Freitag, 28. Januar 2011

Ich träume vom gehenden Mann

Gestern morgen träumte ich, der gehende Mann hätte mich umarmt. Zuvor sehe ich ihn an einem Urlaubsort. Es gibt verschiedene Apartments, ich räume meines aus, eh klar, das habe ich von meinem realen Leben in den Traum gebracht. Ich gehe mit Müllsäcken aus und ein und sehe den gehenden Mann, der erst mit einer Frau dort wohnt, dann mit einer anderen, beide haben Kinder. Na Bravo, denke ich, auch so ein Maniac. Schnitt. Es ist dunkel. Ich setze mich auf ein Sofa. Dort ist etwas weiches. Ich erschrecke, ich sitze auf dem gehenden Mann. Er hält mich fest. Ein Lichtstrahl fällt auf sein Gesicht. Er nennt meinen Namen. Er sagt meinen Namen und sagt: "Das war doch klar." Ich bin eigentlich verärgert über diesen Übergriff, aber gleichzeitig mag ich seine Entschiedenheit.
Seine Zähne sind braun. Ich sehe sie interessiert an. Da läutet der Wecker.

Als ich mir die Haare föhne, denke ich, wahrscheinlich hat MM meinen Namen gesagt, und dass es doch klar war. (Dass der Wecker läuten wird, dass wir auch heute wieder aufstehen müssen, dass ich nicht aufstehen kann... irgendwas dergleichen). Und da fällt mir das Erstaunliche auf: MM kann es nicht gewesen sein, der gehende Mann hat im Traum DEUTSCH gesprochen. Ich träume schon lange nicht mehr auf deutsch.

Das Irritierende bei Träumen von Menschen, die einem eigentlich nicht nahe stehen, ist, dass sie einem dann plötzlich nahe stehen, das aber nichts mit der Realität zu tun hat. Ich habe schon als 12-jährige gemeint, mit einem coolen Typ aus der Wohnsiedlung zusammen zu sein, weil ich das geträumt hatte, und war sehr verwundert, dass der Typ mich gar nicht wahrnahm. Warum hat sich der gehende Mann aus meinem Unterbewusstsein gelöst und hervor getan? Kurz denke ich, das ist ein Ruf und ich müsste ihn nun doch ansprechen, bevor er eines Tages verschwindet. Ich glaube, er wird sich wirklich in Luft auflösen, er wird immer dünner.

Eines Tages habe ich ihn mit meiner Freundin gesehen, er saß vor einer Bar und trank Capuccino. Meine Freundin sah ihn auch, das war der Beweis, dass er wirklich existiert und nicht nur eine Projektion des Strotters in mir ist. Meine Freundin wollte ihn ansprechen, aber ich habe sie davon abgehalten. Warum sich das Recht nehmen, jemand anzusprechen, nur weil er mit einem Rucksack auf der Straße geht und nicht in einem Auto fährt. Meine Freundin verstandm dass ich den Zauber nicht zerstören wollte, den zarten Vorhang Mythos, der den Mann umweht, wenn ihn nicht Regen und Wind umwehen. Jetzt tut es mir leid, dass ich sie nicht mit ihm sprechen ließ. Oder nicht? Oder doch?

Es tun, es nicht tun, es lassen, es anpacken. Fantasieren oder handeln. Es wollen oder lieber träumen.

Manchmal lese ich ein blog mit dem Namen "The Happiness Project", ein Titel, der mich in Entzücken versetzt. Heute zitiert die Autorin des blogs die Lebensregeln, die Tolstoj für sich selbst aufgestellt (und immer wieder gebrochen) hat. Eine davon spricht mich besonders an: Kill desire by work.

Mittwoch, 26. Januar 2011

Roberto Saviano trinkt einen Schluck Wasser

Roberto Saviano bekam eine Laurea honoris causa (eine Ehrendoktorwürde) in Rechtswissenschaften an der Universität von Genua verliehen. Er widmete diesen Titel den Mailänder Staatsanwälten Ilda Bocassini, Pietro Forno und Antonino Sangermano.Er sagt, diese würden schwierige Tage erleben, nur weil sie ihr Handwerk ausübten. Die drei Richter betreuen die Ermittlungen im sogenannten "Fall Ruby", demzufolge der italienische Premierminister des Amtsmissbrauchs und der Beihilfe zur Prostitution Minderjähriger verdächtigt wird. Marina Berlusconi, die Inhaberin des Verlags Mondadori, bei dem Saviano seine Bücher veröffentlicht, und Tochter des Premierministers kommentierte diese Widmung mit den Worten, es würde ihr Schrecken einjagen, dass ein Mensch wie Saviano, der immer erklärt hätte, für die Freiheit und die Würde des Menschen zu kämpfen, diese Werte nun mit Füßen trete.
Ich denke, Saviano ist einer der wenigen Menschen in diesem Land, die wirklich frei sind. (im Geiste, versteht sich, schließlich muss er immer mit Bewachern unterwegs sein.)
Und jetzt wird er bei einem anderen Verlag veröffentlichen.
Ich sehe mir seine Widmung auf YouTube an. Am besten gefällt mir, dass er nach seiner Rede einen großen Schluck Wasser nimmt.

