dein eigenes Zeugs. Aber ich hätte ein paar Sachen zu klären. Ich müsste endlich stehen bleiben und ihn fragen, was er da tut.

Nur so kommen wir weiter.

Montag, 22. März 2010

Regionalwahlen und Verkleinerungen

Kurze Milde gegenüber dem Land verspürt, wegen frühlingshaftem Wetter, Vogelgezwitscher und Nachrichtenabstinenz. Eigentlich freu ich mich ja immer auf den Montag, weil der Sonntag wegen geballter Familie so anstrengend ist, aber der Montag bringt oft unangenehme Überraschungen: wegen der Regionalwahlen (im Radio höre ich Lieder in denen „Zum Glück gibt es Silvio“ gesungen wird, das ist kein Spaß) sind ab Freitag Mittag die Schulen geschlossen und zwar bis Mittwoch, am Donnerstag fangen aber die Osterferien an, d.h. meine Kinder haben unverhofft fast zwei Wochen Ferien und wir keine Chance, uns darauf vorzubereiten. Jetzt wo sie endlich dividieren können, wird ihnen die Freude vorenthalten, diese neue Kunst ausgiebig zu praktizieren. Das Relativpronomen „che“ wird unter dem Ostereierpapier in Vergessenheit geraten. Hilfe, ich werde keine Ostereier ungestört einkaufen können, ich werde immer alle bei mir haben, im Supermarkt, zu Hause, auf der Baustelle, wenn ich Kaffee trinke, und möglicherweise muss ich sie auch in die Arbeit mitnehmen. Bei MM sind sie besser aufgehoben, beschließe ich, der hat einen großen Fernseher in seinem Labor und dort werden sie Zeichentrickfilme bis zum Abwinken sehen. Wenn ich schreibe, werden sie auf meinem Computer Michael Jackson Videos sehen wollen. Und das alles wegen der depperten Wahlen, die sowieso ein Chaos und eine Farce sind und unnötig, denn das Regime wird ohnehin bald gestürzt und dann wird neu gewählt. MM sagt, dass der Cavalliere Angst hat, wie Sarkozy zu enden, aber ich glaube, er hat Angst, wie Ciauscescu zu enden.

Von meiner wenig rosigen Zukunft werde ich durch einen Anruf in der Schule in Kenntnis gesetzt, ich will immer alles früher wissen, ich bin eine Nervensäge, „una rompipalle“, (eine die Hoden zerstört?!). Hätte ich doch nur auf die schriftliche Mitteilung gewartet, die meistens einen halben Tag vor dem Ereignis gemacht wird, denn italienische Mütter sind ohnehin immer zur Verfügung, oder aber die Kinder sind bei den Großeltern, die sich gerne nach dem Stundenplan der Kinder richten. Wenn ich auf die schriftliche Mitteilung gewartet hätte, hätte ich mir ein paar entspannte Tage gemacht und wäre dann erschrocken zum Krisenmanagment übergegangen. Ich wollte auch wissen, ob ich meine Kinder heute eineinhalb Stunden über Mittag in der Schule lassen kann, denn obwohl ich wirklich ein schlechtes Gewissen habe, erscheint es mir doch zweckdienlich nicht 40 Minuten zur Schule zu fahren, nach Hause zu rasen, zu kochen, und die Kinder wieder mit dem Blaulicht in die Schule zu bringen und wieder 40 Minuten zum rosa Zimmer und zur anderen Schule zu fahren. Ob ich ihnen denn eine „Merendina“ gegeben hätte, fragt die Lehrerin am Telefon. Die Verkleinerung von Jause ist doch eigentlich nicht möglich, Jause ist doch eh schon die Verkleinerung von echtem Essen. Meine Kinder haben 2 Stück von mir selbst belegte Pizza im Rucksack, eine wertlose Süßigkeit, in der angeblich Joghurt ist, einen karieserzeugenden Saft („il succhino“, das Safterl) und einen halben Liter Wasser. Das ist das Jauserl. Meine Kinder küssen mich wegen dem Jauserl auf die Wangen, sie lieben Pizza und süßen Schmarrn. Un bacino, ein Bussi wahrscheinlich.

In Mathematik lösen sie dann „problemini“, kleine Probleme, Problemchen. Mir geht dieses verkleinerte Leben auf die Nerven.

Unser Obermaurer benutzt mit deutlicher Hingabe das Wort „un attimino“, Verkleinerung eines Augenblicks. Vediamo un’attimino. Schaun wir mal ein Augenblickchen. „Un pochettino“, die Verkleinerung von ein wenig ist überhaupt der Gipfel.

Die Maurer versuchen mich eben aus dem Weg zu räumen, von unterhalb des rosa Zimmers dringt eine Staubwolke, die Mischmaschine dreht sich lautstark. Manchmal denke ich, der Obermaurer mit seiner Firma ist wie ein Hund, der sein Territorium markiert. Er stellt seine Mischmaschinen auf und dann ist alles seins. Wir haben vor und hinter dem Haus eine, bei einem Nachbarn in der Umgebung steht auch eine. Die unter meinem Fenster ist gelb wie die Zitronen auf dem Baum daneben. Gelb von blühendem Klee sind auch die Wiesen auf der anderen Seite des Flusses. Dort stehen noch immer die Schafe. Ein Schaf wäre ich heute auch gerne, möglichst ein elektrisches.

Sonntag, 21. März 2010

Wann ziehen wir um?

