Sonntag, 21. März 2010

Wann ziehen wir um?

Der Jasmin blüht. Dort wo wir noch wohnen. Sein Duft betört. Es ist Frühling, was bei uns immer gleich in Sommer ausartet. Heute ist der erste Tag, an dem wir nicht einheizen. Wir waren am Meer. Die Kinder dürfen sich die Schuhe ausziehen und erst nach fünf Minuten komme ich drauf, dass sie sich natürlich auch die Socken ausziehen dürfen. Ich liege auf dem Kieselstrand. Die Kinder wühlen wie freigelassene Hunde Löcher in den Strand und schlagen Räder und machen Purzelbäume. Ich denke, dass wir hier wieder bald ohnmächtig vor Hitze unter dem Sonnenschirm liegen werden und ich bemerke gar nicht, dass dieser Gedanke in vielfacher Hinsicht falsch ist.
Wir werden DORT am Strand sein, dort wo MM und ich, als wir so was ähnliches wie jung waren in der Nacht gebadet haben und wo uns unser Weg wieder hingeführt hat. In unserem Garten blühen die Birnbäume, die Kirschbäume und die Zitrusfruchtbäume, auf denen noch Mandarinen und Orangen hängen, haben schon wohlriechende Blütenknospen.
Aber der Jasmin ist da. Das Haus wird weinen, wenn wir nicht mehr hier sind, sagt der Rallyefahrer, der selbst die seelenlosesten Dinge mit einem Ich versieht und mich wochenlang mit der Vorstellung gequält hat, mein Auto, das ich verschrotten lassen habe, würde zu mir zurückkommen. Zum Glück hat das Chaos hier unerträgliche Ausmaße angenommen und so werde hoffentlich ich nicht weinen, wenn wir ausziehen. Heute habe ich die erste Schachtel für den Umzug gepackt, eine verhältnismäßig kleine Schachtel mit Büchern, die ich alle gleich lesen wollte, vor allem Virginia Woolfs "Fahrt zum Leuchtturm". Auf dem Buchdeckel war von großer großer großer Traurigkeit zu lesen und ich habe mich gefragt, wieso mir das bis jetzt unbekannt war.

Zu den periodisch gestellten Fragen: Wann sind die Osterferien, wann ist mein Geburtstag, wann können wir endlich die Badehosen anziehen, gesellt sich nun die Frage: wann ziehen wir um? Eine fiebrige Aufregung beherrscht meine Kinder, die bei jeder mitgehörten Konversation aufgeschreckt werden: "Morgen? Was Morgen? Morgen ziehen wir um? Jungs, morgen ziehen wir um!"
Da der Rallyefahrer die drei Verlobten, die beiden Freunde aus Rom und andere drei Geschwister plus einige Verwandte zu seinem Geburtstag im Mai einladen möchte und (Hallelujah!) niemanden aus seiner Klasse, versuchen wir ihm einzureden, dass es besser ist, seinen Geburtstag im Juni zu feiern. Das wäre für mich besser, denn dann ist meine Arbeit fertig. Bei der Erinnerung, wie ich letztes Jahr an drei freien Tagen 3200 km zurückgelegt habe, um an einem dieser drei Tage den Geburtstag meines Sohns zu feiern, fallen mir vor Müdigkeit gleich die Augen zu.

Ich werde den Jasmin vermissen. MM sagt, er werde dieses Haus ganz sicher nicht vermissen. Ich schaue ihn an. Immerhin haben wir hier 14 Jahre lang gelebt. Er sagt, ich wisse doch, dass er sich nie verliebe. Ich schaue ihn wieder an. Ich glaube, ich habe den "Wie bitte?"-Blick. Er sagt: "Außer in meine Frau natürlich."
Vielleicht ist wahr, dass er sich nicht in Häuser oder Leute verliebt, so wie ich das tue. Aber er verliebt sich ganz bestimmt ins Leben, in Situationen. Gestern war er ganz aufgekratzt, als er nach einem Tag Arbeit mit Stefano im Obstgarten und um den "pozzo nero", die wunderbare Senkgrube, heimkehrte. Er hatte den 95-jährigen Nachbarn von unten gesprochen, Nachbarin Teresa und Nachbarin Maria hatten jeweils Brot gebacken und ihn eingedeckt, irgendwelche weisen Onkeln mit Schnurrbärten waren auch aufgetaucht. Vor allem der alte Nachbar hatte ihn illuminiert, da er so ganz und gar nicht alt in seinem Geiste sei. Und weil ihm dieses Paar so gefalle, der alte dünne Mann mit seiner mehr als zwanzig Jahre jüngeren dicken Frau, die friedlich ihren großen Weingarten bearbeiten.

Der alte Nachbar fährt einen alten schwarzen Fiat Panda. Alle fahren sie hier Pandas, alle, aber er ist der einzige mit einem schwarzen. Beim Autofahren hängt eine Zigarette aus seinem Mundwinkel. Eines Tages habe ich ihn bei der Einfahrt auf die Staatsstraße gesehen, sein Auto bewegte sich nicht, ich sah seinen Kopf über das Lenkrad gebeugt. "Er ist tot", dachte ich und fuhr neben sein Auto um hineinzusehen. Aber er versuchte nur zu starten. "Wo fahren sie hin?" schob er zwischen Zigarette und Lippen raus. Ich fuhr in die andere Richtung. "Mein Auto startet nicht mehr. Managgia. " sagte er. Ich sagte auch "Managgia", was sowas wie "Donnerwetter" oder "verdammt" oder "es darf nicht wahr sein" heißt. Ich denke an Starterkabel und in diesem Moment rollt er los. Er weiß selbst nicht, wie es geschieht, er tuckert auf die Staatsstraße, auf der von links zum Glück kein Auto kommt, von rechts aber drei. Und er überquert die Staatsstraße nach links. Die Autos hupen. Eines bleibt stehen, eines fährt vorbei, das dritte gerät ins Schleudern, das ist ein Installateur mit einem kleinen Lieferwagen. Der schwarze Panda kommt in der Mitte der Staatsstraße wieder zum Stehen und gleitet dann in Zeitlupentempo weiter. Ich denke, das ist die letzte Stunde des Nachbarn und schaue entgeistert zu, wie er seinem sicheren Tod entgegenfährt, aber obwohl auch die mittlerweile von links kommenden Autos hupen und die von rechts alle bremsen und hupen, hat er es geschafft, auf den Fahrbahnrand zu kommen, er hebelt energisch herum, die Zigarette im Mundwinkel, den Kopf nach vorn gereckt und auf die Fahrbahn schauend. Ich bin davon überzeugt, dass ich soeben Zeugin eines echten Wunders geworden bin und schaue, ob ich irgendwo noch die Madonna sehe. Ich denke, dass ich seiner Frau sagen möchte, sie soll ihn nicht mehr autofahren lassen. Dann fahre ich in die andere Richtung.
Weil die Italiener alle keine Verkehrsregeln ernst nehmen, überleben sie gar nicht schlecht im Straßenverkehr. Unsereiner, der zwanghaft zwischen zwei weißen Strichen fahren will, hat da weniger Chance. Ein Italiener ist immer auf alles gefasst.

In Autoradio habe ich ein neues Liebelingslied gefunden: Questa è la mia vita, non è una canzone, la la la la la, la la la la la. Das ist mein Leben, es ist kein Lied. Und weil es sich reimt: Questa è la mia vita, non è una prigione. Das ist mein Leben, es ist kein Gefängnis. La la la la la, la la la la la.

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