Donnerstag, 20. Januar 2011

Minimalismus und Frau Adler

Mein Alltag ist voller Staub, der auf den Büchern liegt, die ich hierher transportiere und voller guter Vorsätze: einmal im Monat werde ich in Zukunft jedes Buch aus dem Regal nehmen und es absaugen. Ich finde Hefte, auf denen "Cahier des reves" steht was mich inspiriert zu haben scheint, irgendwann vor sieben Jahren zu schreiben: "Träume, dass ich mit Schauspieler Jens im Bett liege. Es ist schön, aber auch schrecklich, denn Jens hat viele Pickel und ist häßlich. Da kommt meine Mutter." Ich mache schnell das Heft zu. Wer ist Schauspieler Jens? Warum kommt meine Mutter? Will ich das wirklich wissen, nach so vielen Jahren? Was habe ich mir damals davon versprochen, meine Träume aufzuschreiben? Ich finde Notizen: "Das Leben von Francesca aus dem Tabakladen". Wie bitte? Kein Datum. Ich denke nach. Nach einem halben Tag fällt mir ein, was ich gemeint haben könnte, aber keine Details. Es geht um Reimmigration oder Reemigration, es interessiert mich auch gar nicht mehr.

Ich versuche, meine Schwächeanfälle mit gutem Tipps aus dem Web zu bekämpfen und lese ausgiebig zum Thema Minimalismus. Dann gehe ich eine Runde durchs Haus und schmeiße Gegenstände weg. Da ich recht zaghaft bin, liegen noch etwa 230 Arbeitsjahre vor mir, bevor ich mich eines minimalistischen Haushalts erfreuen kann. Wie bekannt ist, dient ein aufgeräumter Schreibtisch der Klarheit des Verstandes. Kein Wunder, dass mein Verstand nicht sonderlich frisch wirkt, liegen doch Arbeitshandschuhe, eine einzelne Socke und ein kleines Spielzeugpferd mit einem abgebrochenen Bein neben meinem Computer. Statt darüber nachzudenken, ob ich das Pferd mit dem verstümmelten Bein wegwerfen darf, obwohl es mir nicht gehört, übe ich mich in der Kunst des positiven Denkens und freue mich, dass mein Paar Arbeitshandschuhe komplett ist und nicht auf Partnersuche, wie die Socke.