Der Jasmin blüht. Dort wo wir noch wohnen. Sein Duft betört. Es ist Frühling, was bei uns immer gleich in Sommer ausartet. Heute ist der erste Tag, an dem wir nicht einheizen. Wir waren am Meer. Die Kinder dürfen sich die Schuhe ausziehen und erst nach fünf Minuten komme ich drauf, dass sie sich natürlich auch die Socken ausziehen dürfen. Ich liege auf dem Kieselstrand. Die Kinder wühlen wie freigelassene Hunde Löcher in den Strand und schlagen Räder und machen Purzelbäume. Ich denke, dass wir hier wieder bald ohnmächtig vor Hitze unter dem Sonnenschirm liegen werden und ich bemerke gar nicht, dass dieser Gedanke in vielfacher Hinsicht falsch ist.
Wir werden DORT am Strand sein, dort wo MM und ich, als wir so was ähnliches wie jung waren in der Nacht gebadet haben und wo uns unser Weg wieder hingeführt hat. In unserem Garten blühen die Birnbäume, die Kirschbäume und die Zitrusfruchtbäume, auf denen noch Mandarinen und Orangen hängen, haben schon wohlriechende Blütenknospen.
Aber der Jasmin ist da. Das Haus wird weinen, wenn wir nicht mehr hier sind, sagt der Rallyefahrer, der selbst die seelenlosesten Dinge mit einem Ich versieht und mich wochenlang mit der Vorstellung gequält hat, mein Auto, das ich verschrotten lassen habe, würde zu mir zurückkommen. Zum Glück hat das Chaos hier unerträgliche Ausmaße angenommen und so werde hoffentlich ich nicht weinen, wenn wir ausziehen. Heute habe ich die erste Schachtel für den Umzug gepackt, eine verhältnismäßig kleine Schachtel mit Büchern, die ich alle gleich lesen wollte, vor allem Virginia Woolfs "Fahrt zum Leuchtturm". Auf dem Buchdeckel war von großer großer großer Traurigkeit zu lesen und ich habe mich gefragt, wieso mir das bis jetzt unbekannt war.

Zu den periodisch gestellten Fragen: Wann sind die Osterferien, wann ist mein Geburtstag, wann können wir endlich die Badehosen anziehen, gesellt sich nun die Frage: wann ziehen wir um? Eine fiebrige Aufregung beherrscht meine Kinder, die bei jeder mitgehörten Konversation aufgeschreckt werden: "Morgen? Was Morgen? Morgen ziehen wir um? Jungs, morgen ziehen wir um!"
Da der Rallyefahrer die drei Verlobten, die beiden Freunde aus Rom und andere drei Geschwister plus einige Verwandte zu seinem Geburtstag im Mai einladen möchte und (Hallelujah!) niemanden aus seiner Klasse, versuchen wir ihm einzureden, dass es besser ist, seinen Geburtstag im Juni zu feiern. Das wäre für mich besser, denn dann ist meine Arbeit fertig. Bei der Erinnerung, wie ich letztes Jahr an drei freien Tagen 3200 km zurückgelegt habe, um an einem dieser drei Tage den Geburtstag meines Sohns zu feiern, fallen mir vor Müdigkeit gleich die Augen zu.

Ich werde den Jasmin vermissen. MM sagt, er werde dieses Haus ganz sicher nicht vermissen. Ich schaue ihn an. Immerhin haben wir hier 14 Jahre lang gelebt. Er sagt, ich wisse doch, dass er sich nie verliebe. Ich schaue ihn wieder an. Ich glaube, ich habe den "Wie bitte?"-Blick. Er sagt: "Außer in meine Frau natürlich."
Vielleicht ist wahr, dass er sich nicht in Häuser oder Leute verliebt, so wie ich das tue. Aber er verliebt sich ganz bestimmt ins Leben, in Situationen. Gestern war er ganz aufgekratzt, als er nach einem Tag Arbeit mit Stefano im Obstgarten und um den "pozzo nero", die wunderbare Senkgrube, heimkehrte. Er hatte den 95-jährigen Nachbarn von unten gesprochen, Nachbarin Teresa und Nachbarin Maria hatten jeweils Brot gebacken und ihn eingedeckt, irgendwelche weisen Onkeln mit Schnurrbärten waren auch aufgetaucht. Vor allem der alte Nachbar hatte ihn illuminiert, da er so ganz und gar nicht alt in seinem Geiste sei. Und weil ihm dieses Paar so gefalle, der alte dünne Mann mit seiner mehr als zwanzig Jahre jüngeren dicken Frau, die friedlich ihren großen Weingarten bearbeiten.

