Mittwoch, 10. März 2010

herzklopfen

La dattilografa und MM sind nicht mehr allein. Abgesehen von den Kindern. MM hat der Dattilografa etwas enthüllt. Und zwar zum Glück etwas gutes. La dattilografa rauft sich angesichts der politischen Verhältnisse in Italien das Haar und fragt MM, ob es möglich sein kann, dass niemand außer den beiden von Berlusconi und Company (und der beschissenen Opposition, die sie machen lassen, was sie wollen) an den Rand des Wahnsinns getrieben wird. MM sagt, es gäbe jetzt il popolo viola, das violette Volk, das sich von den offiziellen Parteien schon allein durch die Farbe unterscheidet und vor allem im Internet agiert. Das habe ich doch letztens als einzigen Beitrag einer lange dauernden erhitzen politischen Debatte gesagt: die alte Politik ist vorbei, jetzt müssen wir Verantwortung übernehmen. Am Samstag demonstriert il popolo viola an vier Orten gleichzeitig, einer davon ist Reggio Calabria, wo der No Mafia Day stattfindet. Ich kann nicht hin, MM hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht, denn da er unter der Woche mit den Maurern scherzt, will er jetzt am Samstag arbeiten, statt seine Kinder zu unterhalten. Mist! Da aber auf unserem ungeschriebenen Banner steht: erst die Schule, erst die Schule, erst die Schule, kann ich die Kinder nicht mitnehmen.
Ich besuche die facebook-Seite des No Mafia Day und bekomme einen Heiterkeitsausbruch: Eine Dame mit einem anglosächsischen Namen fragt, ob sie bitte aufgenommen werden kann, sie sei 800 Level. Eine Dame mit italienischem Namen antwortet auf englisch, dass es sich leider nicht um Mafia Wars handle, sondern um eine Demostration gegen die Mafia.

Während sich in meinem Mund (hintenzum Glück) ein Zahn gespalten hat und ich nun die Zahnklinik besuchen werde, in der auch Frau Obermaurer ihre Zähne reparieren läßt (ich weiß jetzt wieder mal alles, bis zu den Wurzeln, und frage mich, ob nie jemand die Idee gehabt hat, ein Buch mit dem Titel "Was sie nie wissen wollten und trotzdem erfahren haben" zu schreiben), leidet meine Umwelt an erhöhtem Herzschlag. Leider nicht, weil sie alle verliebt sind. MM trinkt seit Wochen keinen Kaffee mehr und seit kurzem auch keinen Wein zum Essen. Unsere Freundin Teresa gesteht ihm, dass sie dasselbe Problem hat, aber sie schafft es morgens ohne Kaffee nicht. Teresa hat drei Kinder im Alter von 5 bis 12, einen Mann der auch samstags arbeitet, ihre Arbeitssituation ist schwierig und da sie ambitioniert ist, hat sie mit vierzig zu studieren begonnen. Die Kinderbetreuung in Italien heißt Oma und Opa, und wer keine oder keine in der Nähe hat, sollte besser keine Kinder haben, oder sehr reich sein, wie die Arbeitgeber unserer Nachbarin. Diese erzählt mir, dass ihr Cholesterin um 100 Punkte höher ist als meines (und das ist deutlich erhöht) und dass sie jetzt keinen Kaffee mehr trinkt und keine Wurst mehr isst, um das Herzklopfen in den Griff zu bekommen. Sie ist 50 und eine auffallend schöne Frau, die viel lacht und jugendliche Bewegungen hat. Als Kind ist sie von unserem Hügel mit einem Korb auf dem Rücken den Hügel hinuntergelaufen, um in der Marina Gemüse zu verkaufen. Sie hat ihren Kusin geheiratet und hat zwei erwachsene Söhne, der jüngere studiert Ingenieurswesen. Der ältere ist verheiratet und lebt mit seiner Familie in Norditalien, wo es eine Art Enklave unseres Ortes gibt. Einmal im Monat schickt sie ihm Flaschen mit Sugo, selbstgebackenes Brot, Würste, Orangen. Sie arbeitet seit 12 Jahren für 700 Euro im Monat als Haushälterin und Babysitterin bei einer Familie. 5 Tage in der Woche, von acht Uhr morgens bis sieben Uhr abends. Im Gegensatz zu Teresa hat sie ihre Schulbildung mit der Volksschule abgeschlossen. Ihr Mann hat die Arbeit aufgegeben oder verloren, aber es ist besser für ihn, sich nicht aufzuregen, denn er hat schon mit Mitte vierzig den ersten Herzinfarkt gehabt. Stress, sagen sie alle. Und dass man immer Gedanken hat, sagt die Nachbarin.

Wenn mich mein kleiner Sohn fragt, was er zeichnen soll, sage ich ihm jetzt immer: Zeichne einen Engel, alle sind krank, alle können das brauchen.

Wir werden das kleine Orzo-Volk, das nur Getreidekaffee trinkt.

Am Samstag waren alle Kinder zum ersten mal seit längerer Zeit auf der Baustelle, da halbwegs erträgliches Wetter war. Zuerst schlichteten sie mit Stefano Holz. Stefano ist ein junger, mit der Mode gehender Mann, dessen Hosen auf den Hüften sitzen, was meine Jungs, die noch von mir angezogen werden und deshalb Hosen haben, die in der Taille zugemacht werden, nachträglich zu Lachkrämpfen anregt. ("Wir haben seinen Hintern gesehen, ahahah!") Dann werden sie von den Nachbarjungs zum Spielen eingeladen, erst Fußball und dann Playstation. Unser wunderbarer geselliger Nachbar meint, man müsse den Kindern halt was bieten, wenn sie schon auf dem Land leben müssten. Als ich die Kinder hole, bekomme ich einen Kaffee. Da ich aus Solidarität zu MM jetzt auch normalerweise Orzo oder Tee trinke, kann ich locker ab und zu einen Kaffee trinken.
Ich erzähle eine kleine Anekdote von MM, die vom Obermaurer überliefert wird: der Mann mit dem kleinen Bagger sagt zu MM: Also Signor Mm, hier könnte ich nie wohnen, da haben sie sich was angetan - wenn sie vergessen haben, das Brot zu kaufen, haben sie keine Chance mehr." MM antwortet lachend, dass er nicht so blöd sei, zu vergessen, Brot einzukaufen. "Es kommt doch sogar morgens ein Lieferwagen mit frischem Brot!" beeilt sich der Nachbar zu rufen, "und meine Frau macht das Brot selbst." Die Nachbarin sagt: "Wenn ihr etwas braucht, wir sind immer da."
Mein kleiner Sohn läuft kreischend einem Dreijährigen auf dem Dreirad nach, dazwischen wird er von den zahlreichen Frauen dieser Großfamilie mit Wurstbroten gefüttert. Die Kinder der PS 3 klopfen einander verständnisvoll auf die Schulter. Im letzten Licht kämpfen wir uns durch den Wind und den Gemüsegarten der Nachbarn, in dem bereits die Saubohnen zum Ernten bereit sind, zurück zu unserer stillen Baustelle. Ich blicke rosigen sozialen Zeiten entgegen.

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