Gestern morgen traf ich Frau Adler auf dem Weg zum Schulbus. Sie wohnt in einem kleinen alten Haus oberhalb unseres Hauses und ich habe mich immer schon gefragt, wie der Ausblick von da oben sein muss. Sie lädt mich ein, einen Kaffee zu trinken und da es acht Uhr morgens ist, habe ich darauf wirklich Lust. Das Haus steht direkt neben einem etwas überdimensionierten, vor relativ kurzer Zeit erbautem Haus, an dem man unbedingt vorbeigehen muss, um in Frau Adlers Haus zu gelangen, ein Nachteil. Frau Adler bezeichnet das Haus als "Casa della Mamma", denn dort hat ihre Mutter gewohnt, die sie viele Jahre lang gepflegt hat. Frau Adler ist mehr als siebzig Jahre alt und ausgesprochen gut zu Fuß. Ich habe schon immer ihre Bekleidung interessant gefunden, denn ihre Strumpfhosen sind mehrfach kunstvoll geflickt und im Sommer trägt sie ein Kleid, dessen Farben so verblasst sind, dass es wirklich alt sein muss, denn heute hält kein Stoff mehr so lange. Im Winter trägt sie eine Wolljacke. Ihr Haar ist kurz geschnitten, stark ergraut und kunstlos frisiert. Das ist bemerkenswert, weil hier auch ältere Damen eine Vorliebe für das Haarefärben haben und sich dadurch eine Menge an rabenschwarzen, akkurat in Locken gelegten Frisuren ergibt. Ich folge Frau Adler über eine Treppe, die mit dem wunderbaren Stein der hiesigen Berge gebaut wurde, zu ihrem Häuschen. Die kleine Küche ist extra zu betreten, gegenüber sehe ich ein Klo mit einer neuen Klomuschel und ordentlich aufgehängtem Klopapier. Steht die Tür offen, oder gibt es keine? Frau Adler bittet mich in ihr Wohnzimmer, ein niedriger Raum, die Decke mit freiliegenden, weiß gestrichenen Holzbalken. Der Boden ist aus etwas, was ich als Flüssigbeton interpretiere, es ist nicht staubig wie unser Zement, aber doch roh. Sie sagt: "Sehen Sie nur die Unordnung." Ich gebe ein Geräusch von mir, denn ich weiß nie, wie ich auf solche Ansagen reagieren soll. Soll ich sagen: "Bei uns schaut's ärger aus!" Oder: "Wieso, was meinen Sie?" Stühle mit Strohgeflecht stehen übereinander gestapelt, Schachteln stehen auf dem Boden. Frau Adler geht in die Küche, um Kaffee zu kochen und ich sehe mich um: neben der einfachen alten Holztür steht ein Tisch, darauf Wasser in Plastikflaschen und ein kleines, altmodisches Fernsehgerät. Daneben ein Kühlschrank, eine Gefriertruhe und dort geht es schom mit einem Bett ums Eck. Auf dem Bett liegen Bekleidungsstücke ausgebreitet. Ich erkenne eine Winterjacke und Strumpfhosen, eine rote Weste. Aber es ist nicht wenig, es sieht nicht wie vor meinem Bett aus, wenn ich schlafe. Das sind alle Kleider von Frau Adler, denke ich und habe ein mächtiges Flashback: ein Haus in der Toskana, ein Mann der nur das Notwendigste an Kleidern besitzt, sie liegen alle neben seinem Bett. Der Holzboden ist weiß gestrichen, der Mann trägt einen groben Wollpullover, er schreibt. Er raucht. Es ist lange her, ich weiß nicht einmal mehr, ob der Mann wirklich existiert, ob ich ihn erfunden habe, oder ob ich das selbst gerne wäre.
Da kommt Frau Adler und sagt, sie will nur kurz ihre Tochter anrufen. Neben dem Bett steht auf einem kleinen Nachttisch vor einer hellen Holztür das Telefon. Im Haus von Frau Adler ist alles homogen. Das Telefon muss hier seit den 1960er Jahren stehen, es hat noch eine Wählscheibe und ist in dem dezent braunen Ton gehalten, der stellvertretend für die italienische Telefongesellschaft war, als sie noch SIP (Società Italiana per l'Esercizio Telefonico) hieß. Sie wählt eine Nummer und legt wieder auf. Dann ruft ihre in Rom lebende Tochter zurück. Das machen sie jeden Morgen so, denn Frau Adler schläft nicht auf dem mit den Kleidern belegten Bett, sondern bei einer Freundin. Ich sitze auf einem Stuhl inmitten unter den anderen Stühlen, hinter mir steht ein Tisch oder eine als Tisch fungierende Kiste mit einem Plastiktischtuch, daneben eine Truhe, ein Baule, wie es hier heißt, den es in jedem Haushalt gibt. Ich glaube, man verwahrt darin die Bettwäsche. Eine Holztreppe führt auf den Dachboden, dann ist mein Rundblick wieder bei der Tür angelangt. Auf dem Boden stehen zwei sehr alte elektrische Heizgeräte.