Der alte Nachbar fährt einen alten schwarzen Fiat Panda. Alle fahren sie hier Pandas, alle, aber er ist der einzige mit einem schwarzen. Beim Autofahren hängt eine Zigarette aus seinem Mundwinkel. Eines Tages habe ich ihn bei der Einfahrt auf die Staatsstraße gesehen, sein Auto bewegte sich nicht, ich sah seinen Kopf über das Lenkrad gebeugt. "Er ist tot", dachte ich und fuhr neben sein Auto um hineinzusehen. Aber er versuchte nur zu starten. "Wo fahren sie hin?" schob er zwischen Zigarette und Lippen raus. Ich fuhr in die andere Richtung. "Mein Auto startet nicht mehr. Managgia. " sagte er. Ich sagte auch "Managgia", was sowas wie "Donnerwetter" oder "verdammt" oder "es darf nicht wahr sein" heißt. Ich denke an Starterkabel und in diesem Moment rollt er los. Er weiß selbst nicht, wie es geschieht, er tuckert auf die Staatsstraße, auf der von links zum Glück kein Auto kommt, von rechts aber drei. Und er überquert die Staatsstraße nach links. Die Autos hupen. Eines bleibt stehen, eines fährt vorbei, das dritte gerät ins Schleudern, das ist ein Installateur mit einem kleinen Lieferwagen. Der schwarze Panda kommt in der Mitte der Staatsstraße wieder zum Stehen und gleitet dann in Zeitlupentempo weiter. Ich denke, das ist die letzte Stunde des Nachbarn und schaue entgeistert zu, wie er seinem sicheren Tod entgegenfährt, aber obwohl auch die mittlerweile von links kommenden Autos hupen und die von rechts alle bremsen und hupen, hat er es geschafft, auf den Fahrbahnrand zu kommen, er hebelt energisch herum, die Zigarette im Mundwinkel, den Kopf nach vorn gereckt und auf die Fahrbahn schauend. Ich bin davon überzeugt, dass ich soeben Zeugin eines echten Wunders geworden bin und schaue, ob ich irgendwo noch die Madonna sehe. Ich denke, dass ich seiner Frau sagen möchte, sie soll ihn nicht mehr autofahren lassen. Dann fahre ich in die andere Richtung.
Weil die Italiener alle keine Verkehrsregeln ernst nehmen, überleben sie gar nicht schlecht im Straßenverkehr. Unsereiner, der zwanghaft zwischen zwei weißen Strichen fahren will, hat da weniger Chance. Ein Italiener ist immer auf alles gefasst.

In Autoradio habe ich ein neues Liebelingslied gefunden: Questa è la mia vita, non è una canzone, la la la la la, la la la la la. Das ist mein Leben, es ist kein Lied. Und weil es sich reimt: Questa è la mia vita, non è una prigione. Das ist mein Leben, es ist kein Gefängnis. La la la la la, la la la la la.

Freitag, 19. März 2010

Becky Thatcher is on facebook

"Gibt es heute abend wieder Becky Thatcher?" fragt das Kind im Auto auf der Fahrt zur Schule, nachdem es, aus irgendeinem Grund beleidigt, 20 Minuten nicht mit mir gesprochen hat. Becky Thatcher? Meine Kinder haben die Geschichte von Tom Sawyer auf einen Handlungsstrang reduziert und zu meinem Leidwesen nicht verstanden, wer der eigentliche Held des Buches ist: Huck Finn. Während sie bei den Abenteuern der Ausreißer beginnen, Dragonball-Comics zu lesen und mit ihren Puppen zu flüstern, werden sie, sobald Becky Thatcher die Bühne betritt, andächtig still und lauschen der zarten Liebesgeschichte ergeben. Plötzlich muss ich daran denken, dass als ich siebzehn war, mein damaliger Freund mir vorwarf, ich hätte von Stanislaw Lems Roman "Solaris" nur die Liebesgeschichte interessant gefunden. Ich weiß noch genau, wo in der Tram dieser schmerzhafte Angriff stattfand und ich kann nicht anders, als die rauen und aufgesprungenen Lippen des Freundes vor mir zu sehen, die ich immerzu küssen wollte. Nachdem ich diesen ehemaligen Freund fast dreißig Jahre nicht gesehen habe, hat er mich nun auf facebook um meine Freundschaft gebeten und ich war nicht ich selbst genug, dieses Freundschaftsangebot zu ignorieren. Nun begegne ich auf einem der zahlreichen Nebenschauplätze in meinem gefühlsreichen inneren Leben immer wieder diesen Lippen und auf facebook seinen geistreichen und politisch wertvollen Beiträgen für seine 776 Freunde.

Abgesehen davon haben wir alle viel Arbeit und sind sehr müde. Morgen ist aus einem seltsamen Grund am Namenstag von Giuseppe der Vatertag und meine Kinder haben schulfrei. Sie bringen rührende Gedichte zum Thema Vater aus der Schule und der Gerechtigkeit wegen ist MM auch frei und wird die Kinder auf der Baustelle betreuen, während ich arbeite. Wie machen das die anderen Mütter zum Thema Vatertag? Als Hausübung steht die Beschreibung des Vaters auf dem Programm: Mein Vater hat einen Bart der weiß und schwarz ist. Seine Nase ist normal. Er kleidet sich sportlich und trägt nie eine Krawatte. Mein Vater ist sehr nett und liebevoll. Er sagt zu meiner Mutter, die nicht mehr zu reden aufhört: "Schluss jetzt, schick sie ins Castigo." (Dorthin, wo nachgedacht wird über die üblen Dinge, die Kinder so im Lauf ihres Lebens begehen.) Wenn mein Vater ein Tier wäre, wollte er ein Wanderfalke sein. Er schaut gerne Filme und arbeitet an unserem neuen Haus.

Da fällt mir ein, weswegen das Kind, Fan von Becky Thatcher, beleidigt war: jemand hatte ihm einen Euro geschenkt und die Moralistin in mir hatte sich zu einer Wahlkampfrede zum Thema: "Kein Geld von Fremden annehmen, niemals!" aufgeschwungen. Eine von denen, die - wie ich jetzt weiß - zu: Meine Mutter, die nicht zu reden aufhört, zählt.

