Freitag, 19. März 2010

Becky Thatcher is on facebook

"Gibt es heute abend wieder Becky Thatcher?" fragt das Kind im Auto auf der Fahrt zur Schule, nachdem es, aus irgendeinem Grund beleidigt, 20 Minuten nicht mit mir gesprochen hat. Becky Thatcher? Meine Kinder haben die Geschichte von Tom Sawyer auf einen Handlungsstrang reduziert und zu meinem Leidwesen nicht verstanden, wer der eigentliche Held des Buches ist: Huck Finn. Während sie bei den Abenteuern der Ausreißer beginnen, Dragonball-Comics zu lesen und mit ihren Puppen zu flüstern, werden sie, sobald Becky Thatcher die Bühne betritt, andächtig still und lauschen der zarten Liebesgeschichte ergeben. Plötzlich muss ich daran denken, dass als ich siebzehn war, mein damaliger Freund mir vorwarf, ich hätte von Stanislaw Lems Roman "Solaris" nur die Liebesgeschichte interessant gefunden. Ich weiß noch genau, wo in der Tram dieser schmerzhafte Angriff stattfand und ich kann nicht anders, als die rauen und aufgesprungenen Lippen des Freundes vor mir zu sehen, die ich immerzu küssen wollte. Nachdem ich diesen ehemaligen Freund fast dreißig Jahre nicht gesehen habe, hat er mich nun auf facebook um meine Freundschaft gebeten und ich war nicht ich selbst genug, dieses Freundschaftsangebot zu ignorieren. Nun begegne ich auf einem der zahlreichen Nebenschauplätze in meinem gefühlsreichen inneren Leben immer wieder diesen Lippen und auf facebook seinen geistreichen und politisch wertvollen Beiträgen für seine 776 Freunde.

Abgesehen davon haben wir alle viel Arbeit und sind sehr müde. Morgen ist aus einem seltsamen Grund am Namenstag von Giuseppe der Vatertag und meine Kinder haben schulfrei. Sie bringen rührende Gedichte zum Thema Vater aus der Schule und der Gerechtigkeit wegen ist MM auch frei und wird die Kinder auf der Baustelle betreuen, während ich arbeite. Wie machen das die anderen Mütter zum Thema Vatertag? Als Hausübung steht die Beschreibung des Vaters auf dem Programm: Mein Vater hat einen Bart der weiß und schwarz ist. Seine Nase ist normal. Er kleidet sich sportlich und trägt nie eine Krawatte. Mein Vater ist sehr nett und liebevoll. Er sagt zu meiner Mutter, die nicht mehr zu reden aufhört: "Schluss jetzt, schick sie ins Castigo." (Dorthin, wo nachgedacht wird über die üblen Dinge, die Kinder so im Lauf ihres Lebens begehen.) Wenn mein Vater ein Tier wäre, wollte er ein Wanderfalke sein. Er schaut gerne Filme und arbeitet an unserem neuen Haus.

Da fällt mir ein, weswegen das Kind, Fan von Becky Thatcher, beleidigt war: jemand hatte ihm einen Euro geschenkt und die Moralistin in mir hatte sich zu einer Wahlkampfrede zum Thema: "Kein Geld von Fremden annehmen, niemals!" aufgeschwungen. Eine von denen, die - wie ich jetzt weiß - zu: Meine Mutter, die nicht zu reden aufhört, zählt.

In unserem neuen Haus sind Mirko und Adriano stationiert, das Wetter ist strahlend und alle anderen frönen anderen Outdoor-Tätigkeiten. Der Obermaurer gräbt mit "La motozappa" seinen Garten um, wechselt die Fenster bei einem Freund aus und vergisst immer wieder, einen Zahnarzttermin für seine Frau auszumachen. Das fällt ihm ein, wenn er mich sieht. Unsere spannenden Gespräche haben sich auf dieses Thema reduziert. Schade, aber gleichzeitig gewöhne ich mich an den Gedanken, dass wir eines Tages wieder alleine auf unserem Grund sein werden. Nur Stefano, der wie ein Zenbuddhist meditativ die kleinen Zweige von den Olivenästen abschneidet, soll nicht weggehen. Er macht uns kleine Bündel, auch aus abgelagertem Holz, das wir dankbar in unserem alten Haus verbrennen, denn dass tagsüber die Sonne runterbrennt, heißt nicht, dass wir abends nicht einheizen müssen. Stefanos Mutter Teresa bringt mir Brokkoli, Jungzwiebeln und Fenchel und nennt mich "mein Schatz". Mein Schatz soll die Brokkoli kochen und einfach mit Öl und Zitrone als Salat servieren. Ich bin stolz auf die Kinder, die weltmännisch gelassen und mit heiterem Ausdruck alle Damen küssen, wie echte Kalabresen.

Aufgrund des schönen Wetters gönnt sich La dattilografa einen Ausflug auf den Wochenmarkt in einem nahegelegenen Ort. Der Markt liegt direkt am Meer und La dattilografa geht ihrer geheimen Leidenschaft nach. Andere mögen spielsüchtig sein, schon morgens trinken, teure Kleider kaufen, Liebhaber in Hotelbetten verschlingen oder einfach dem Fernsehen verfallen sein - La dattilografa hingegen kauft Markenjeans für 5 Euro. Sie kann nicht anders. Sie ist auf der Suche nach "Autolet americano - kein chinesisches Zeugs". Sobald sich eine Levis auftut, wird überlegt, ob sie irgendeinem Familienmitglied passen könnte. Die Outlets auf dem Markt sind original neapolitanischer Herkunft und die Jeans stammen höchstwahrscheinlich aus der Altkleidersammlung aus Düsseldorf oder einer anderen deutschen Stadt. Da unser kommerzielles Leben hier aber tatsächlich von chinesischem Zeug bestimmt ist, bekomme ich eine Art Rausch bei der Ansicht von Wrangler-Jeans auf dem Wühltisch.
Meine zweite Droge sind Artischocken, die ich zwanghaft bündelweise kaufen muss. MM, der sie dann verarbeitet , fleht mich an, meine Einkäufe mit seiner Verfügbarkeit abzustimmen, aber er hat keine Chance, ich kann an Artischocken zwar vorbei gehen, aber eine magnetische Anziehungskraft führt mich schließlich doch zu ihnen zurück.

Alle schlafen sie jetzt. MM weiß nicht, dass neben der Tiefkühltruhe in einem Gang neben dem Haus bereits 20 Artischocken für 6 Euro (weil sie so groß sind) auf ihn warten, neben dem kleinen Sohn liegt Riesenteddybär Baby, der Rallyefahrer nimmt im Schlaf wieder eine normale Farbe an, nachdem er hochrot im Gesicht von einem Videospiel ins Leben zurückkehren musste und selbst der (vor?) - pubertäre Alles- und Besserwisser ist im Schlaf ein pausbäckiges Kind. Und all die anderen? Becky, Tom? Huckleberry Finn? Mein ehemaliger Freund schreibt sicher um diese Zeit noch Pamphlete. Und der gehende Mann, den ich immer wieder sehe? MM wacht auf und spricht zu mir: "Und du? Musst du nicht ins Bett?" Augenblicklich schläft er weiter. Himmel, wo sind die durchwachten Nächte, die Verzehrung? Heute wachen wir nur noch neben fiebernden Kindern, aber das ist nicht die Verzehrung, die ich meine.

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