Frau Adler bringt den Kaffee. Für sich selbst hat sie Milch in einem kleinen Topf gewärmt und gibt ein wenig Kakao dazu, anschließend Stücke von trockenem Brot und Keksen. Sie löffelt aus dem Topf, sie entschuldigt sich, dass sie keine Lust habe, für sich allein eine Tasse zu nehmen, die sie dann abwaschen müsse. Ich verstehe sie, sage ich, wobei das nur für sie gilt. Sie ist so verbunden mit sich und ihrer Welt, dass sie auch keine Zeichen der Verwahrlosung aufweist, wenn sie aus dem Topf isst.
"Ich habe ihr Haus anders in Erinnerung", sage ich. Ich erinnere mich an eine Art klösterliche Zelle, in der, wie ich mir vorstellte, sich Frau Adler abends auf das Bett legte und in derselben Stellung morgens erholt wieder aufwachte, um ihr tätiges Leben auf ihren beiden Beinen wieder aufzunehmen. "Mein Bruder..." sagt sie und macht eine Bewegung mit der Hand vor ihrem Kopf. Ich interpretiere, dass ihr Bruder nicht ganz richtig tickt. Sie erzählt, dass ihr Bruder seinen Anteil des Hauses, nämlich ein Zimmer, das sich hinter der hellen Holztür verbirgt, verkaufen wolle, und da die weitere Schwester ihren Anteil nicht verkaufen wolle, finde er keinen Käufer, denn niemand wolle nur ein halbes Haus kaufen. Da habe sich der Bruder aufgeregt und die Sachen von Frau Adler aus dem Zimmer geschmissen, in das Zimmer der Schwester, das Frau Adler bewohnt. "Meine Schwester will nicht verkaufen, weil ich hier wohne", sagt Frau Adler. Das ist naheliegend. "Und dass ich jahrelang hier mit Mamma war, das zählt jetzt nicht." Tränen steigen ihr in die Augen. Sie sei hier gesessen und der Magen hätte ihr weh getan, als ihr Bruder hier war und sich so aufgeregt hatte. Vor zwei wochen war das passiert. "Aber jetzt ist es vorbei." setzt sie fest dazu und läßt die Tränen wieder verschwinden. "Der Kasten ist da hinten." Sie deutet auf die Tür. Eine Freundin hat ihr einen Kasten gekauft, aber wo soll sie den hinstellen? Der Kasten ist in der Schachtel neben mir. Es muss sich um eine dieser fragilen Konstruktionen mit Plastikstoffbezug handeln. Frau Adler weiß nicht, wo sie den Kasten aufstellen soll. Eigentlich wäre vor der Tür (die der Bruder von innen zugenagelt hat) der richtige Platz, aber dort steht das Telefon, dessen Kabel zu kurz ist, um es woanders hin zu stellen. Und das Kabel kommt aus dem verschlossenen Zimmer. Ich hebe das Telefon auf, aber in diesem Telefon ist das Kabel noch fix installiert, man kann also auch keine Verlängerung anbringen. Frau Adler will vermeiden, ein Kabel außen am Haus anzubringen, offenbar hat sie schon alles gut recherchiert. Also hat sie beschlossen, den Tisch mit den Wasserflaschen vor das Haus zu stellen. Es sei jetzt sowieso kalt, das Wasser bleibe frisch. "Und was wollen Sie im Sommer machen?" frage ich irgendwie unpassend. Ach, was im Sommer sei, werde man sehen. Wichtig sei, dass Gott einem die Gesundheit gebe, sagt sie. Sie stellt ihren Milchtopf zur Seite und will nachschauen, ob die Hennen ein Ei gelegt haben. "Frühstücken Sie doch erst mal fertig", sage ich, aber da ist sie schon zum Hühnerstall unterwegs. Die Hennen haben kein Ei gelegt. Beim Ausblick vom Hühnerhof aus wird mir fast schwindlig. Obwohl ich sie immer um die Höhe beneidet habe, bin ich froh, fünfzig Meter weiter unten beschaulich auf Hügel und Meer blicken zu können. Ich muss jetzt gehen.
Was sie heute tun werde, frage ich. Sie müsse die Weinreben aufheben, denn vor ein paar Tagen habe man ihren Weingarten beschnitten. "Am Wochenende soll es wieder kalt werden." sage ich. Dieser Satz beruhigt uns beide. Sicheres Terrain. Sie ruft mir noch nach, dass es ihr Leid tue, dass sie kein Ei gefunden habe, und sie werde mir eines bringen, sobald die Henne es lege. "Nur, wenn sie zu viele haben!" rufe ich.
Ich laufe nach Hause, um mich um alles zu kümmern, was zu viel ist.