In unserem neuen Haus sind Mirko und Adriano stationiert, das Wetter ist strahlend und alle anderen frönen anderen Outdoor-Tätigkeiten. Der Obermaurer gräbt mit "La motozappa" seinen Garten um, wechselt die Fenster bei einem Freund aus und vergisst immer wieder, einen Zahnarzttermin für seine Frau auszumachen. Das fällt ihm ein, wenn er mich sieht. Unsere spannenden Gespräche haben sich auf dieses Thema reduziert. Schade, aber gleichzeitig gewöhne ich mich an den Gedanken, dass wir eines Tages wieder alleine auf unserem Grund sein werden. Nur Stefano, der wie ein Zenbuddhist meditativ die kleinen Zweige von den Olivenästen abschneidet, soll nicht weggehen. Er macht uns kleine Bündel, auch aus abgelagertem Holz, das wir dankbar in unserem alten Haus verbrennen, denn dass tagsüber die Sonne runterbrennt, heißt nicht, dass wir abends nicht einheizen müssen. Stefanos Mutter Teresa bringt mir Brokkoli, Jungzwiebeln und Fenchel und nennt mich "mein Schatz". Mein Schatz soll die Brokkoli kochen und einfach mit Öl und Zitrone als Salat servieren. Ich bin stolz auf die Kinder, die weltmännisch gelassen und mit heiterem Ausdruck alle Damen küssen, wie echte Kalabresen.

Aufgrund des schönen Wetters gönnt sich La dattilografa einen Ausflug auf den Wochenmarkt in einem nahegelegenen Ort. Der Markt liegt direkt am Meer und La dattilografa geht ihrer geheimen Leidenschaft nach. Andere mögen spielsüchtig sein, schon morgens trinken, teure Kleider kaufen, Liebhaber in Hotelbetten verschlingen oder einfach dem Fernsehen verfallen sein - La dattilografa hingegen kauft Markenjeans für 5 Euro. Sie kann nicht anders. Sie ist auf der Suche nach "Autolet americano - kein chinesisches Zeugs". Sobald sich eine Levis auftut, wird überlegt, ob sie irgendeinem Familienmitglied passen könnte. Die Outlets auf dem Markt sind original neapolitanischer Herkunft und die Jeans stammen höchstwahrscheinlich aus der Altkleidersammlung aus Düsseldorf oder einer anderen deutschen Stadt. Da unser kommerzielles Leben hier aber tatsächlich von chinesischem Zeug bestimmt ist, bekomme ich eine Art Rausch bei der Ansicht von Wrangler-Jeans auf dem Wühltisch.
Meine zweite Droge sind Artischocken, die ich zwanghaft bündelweise kaufen muss. MM, der sie dann verarbeitet , fleht mich an, meine Einkäufe mit seiner Verfügbarkeit abzustimmen, aber er hat keine Chance, ich kann an Artischocken zwar vorbei gehen, aber eine magnetische Anziehungskraft führt mich schließlich doch zu ihnen zurück.

Alle schlafen sie jetzt. MM weiß nicht, dass neben der Tiefkühltruhe in einem Gang neben dem Haus bereits 20 Artischocken für 6 Euro (weil sie so groß sind) auf ihn warten, neben dem kleinen Sohn liegt Riesenteddybär Baby, der Rallyefahrer nimmt im Schlaf wieder eine normale Farbe an, nachdem er hochrot im Gesicht von einem Videospiel ins Leben zurückkehren musste und selbst der (vor?) - pubertäre Alles- und Besserwisser ist im Schlaf ein pausbäckiges Kind. Und all die anderen? Becky, Tom? Huckleberry Finn? Mein ehemaliger Freund schreibt sicher um diese Zeit noch Pamphlete. Und der gehende Mann, den ich immer wieder sehe? MM wacht auf und spricht zu mir: "Und du? Musst du nicht ins Bett?" Augenblicklich schläft er weiter. Himmel, wo sind die durchwachten Nächte, die Verzehrung? Heute wachen wir nur noch neben fiebernden Kindern, aber das ist nicht die Verzehrung, die ich meine.

Donnerstag, 11. März 2010

Kulturelle Fragezeichen

Der Tag beginnt nicht schlecht, die Sechsuhrnachrichten prallen an unseren ausgeschlafenen Gesichtern ab, wie der Regen an unseren Schirmen, die wir für 2-5 Euro bei den Chinesen oder Marokkanern kaufen. Geht einen Tag lang gut, dann wird's löchrig. Ist so. Das andauernde Chaos bei den Listen für die Regionalwahlen. Haha.
Meine Ruhe dauert eine Stunde. Dann bemerke ich, dass die Putzfrau meine Goldkrone weggeschmissen hat. Ich gebe zu, sie war in ein Taschentuch gewickelt. MM sagt höflich, dass ich Mitverantwortung trage. Um sieben Uhr morgens steigt mein Adrenalin schon so sehr, dass ich die Hände aufeinander schlage, was mir in letzter Zeit besonders gefällt, weil es ein Geräusch wie Ohrfeigen macht und schreie:"Wenn sie schon sonst nichts zusammenräumt, soll sie auch keine Taschentücher wegwerfen!" Die Kinder schauen erschrocken und schuldbewusst. Dabei habe ich mir doch so vorgenommen, sie nicht merken zu lassen, dass ich die Putzfrau hasse. Sie gehen nämlich sofort zu ihr und sagen: "Weißt du, meine Mamma ist sehr unzufrieden und regt sich in der Früh auf." "Was soll ich tun, sag mir, was ich tun soll" belle ich mit heiserer Stimme MM an. "Nichts, ab Montag soll sie nicht mehr kommen", sagt MM mit dieser stoischen Ruhe, die mir auch gleich wahnsinnig auf die Nerven geht. "Das geht nicht, denn wenn ich nicht da bin, was machst du dann?" frage ich ihn mit fast überkippender Stimme. So. Jetzt ist nämlich er schuld.
Mit geringer Abweichung in der Wortwahl geht es nun einige Minuten hin und her, mehr Zeit haben wir nicht, denn wir stehen mittlerweile vor den Autos und ich setze mich wütend und vor allem beschämt, dass ich mich so gehen lasse vor den Kindern, ins Auto, der Cholesterinspiegel ist sicher auf 1000, der Herzinfarkt rüstet sich. Höchstwahrscheinlich brauche ich die Goldkrone sowieso nie mehr, der Zahn ist ohnehin kaputt. Die Kinder schweigen vorsichtshalber. Der mutige Rallyefahrer wagt es: "Es tut mir leid, Mamma", zu sagen. Die Armen, es ist nicht leicht, eine cholerische Mutter zu haben. Nach der ersten Abgabe beim Schulbus denke ich, mit nur noch einem Kind im Auto, was mein männliches alter ego, der Supertyp mit den Jeans und dem weißen Hemd gemacht hätte. Bis jetzt weiß ich keine Antwort. Hätte er die Goldkrone von Anfang an an einen sicheren Ort gebracht? In seine Hosentasche? Oder hätte er die Putzfrau auf der Mülldeponie nach der Krone suchen lassen? Hätte er gesagt: sei's drum?

Im Lauf des Tages vergesse ich diese Niederlage, denn besseres steht ins Haus.
Doch dann schließt sich der Kreis und nach einer Meisterleistung an Organisation und einem berauschenden Besuch in der Zahnklinik in einem Ort, der sich wie das St. Moritz Kalabriens präsentiert, kehre ich nach vielen Kilometern am Meer, das sich gebärdet wie der Atlantik in unseren Ort zurück und bleibe vor einem Haus stehen, wo ich den Rallyefahrer vom Spielen mit seinem Schulfreund erlösen möchte. Das Haus ist recht dunkel, ich drücke auf irgendeinen Knopf an der Gegensprechanlage, wissend, dass im Haus nur eine Familie, wenn auch verzweigt, wohnt, tappe im Finstern nach einem Lichtschalter und weiß, dass nur mütterliche Gefühle mich so unerschrocken machen. Von oben ertönt eine wenig liebliche Stimme: "Chi è?" "Ich bin La dattilografa und hole das Kind", rufe ich. "Hä?" "Ich hole das Kind X, es ist bei Y." "Ja, ich sage es meiner Tochter." Über eine andere Art Gegensprechanlage sagt die Dame, dass jemand wegen der Kinder da sei. "Er kommt gleich!" sagt sie danach ungesehen in den Flur zu mir hinunter. Ich bin platt, die einzige Antwort, auf die ich gewartet habe, war "Kommen Sie rauf Signora!", da ich doch meine Existenz legitimiert habe. Hätte ich extra betonen müssen, dass ich die polnische, ukrainische, weißrussische Mutter des Kindes bin und nicht die polnische, ukrainische, weißrussische Babysitterin? Ich bin beschämt. Ich wollte mich doch bei der Mutter bedanken. Ich war doch schon auf einen Kaffee eingestellt. Ich wollte doch die kleinen Zwillinge der Mutter bewundern. Was habe ich denn falsch gemacht? Ich stehe im Flur "come un carciofo", wie eine Artischocke, in meiner Kindheit hat man gesagt: "Wie bestellt und nicht abgeholt." Das Kind kommt mit dem großen Bruder des einladenden Kindes. Ich sage, es soll seine Mutter grüßen. Ich glaub ich spinn. Die sitzt drei Meter über mir und lässt mich nicht hoch.
Das Kind im Auto will nicht alle Nintendo-Spiele preisgeben, mit denen es gespielt hat und versucht Konversation zu betreiben: "Du musst sicher aufs Klo, wenn wir zu Hause sind." "Wieso?"- "Weil du immer aufs Klo musst, wenn du eine längere Reise hinter dir hast." Das stimmt allerdings und ich habe wirklich eine längere Reise hinter mir und am Montag reißen sie mir vielleicht den Zahn, dabei sollte ich doch am Montag mit dem großen Kind einen Herzultraschall machen (der hat nämlich ein Flüstern auf dem Herzen, oder wie das auf deutsch heißen mag), und ich rufe ohnehin MM an und schreie:"Hilfe!" und nun habe ich zum Glück ein Kind, das sich Gedanken über meine Blase macht. Das läßt mich das irritierende Verhalten beim Schulfreund vergessen. Zu MM sage ich:"Mir ist etwas seltsames passiert." MM erkundigt sich auf distanzierte Art, wo das Kind eigentlich war und ob die Mutter zu Hause gewesen sei ("Ja klar, nur der Vater geht abends an verschiedene Orte", antwortet der Rallyefahrer im Pyjama) und sagt: "Ach so die, aber bei denen ist doch nichts normal." Das ist nett. Ich denke also nicht mehr darüber nach.

Unser Badezimmer ist fertig verfliest. Der Obermaurer fände es schön, das hätte er sich nicht erwartet. MM hätte ihm gesagt, schön dürfe es nicht sein, so hätte er es in seinem Bühnenbildstudium gelernt, schön dürfe es erst mit den Requisiten sein. "DU hast mir doch gesagt, ich soll mit dem Obermaurer nicht philosophieren, er würde das nicht verstehen." sage ich unglücklich zu MM, weil ich mir die Ratlosigkeit des armen Obermaurers vorstelle, der ein Bad schön verfliest und an die Zähne seiner Frau denkt. "Doch, das ist okay." sagt MM, "er kann mich für verrückt halten, aber nicht für blöd." Der Obermaurer träumt sicher von unseren weißen Fliesen ohne Schilfgras und ohne Bordüren, "wie man das heute so macht", während ich letzte Nacht träumte, dass der kleine Sohn Matrix-artig in einem Betonloch verschwand und anschließend, dass jemand das rosa Zimmer rosa ausgemalt hatte. Worüber ich sehr überrascht war.