Mittwoch, 19. Januar 2011

Die letzten Tage

MM sagt gestern abend: "Vielleicht schaffen wir es diesmal". Ich weiß sofort, was er meint. "Ihn loszuwerden?" versichere ich mich.
Diesmal hat Herr B. auch den Vatikan vergrämt.
Ich habe den Prosecco eingekühlt, wobei - das wäre eine Flasche Champagner wert. Darf auch teuer sein.
Und jetzt halte ich mich stets in der Nähe eines Radiogerätes auf, um es sofort zu wissen, wenn er zurücktritt.

Montag, 17. Januar 2011

Ziviler Ungehorsam: der Schulbus

Seit wir unsere Zelte im wahrsten Sinne des Wortes hier aufgeschlagen haben, fährt das Kind mit dem Schulbus zur Schule und wieder nach Hause. Das gelbe Gefährt löst für uns einige Probleme, da die Brüder des Kindes 45 Autominuten entfernt in die Schule gehen. An vielen Tagen ist der Schulbus und sein Fahrer unser Babysitter, dann stoppen wir morgens, wenn ich alle drei Kinder im Auto habe den Schulbus, der den Hügel hochfährt, das Kind springt in den Bus und fährt wieder hoch, in den Weiler über uns, dort werden zwei Kinder abgeholt, dann fahren sie in die Schule und nehmen auf dem Weg noch ein paar andere Kinder mit. So kommt das Kind nach 50 Minuten Fahrt im Schulbus in der zehn Minuten entfernten Schule an, aber manchmal ist das die einzige Möglichkeit, denn um 7 Uhr 15 kann man nur wenigen Personen sein Kind anvertrauen, mir sollte man kein zusätzliches bringen. Im besten Fall kann ich zu Hause arbeiten und während MM die großen Kinder zum öffentlichen Autobus mitnimmt, bringe ich das Kind zu Fuß zum Schulbus, der dann bereits mit den zwei verschlafenen Kindern aus dem Weiler nach unten fährt. Das ist dann um 7 Uhr 50, recht human. Der Schulbusfahrer heisst Daniele und ist der erste fremde Mensch, den ich morgens zu Gesicht bekomme und ich habe es gut getroffen: er ist jung, relativ gut aussehend (natürlich ein Mann ohne Unterleib, ich habe ihn noch nie außerhalb des Schulbusses gesehen)und spricht freundlich und nie zu viel. Am Nachmittag wird das Kind wieder mitgenommen und springt nach 40 Minuten Schulende wieder aus dem Bus. Das ist für einen Weg von zehn bis fünfzehn Minuten zwar eine stattliche Zeit, aber es ist mir klar, dass auch andere Kinder nach Hause wollen. Zwei Tage in der Woche muss ich zu meinem großen Unbehagen das Kind selbst von der Schule abholen, denn dann endet auch die Mittelschule zur selben Zeit und das Kind kommt erst nach 17 Uhr nach Hause und da um 17 Uhr 20 der Ballettunterricht (sic!) beginnt, bleibt mir trotz aller verzweifelter Versuche, das Kind in 30 Sekunden anzuziehen und die Autofahrt auf drei Minuten zu verkürzen, keine Wahl: wenn ich will, dass das Kind mehr als zur Hälfte seine Ballettstunde absolviert, muss ich mich unter all die aufgeregten Mütter mischen und mein Kind vor den drängenden Autofahreren weg und zu unserem (weit weg geparkten) Auto drängen.

Der Schulbus kostet 15 Euro pro Monat pro Familie, nächstes Jahr werde ich frohlockend (und so Gott will, wie meine Schwiegermutter sagen würde), drei Kinder für 15 Euro im Monat chauffieren lassen. Nun ist es aber so, dass die Eltern der Kinder, die diesen Service nutzen, beschlossen haben, den Schulbus nicht zu bezahlen. Wie es zu dieser Entscheidung kam, weiß ich nicht, vielleicht ist das bereits im Vorjahr passiert. Als ich zufällig im Oktober einen Aushang an der Schule sah, der zur Einzahlung dieser 15 Euro aufforderte, eilte ich als pflichtbewusste Mutter auf die Gemeinde, um meinen Tribut zu leisten. Die Prozedur war höchst kompliziert und zeitaufwändig (die Person, bei der ich zahlte, musste auch erst einen anderen Menschen fragen, ob man denn wirklich zahlen muss, denn offensichtlich hätte es eine diesbezügliche Versammlung gegeben). Eine halbe Stunde nach Abwicklung dieses Verfahrens, bei dem mir die Dame versicherte, dass ich mein Geld rückerstatttet bekäme, sollte die Gemeinde beschließen, die Kostenpflicht für den Schulbus aufzuheben, bekam ich einen Anruf, dass ich zurückkehren sollte, die Dame hätte nämlich in diesem weitschweifigen Verfahren vergessen, mich den Antrag unterzeichnen zu lassen, den ich zur Beförderung des Kindes gestellt hätte. Ich holte gerade das Kind vom Balettunterricht ab und die Mutter eines anderen tanzenden Kindes riet mir, die Sache ein anderes Mal oder gar nicht zu beenden. Ich wollte aber auch nicht ein anderes Mal die Sache erledigen und fuhr also mit dem Kind wieder den Berg hoch in die Kerngemeinde. Dort stellte sich heraus, dass die Dame, um meine Nummer ausfindig zu machen, ihre Kusine (unsere Nachbarin) angerufen hatte, diese wiederum hatte keine Telefonnummer von uns und war zu uns nach Hause gegangen, wo ihr meine großen Kinder freundlicherweise meine Mobilnummer aushändigten. Aus irgendeinem Grund war es der Dame wichtig, mich diesen Antrag unterzeichnen zu lassen. Sie versicherte mir am Ende auch, dass, wenn immer ich etwas bräuchte, ich mich an sie wenden könne.
Ich glaube, das ist jetzt der Fall.
Im Oktober habe ich nämlich das letzte Mal den Schulbus bezahlt, da ich mich nicht als Streikbrecherin gebärden wollte. Ein aufgebrachter Vater hatte mir erklärt, dass es sich um die Pflichschule handle, dass die Gemeinde also nicht verlangen könne, dass wir für den Transport der Kinder zahlen. Dieser Gedankengang überraschte mich, also eigentlich war ich über mich selbst überrascht, ich hätte nämlich gedacht, dass es MEINE Pflicht sei, das Kind in die Schule zu schicken. Ein anderes Argument, nicht zu zahlen war, dass der Service nicht ausreichend ausgestattet sei und man verlange eine "Gouvernante", die sich um die Kinder kümmere. (Die müsste dann die pädagogische Funktion des Schulbusfahrers übernehmen, die mir folgendermaßen übermittelt wurde:
Das Kind: "Jetzt weiß ich, wer unser Italien ruiniert: die aus der Mittelschule!"
Ich: "Wieso, was machen sie?"
Das Kind: "Sie schmeißen Kaugummipapier aus dem Fenster und brüllen und bleiben nicht sitzen!"
Ich: "Und was sagt Daniele dazu?"
Das Kind: "Dass er sie umbringt, wenn sie sich nicht ordentlich aufführen!".)