Als ich dann endlich zu Hause wie propheziehen aufs Klo gehe, erschauere ich vor Wohlbefinden: da liegt die Zeitung, die über die korrupte Schweiz schreibt, mit einer Schokolade aus Gold auf dem Titelblatt und dem Titel: "La Svizzera fondente" und ich bin so froh, dass MM sich einen Film mit John Wayne mit den Kindern anschaut und nicht an bestimmte oder verschiedene oder gewisse Orte geht. Und dass bei uns, auch wenn nichts normal ist, eigentlich alles ganz normal ist.

Mittwoch, 10. März 2010

herzklopfen

La dattilografa und MM sind nicht mehr allein. Abgesehen von den Kindern. MM hat der Dattilografa etwas enthüllt. Und zwar zum Glück etwas gutes. La dattilografa rauft sich angesichts der politischen Verhältnisse in Italien das Haar und fragt MM, ob es möglich sein kann, dass niemand außer den beiden von Berlusconi und Company (und der beschissenen Opposition, die sie machen lassen, was sie wollen) an den Rand des Wahnsinns getrieben wird. MM sagt, es gäbe jetzt il popolo viola, das violette Volk, das sich von den offiziellen Parteien schon allein durch die Farbe unterscheidet und vor allem im Internet agiert. Das habe ich doch letztens als einzigen Beitrag einer lange dauernden erhitzen politischen Debatte gesagt: die alte Politik ist vorbei, jetzt müssen wir Verantwortung übernehmen. Am Samstag demonstriert il popolo viola an vier Orten gleichzeitig, einer davon ist Reggio Calabria, wo der No Mafia Day stattfindet. Ich kann nicht hin, MM hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht, denn da er unter der Woche mit den Maurern scherzt, will er jetzt am Samstag arbeiten, statt seine Kinder zu unterhalten. Mist! Da aber auf unserem ungeschriebenen Banner steht: erst die Schule, erst die Schule, erst die Schule, kann ich die Kinder nicht mitnehmen.
Ich besuche die facebook-Seite des No Mafia Day und bekomme einen Heiterkeitsausbruch: Eine Dame mit einem anglosächsischen Namen fragt, ob sie bitte aufgenommen werden kann, sie sei 800 Level. Eine Dame mit italienischem Namen antwortet auf englisch, dass es sich leider nicht um Mafia Wars handle, sondern um eine Demostration gegen die Mafia.

Während sich in meinem Mund (hintenzum Glück) ein Zahn gespalten hat und ich nun die Zahnklinik besuchen werde, in der auch Frau Obermaurer ihre Zähne reparieren läßt (ich weiß jetzt wieder mal alles, bis zu den Wurzeln, und frage mich, ob nie jemand die Idee gehabt hat, ein Buch mit dem Titel "Was sie nie wissen wollten und trotzdem erfahren haben" zu schreiben), leidet meine Umwelt an erhöhtem Herzschlag. Leider nicht, weil sie alle verliebt sind. MM trinkt seit Wochen keinen Kaffee mehr und seit kurzem auch keinen Wein zum Essen. Unsere Freundin Teresa gesteht ihm, dass sie dasselbe Problem hat, aber sie schafft es morgens ohne Kaffee nicht. Teresa hat drei Kinder im Alter von 5 bis 12, einen Mann der auch samstags arbeitet, ihre Arbeitssituation ist schwierig und da sie ambitioniert ist, hat sie mit vierzig zu studieren begonnen. Die Kinderbetreuung in Italien heißt Oma und Opa, und wer keine oder keine in der Nähe hat, sollte besser keine Kinder haben, oder sehr reich sein, wie die Arbeitgeber unserer Nachbarin. Diese erzählt mir, dass ihr Cholesterin um 100 Punkte höher ist als meines (und das ist deutlich erhöht) und dass sie jetzt keinen Kaffee mehr trinkt und keine Wurst mehr isst, um das Herzklopfen in den Griff zu bekommen. Sie ist 50 und eine auffallend schöne Frau, die viel lacht und jugendliche Bewegungen hat. Als Kind ist sie von unserem Hügel mit einem Korb auf dem Rücken den Hügel hinuntergelaufen, um in der Marina Gemüse zu verkaufen. Sie hat ihren Kusin geheiratet und hat zwei erwachsene Söhne, der jüngere studiert Ingenieurswesen. Der ältere ist verheiratet und lebt mit seiner Familie in Norditalien, wo es eine Art Enklave unseres Ortes gibt. Einmal im Monat schickt sie ihm Flaschen mit Sugo, selbstgebackenes Brot, Würste, Orangen. Sie arbeitet seit 12 Jahren für 700 Euro im Monat als Haushälterin und Babysitterin bei einer Familie. 5 Tage in der Woche, von acht Uhr morgens bis sieben Uhr abends. Im Gegensatz zu Teresa hat sie ihre Schulbildung mit der Volksschule abgeschlossen. Ihr Mann hat die Arbeit aufgegeben oder verloren, aber es ist besser für ihn, sich nicht aufzuregen, denn er hat schon mit Mitte vierzig den ersten Herzinfarkt gehabt. Stress, sagen sie alle. Und dass man immer Gedanken hat, sagt die Nachbarin.

Wenn mich mein kleiner Sohn fragt, was er zeichnen soll, sage ich ihm jetzt immer: Zeichne einen Engel, alle sind krank, alle können das brauchen.

Wir werden das kleine Orzo-Volk, das nur Getreidekaffee trinkt.

Am Samstag waren alle Kinder zum ersten mal seit längerer Zeit auf der Baustelle, da halbwegs erträgliches Wetter war. Zuerst schlichteten sie mit Stefano Holz. Stefano ist ein junger, mit der Mode gehender Mann, dessen Hosen auf den Hüften sitzen, was meine Jungs, die noch von mir angezogen werden und deshalb Hosen haben, die in der Taille zugemacht werden, nachträglich zu Lachkrämpfen anregt. ("Wir haben seinen Hintern gesehen, ahahah!") Dann werden sie von den Nachbarjungs zum Spielen eingeladen, erst Fußball und dann Playstation. Unser wunderbarer geselliger Nachbar meint, man müsse den Kindern halt was bieten, wenn sie schon auf dem Land leben müssten. Als ich die Kinder hole, bekomme ich einen Kaffee. Da ich aus Solidarität zu MM jetzt auch normalerweise Orzo oder Tee trinke, kann ich locker ab und zu einen Kaffee trinken.
Ich erzähle eine kleine Anekdote von MM, die vom Obermaurer überliefert wird: der Mann mit dem kleinen Bagger sagt zu MM: Also Signor Mm, hier könnte ich nie wohnen, da haben sie sich was angetan - wenn sie vergessen haben, das Brot zu kaufen, haben sie keine Chance mehr." MM antwortet lachend, dass er nicht so blöd sei, zu vergessen, Brot einzukaufen. "Es kommt doch sogar morgens ein Lieferwagen mit frischem Brot!" beeilt sich der Nachbar zu rufen, "und meine Frau macht das Brot selbst." Die Nachbarin sagt: "Wenn ihr etwas braucht, wir sind immer da."
Mein kleiner Sohn läuft kreischend einem Dreijährigen auf dem Dreirad nach, dazwischen wird er von den zahlreichen Frauen dieser Großfamilie mit Wurstbroten gefüttert. Die Kinder der PS 3 klopfen einander verständnisvoll auf die Schulter. Im letzten Licht kämpfen wir uns durch den Wind und den Gemüsegarten der Nachbarn, in dem bereits die Saubohnen zum Ernten bereit sind, zurück zu unserer stillen Baustelle. Ich blicke rosigen sozialen Zeiten entgegen.

Freitag, 5. März 2010

La dattilografa crea un casino

Heute habe ich das Vorurteil, Frauen seien schlechte Autofahrerinnen definitiv einzementiert, um im Jargon unserer Baustelle zu bleiben. Heute wollte ich vor Scham sterben.
Schon wieder regnete es aus Kübeln. Daher alle Maurer der Firma rein in unsere gute Hütte, denn die hat ja immerhin ein Dach. Daher - alles vollgeparkt. Ich kann mit meinem Riesenauto nicht wenden und denke, bis ich gehe, wird sich die Situation verändert haben. Aber dem ist nicht so. Alle presslufthämmern und bohren und kuscheln sich sonstwie zusammen. Als ich gehen muss, stehen alle Autos immer noch im Weg, mir bleibt nur noch der Rückwärtsgang. Im Regen, mit allen Scheibenwischern. Schon beim Einsteigen wäre ich fast in den Gatsch gefallen. Natürlich hätte ich auch jemandem sagen können, er soll sein Auto verstellen, aber ich ziehe vor, mich im Rückwärtsgang eine enge Straße hinunterzuquälen und irgendwann unvermeidlich mit einem Rad in der steilen Wiese zu landen. Das Vorderrad dreht durch und ich bin auch knapp davor. Jetzt kommt der rote Fiorino, der Obermaurer mit Sohn Mirko. Ich teile ihnen mit, dass ich mich in einer auswegslosen Situation befinde. Zuerst gute Tipps. Ich im Auto, die zwei Männer schieben, nützt alles nichts, das Vorderrad dreht durch. Dann Mirko im Auto, der kann das auch nicht. Jetzt das Abschleppseil. Erst darf Mirko, dann ich, dann wieder Mirko, dann reißt das Abschleppseil. Zum Glück regnet es jetzt nur noch leicht. Ich bin die einzige, die halbwegs passend gekleidet ist, die Jungs springen in Pullovern im Regen rum. Ich denke an die Sandbleche für die Wüste. Sollen wir ein Gitter unterlegen, frage ich schüchtern. Der Obermaurer gräbt bereits mit einem Ast unter dem Vorderrrad. Nein, da wird der Reifen kaputt. Ich weiß, dass mich hier niemand rausholen kann, denn niemand kommt an meinem Auto vorbei, kein Traktor, kein Bagger, entweder ein Helikopter oder die Maurer. Ich bin ganz still und zuversichtlich und runzle die Augenbrauen. Der Obermaurer holt einen Sack Kalk. Ich entschuldige mich, dass sie ihr Mittagessen warten lassen. Signora, sowas ist bei uns an der Tagesordnung, mit dem LKW bleiben wir täglich wo stecken. Unserem Kollegen ist das letztens auch so passiert, sagt Mirko. Halleluja! Der Obermaurer wirft sich vor das Vorderrad und bestreut es mit Kalk, ich muss husten. Das eingekalkte Vorderrad dreht immer noch durch, jetzt raucht es aber. Irgendwie kommen wir drauf, dass unter dem Auto ein großer Stein liegt, angeblich verhindert der, dass das Auto wieder auf den Weg kommt. Ich glaube zwar, dass man Steine unter das Vorderrad hätte legen sollen, aber der Klotz unter dem Auto ist sicher zu entfernen, der Obermaurer gräbt wie ein Berserker mit einem Ast. Nebenbei erzählt er mir, dass er sich einmal mitsamt seiner Schwiegermutter fast im Auto versenkt hätte. Irgendeine Intuition ließ ihn nach Gras schauen. Ich verstehe kein Wort, ich bin fassungslos, dass er selbst jetzt nicht zu reden aufhört. Ist das Manie, Nervosität? Dann wird er sanft und schaut mich von unten an: Signora, sie werden das Kind zu spät von der Schule abholen. Naja, als ich vor zwei Stunden gesagt habe, MM holt das Kind am Nachmittag ab, hat er gerade nicht zugehört. Ich habe andere Aufgaben! Ich sage auch so sanft ich kann, dass das Kind erst am Nachmittag aus der Schule kommt und er meint, na dann. Na dann werken wir halt hier den ganzen Nachmittag im Nieselregen. Ich frage, ob ich eine Schaufel holen soll. Aber er geht schon "una mazza" holen, was spitzes, mit dem er den Stein unter dem Auto aufspalten will. Mirko sitzt im Auto. Gleich wird er das Autoradio anschalten. Der Obermaurer verschwindet im Nebel. Ich setze mich auch ins Auto. Ich stammle: "Was für ein Alptraum." Mirko sagt: "Aber Signora, wegen sowas. Das ist doch noch kein Alptraum." Auch der Obermaurer hat mir mehrmals versichert, dass überhaupt nichts passiert ist und dass es einfach zuviel regnet. Ich kann überhaupt nicht mehr italienisch sprechen und lalle, Mirko erzählt mir von dem Felsbrocken, der gesprengt wurde, damit er nicht im Erdrutsch auf die Staatsstraße rutscht. Das Video kann man auf youtube sehen und die Sprengung hat 500000 Euro gekostet. Plötzlich sehe ich alle in unserem Haus arbeitenden Männer die Straße runterkommen wie im Bild von De Volpeda "Der vierte Stand", das aus dem Film "1900". Ich springe mit den Worten "Ich will sterben" aus dem Auto. Der Obermaurer zerhackt den Stein (dabei läutet das Handy von einem Maurer, der schreit: sie kommen gleich, sie kommen ja schon - es muss sich um Signora Obermaurer handeln), und zwei Installateure plus fünf Maurer und ich schieben das Auto beim dritten Versuch aus dem Schlamm. Danke, danke allen.
Mirko stellt mir das Auto abfahrbereit und ich fahre, was soll ich tun? Ich habe den Bus versäumt und muss mit dem Auto, das ausschaut wie nach der Cameltrophy in die Stadt zum Arbeiten fahren. Meine Hosen sind bis zum Knie mit Schlamm befleckt. Ich übe mich in der Kunst, so zu tun, als wär nichts. Überraschenderweise kommt nach der Zerknirschtheit absolute Heiterkeit auf. Es macht Spaß, Autos anzuschieben. Es macht Spaß, im Schlamm rumzuspringen und sich keine Sorgen um die Kleidung zu machen. Schade, dass meine Kinder das nicht gesehen haben. Während der Autofahrt überlege ich, was ich MM sage, und ob er es erfährt, wenn ich nichts sage. Da ruft er an und ich erzähle alles. Besser so. MM ist am Nachmittag auf der Baustelle. Der Obermaurer erfindet dichten Nebel, der mich von der Straße abkommen ließ. Selbst MM sagt, es sei wirklich schwierig, diese Straße im Rückwärtsgang hinabzufahren. Mehr Rehabilitierung gibt es nicht.
Morgen ist ein anderer Tag. Mein Sohn wollte mich als Beifahrerin für seine zukünftigen Rallyes. Ist das jetzt hinfällig?