Tatsächlich sehen wir auf der Fahrt in die andere Schule in anderen Orten völlig überfüllte Schulbusse, in denen die Kinder stehen oder an die Scheiben gequetscht sind, in anderen Schulbussen werden den Mitschülern Schuhe ausgezogen und durch die Reihen geworfen. Ich nenne sie die "Schulbusse des Schreckens".
Das Argument der Gouvernante ist also nicht von der Hand zu weisen. Ein weiterer Grund, den Schulbus nicht zu bezahlen ist, dass die Kinder so spät nach Hause kommen, da es einen Schulbus zu wenig gäbe und sie daher einen anderen Hügel hochfahren müssten, bevor sie zu unserem Hügel kommen.
In Wirklichkeit ist es aber glaube ich eher die ungezügelte Lust der Menschen, sich an der Gemeinde für alles zu rächen. Bei mir hieße das: die nicht angebotene Mülltrennung, die mangelhafte Versorgung mit Wasser. Interessanterweise wird das Geld für das Wasser von einer Agentur eingetrieben, die das Recht auf Exekution hat. Damit ist nicht die standesrechtliche Erschießung gemeint, sondern der Exekutor, der den Fernseher mitnimmt. Man schließt daraus, dass in den letzten Jahren die Bewohner ihre Wasserrechnung nicht bezahlt hatten.
Vor einigen Tagen wurde bei unseren Nachbarn eine Verständigung von einem Gemeindebematen für uns abgegeben, dass wir den Schulbus bis 25. Januar einzahlen sollten. Ich weiss nicht, was passiert, wenn wir das nicht tun. Am Samstag durfte ich, da das Kind diesmal bei einer Geburtstagsfeier eingeladen war, mehr zum Thema Schulbus erfahren. Die Mutter des gastgebenden Kindes sagte zu mir: "Jetzt wollen die Leute auch für den schulbus nichts bezahlen." Sie muss gemerkt haben, wie meine Lider nach oben schnellten. "Ich weiß nicht, ob Sie bezahlt haben oder nicht..." fuhr sie fort. Sie wollte wohl sagen: das geht mich nichts an, ich hingegen wollte gleich ein coming out feiern: "Ich habe nur einmal bezahlt, aber dann wollte ich den Leuten nicht in den Rücken fallen...." Wir sind uns einig. Wobei ich nicht ganz sicher bin, ob sie sich mit sich selbst einig ist. Sie hat jedenfalls auch einmal bezahlt und obwohl sie findet, dass der Schulbus auch 50 Euro wert sei, wird sie ihn nicht bezahlen. Und zwar unter anderem, weil sich der Bürgermeister bei einer zum Thema einberufenen Versammlung nicht hat blicken lassen. Ach dieser Bürgermeister! Die Zahlungsaufforderung haben alle bekommen, nicht nur die paar armen Deppen, die bezahlt haben. Laut der Mutter beim Geburtstagsfest vier Familien: wir, sie, die Familie aus dem Weiler und noch eine andere Familie. Laut Aussage der Dame auf der Gemeinde viel mehr: tatsächlich ist der Schulbusausweis des Kindes mit der Nummer 22 versehen. Wieviele Kinder tatsächlich den Service nutzen, weiß ich nicht, aber der Tenor der anderen Mütter im allgemeinen ist doch ein wenig so, dass die Kinder einfach arm seien, die mit dem Schulbus fahren müssen (weil ihre Eltern böse sind, unfähig oder finanzielle Probleme haben). Wenn ich erzähle, dass ich das Kind mit dem Schulbus quäle, informiere ich meine Gesprächspartner immer gleich, dass das Kind einmal geweint hat, als ich es selbst in die Schule brachte (weil es nämlich gern mit dem Schulbus fährt und am liebsten als erster, weil es sich dann den Platz ganz vorne aussuchen kann.)