Donnerstag, 4. März 2010

Im Spargelparadies

Manchmal gibt es schwierige Tage. Heute ist einer. Ich habe so viel Arbeit, dass ich mich im rosa Zimmer verschanze und mir selbst verbiete, rauszurennen und dem nächsten entgegenzuschreien: Meine Arbeit ist schrecklich, Hilfe! Die Maurerjungs sagen mir ja auch nicht, dass ihre Arbeit schrecklich ist, und das ist sie manchmal ganz bestimmt. Gestern hat ein unglaublicher Wind zu wehen begonnen, den ich genieße, der mir durch alle Kleidungsstücke bis auf die Haut fährt, der die Haare zu Berge stehen lässt und die Palme erschreckend verbiegt. Es ist der Tag, an dem alle Kinder bis am späten Nachmittag in der Schule sind und MM ist wie ich auf der Baustelle. Am frühen Nachmittag muss ich so dringend pinkeln, dass MM sich anbietet, mit mir Richtung "Difesa" zu fahren, dorthin, wo es unbewohnt ist. Er sucht geduldig und akribisch den weltbesten Pinkelplatz, er versteht nicht, dass ich überall aus dem Auto springen kann, Hauptsache es ist weit genug von den Maurern entfernt. Hier oben ist ohnehin alles wunderbar, der Ginster wird vom Wind hin und her gezerrt, wir finden einen Hügel, auf dem alle fünfzig Zentimeter eine Anhäufung aus stacheligen Zweigen anzeigt, dass hier Wildspargel wächst oder wachsen wird. MM behauptet, es sei noch zu früh, aber ich finde immerhin soviel, dass es am Abend für zwei Portionen Tagliatelle mit Wildspargel und getrockneten Steinpilzen reicht. MM hebt ein paar Wildzwiebel aus, die uns mit ihrem intensiven Geruch das Auto verpesten.
Das habe ich im Leben mit den Kindern gelernt, Ferien gibt es nur noch als Momente, als dem Tag geraubte halbe Stunde. Von oben sehen wir unser Haus, die plötzlich weiße Terrasse auf dem Dach, einen Mann, der im Wind auf dem Bauch auf einem Vordach liegt, weil er unterhalb eine Regenrinne anbringt.