Was soll ich also tun? Ich zittere vor Angst bei der Vorstellung, dass das Kind nicht mehr mit dem Schulbus fahren kann, weil sich Daniele den Ausweis zeigen lässt, noch schlimmer: der Schulbus wird eingestellt, weil er nicht mehr leistbar ist. Gleichzeitig will ich jede Art von Widerstand gegen die Obrigkeit unterstützen. Ich habe schon mit dem Gedanken gespielt, Daniele zu fragen, ob er kein Geld bekomme, wenn ich nicht bezahle, diese Idee aber als infantil und kokett klassifiziert.
Der Vater der Kinder aus dem Weiler hat für den Schulbus gekämpft, die Familie muss also bezahlen, sonst sind sie ihren Schulbus wieder los, und die nächsten in der geografischen Abfolge sind dann wir. Wenn die Kinder aus Difesa krank sind, was oft vorkommt (sicher weil sie immer so früh aufstehen müssen und so lange mit dem Bus fahren), kommt Daniele extra für UNS!

In Wirklichkeit denke ich, der Kampf gegen die Gemeinde gehört effizient und nicht über Umwege geführt. Der Schulbus ist eine gute Sache und in Zeiten der Krise ist es klar, dass er nicht gratis ist, eigentlich sind 15 Euro für drei Kinder nicht besonders viel, denn wie die Mutter des Geburtstagskindes bemerkt: so viel zahlen wir auch für den Treibstoff. Doch die aufgeregte Demonstrantin in mir wittert Aufruhr und möchte diesen nicht verpassen.

Donnerstag, 13. Januar 2011

Die Struktur

Das Kind ist bei einer Schulkollegin eingeladen. "Die Kinder spielen Tombola, die Mütter trinken Kaffee.", sagt die Mutter der Schulkollegin. Ich freue mich, ich trinke gerne Kaffee. Ich stelle mir vor, wie die Mütter verschwörerisch in der Küche kichern und nach dem Kaffee umgehend zum Prosecco greifen. Aber auch ohne Prosecco freue ich mich.
Nach dem Event freue ich mich nicht mehr. Ich habe Ohrenschmerzen, denn wir sind ohne Kopfbedeckung nach Hause gegangen, aber man muss kein auf Psychosomatik spezialisierter Arzt sein, um meine Ohrenschmerzen zu interpretieren. Kaffee habe ich auch keinen bekommen, von Prosecco ganz zu schweigen. Verschwörerisch waren maximal die anwesenden Männer, die sich mit einem Bier auf den Sofas vor dem laufenden Fernseher zusamenrotteten, während die einzige andere Mutter außer mir und der Gastgeberin hingebungsvoll ihren Fünfjährigen betrachtete und ihn dazu anhielt, die Tombolanummern zu ziehen. Ich fragte mich, was genau diesem Kind fehle, da sich seine Mutter so intensiv mit ihm beschäftigte und so überaus glücklich auf sein aktives soziales Verhalten reagierte, aber es muss wohl der Mutter etwas gefehlt haben. Möglicherweise die Anwesenheit einer Kaffeetasse in der Hand, denn dieser Mangel erzeugte auch bei mir das Bedürfnis mein Kind anzuglotzen. Die anderen Mütter hatten ihre Kinder abgegeben und waren mit kreischenden Autorädern davongefahren. Das mache ich normalerweise auch und ich hoffe, ich werde mich bei der nächsten Einladung daran erinnern, dass ich Kaffee besser in der Bar einnehme.
Ich begann, mit der Mutter des fünfjährigen, einwandfrei Tombolanummern ziehenden Kindes Konversation zu betreiben. Das Kind geht nicht in unserem Ort in den Kindergarten, sondern im Nebenort. Auch das kleinere Kind der Gastgeberin besucht dort den Kindergarten und die Schulkollegin meines Kindes wird dort in die Mittelschule eingeschrieben werden. Die Mutter der Schulkollegin hatte auch mich schon früher darauf angesprochen, wohin ich mein Kind in zweieinhalb Jahren schicken werde. In der hiesigen Mittelschule werde mit Drogen gehandelt, sagt sie. Da meine großen Kinder im nächsten Schuljahr bereits (mit Gottes Hilfe, wie meine Schwiegermutter sagen würde) in eine Mittelschule gehen werden, ist das Thema für mich aktuell. In Italien ist eine Mittelschule eine echte Schule der Mitte, nach fünf Jahren Grundschule und einer eventuell höheren oder berufsbildenden Schule danach. Alle Schüler gehen in die dreijährige Mittelschule. Meine Nachbarin hat ihre Kinder in die inkriminierte Mittelschule in unserem Ort geschickt. Ihre Kinder, Zwillinge in der Hochblüte der Pubertät, scheinen die Schule ohne Auffälligkeiten überlebt zu haben. Meine Nachbarin ist eine praktische Frau, sie sagt: Dank daran, dass du sie nicht mit dem Schulbus in eine andere Schule schicken kannst. Ich denke daran. Ich stelle mir vor, wie ich in den nächsten fünf Jahren meine Kinder mit dem Auto in den Nebenort bringe und sie mittags wieder abhole. Ich denke daran, wie dünn wir dann alle sein werden, weil ich kein Geld mehr verdienen kann und wir nichts mehr zum Essen einkaufen können. Ich beschließe, dass meine Kinder sich gegen Drogenhandel an der Schule wappnen müssen.
Die Mutter des gut betreuten Fünfjährigen bringt meine Überzeugung ins Wanken: sie habe sich verschiedene Schulen angesehen (vorbildlich, das machen meine deutschsprachigen Freundinnen auch) und die Struktur der Schule, in dessen Kindergarten das Kind jetzt gehe, hätte sie am meisten überzeugt. Bei dem Wort Struktur sehe ich Versammlungen vor mir, bei denen Lehrer und Lehrerinnen den Eltern ihre pädagogischen Haltungen erläutern, ihre Konzepte darbieten und ihre Projekte ankündigen. Ich schäme mich, dass ich meine Kinder aus egoistischen Gründen in eine Schule mit nicht vorhandener oder schlechter Struktur schicken will. Ich schleppe mich und das Kind nach Hause. Ich möchte auch so gerne überzeugt sein. Oder zumindest mich von etwas am ehesten überzeugen lassen. Ich möchte auch nur ein Kind und das möchte ich liebevoll besorgt anstarren. Ich möchte es jeden Tag mit dem Auto in die schule bringen. Ich möchte, dass mein Mann gesellschaftlich repräsentativ mit einem Bier auf dem Sofa der Gastgeber sitzt. Aber mein Mann rutscht auf allen vieren herum und verlegt einen Holzboden.
Als ich mir vor dem Schlafengehen den Pullover über den Kopf ziehe, fällt es mir wie Schuppen von den Augen: "Sie hat mit Struktur das Gebäude gemeint!" sage ich zu MM. Ich muss mich setzen. Darauf bin ich nicht gekommen, für mich ist es klar, dass eine Schule oder ein Kindergarten nicht gleich einstürzen. Würde ich das Gebäude überprüfen, würde ich die Wandgestaltung analysieren, die Menge an Licht, die Größe der Klos, möglicherweise die Schadstoffe, aber ich käme nicht auf die Idee, die Qualität des Betons und der Ziegel in Betracht zu ziehen. "Klar", sagt MM "das sind öffentliche Aufträge, da können die kriminellen Organisationen mitmischen."
Jetzt verstehe ich auch, warum die fürsorgliche Mutter erzählt hat, in der Schule, in die mein Kind geht, sei ein Kind gegen den Heizkörper gefallen und hätte sich am Kopf verletzt, in einer anderen Schule sei ein Kind von einer schlecht abgesicherten Treppe gestürzt und hätte nun Probleme mit der Schulter. Die Treppe sei nach wie vor ungesichert. Ihr eigenes gut behütetets Kind ist allerdings im Kindergarten mit der besten Struktur von der Schaukel gefallen und hat sich das Nasenbein gebrochen.

In unserem Haus ist die Treppe auch ungesichert und wenn ich die Freunde der Kinder nicht einladen will, dient mir das als Ausrede. Das Zimmer ist fertig. Das Wort Wohnzimmer passt nicht, auch nicht "Soggiorno" oder "Salone", wie die Italiener ihre Repräsentationsräume nennen, die meistens unbewohnt bleiben, da sich die Familie in der Küche aufhält oder noch lieber in der zur Küche umfunktionierten Garage. Das Zimmer ist leer, nur der Holzboden und ein Sofa trösten über das Fehlen der seit Monaten dort gelagerten Baustellenmaterialien hinweg. Seit das Zimmer fertig ist, wollen die Kinder nicht mehr fernsehen, sondern rollen den ganzen Abend auf dem Boden. Auch die Tanzschritte von Michael Jackson gelingen dort. Das Kind nennt es Spielzimmer.

Seit gestern stehen auch Bücherkisten auf dem Boden. Die Übersiedlungsexperten, die für ihre Arbeit um die 3000 Euro wollten, haben keineswegs übetriebene Kostenvoranschläge gemacht. Auch die Schätzung von 300 Bücherkisten ist durchaus realistisch gewesen. Ich bin müde von meiner gestrigen 6-stündigen Orgie mit nur einem Regal (geschätzte 18 Meter Bücher), aber der Horizont ist aufgetaucht.