Donnerstag, 13. Januar 2011

Die Struktur

Das Kind ist bei einer Schulkollegin eingeladen. "Die Kinder spielen Tombola, die Mütter trinken Kaffee.", sagt die Mutter der Schulkollegin. Ich freue mich, ich trinke gerne Kaffee. Ich stelle mir vor, wie die Mütter verschwörerisch in der Küche kichern und nach dem Kaffee umgehend zum Prosecco greifen. Aber auch ohne Prosecco freue ich mich.
Nach dem Event freue ich mich nicht mehr. Ich habe Ohrenschmerzen, denn wir sind ohne Kopfbedeckung nach Hause gegangen, aber man muss kein auf Psychosomatik spezialisierter Arzt sein, um meine Ohrenschmerzen zu interpretieren. Kaffee habe ich auch keinen bekommen, von Prosecco ganz zu schweigen. Verschwörerisch waren maximal die anwesenden Männer, die sich mit einem Bier auf den Sofas vor dem laufenden Fernseher zusamenrotteten, während die einzige andere Mutter außer mir und der Gastgeberin hingebungsvoll ihren Fünfjährigen betrachtete und ihn dazu anhielt, die Tombolanummern zu ziehen. Ich fragte mich, was genau diesem Kind fehle, da sich seine Mutter so intensiv mit ihm beschäftigte und so überaus glücklich auf sein aktives soziales Verhalten reagierte, aber es muss wohl der Mutter etwas gefehlt haben. Möglicherweise die Anwesenheit einer Kaffeetasse in der Hand, denn dieser Mangel erzeugte auch bei mir das Bedürfnis mein Kind anzuglotzen. Die anderen Mütter hatten ihre Kinder abgegeben und waren mit kreischenden Autorädern davongefahren. Das mache ich normalerweise auch und ich hoffe, ich werde mich bei der nächsten Einladung daran erinnern, dass ich Kaffee besser in der Bar einnehme.
Ich begann, mit der Mutter des fünfjährigen, einwandfrei Tombolanummern ziehenden Kindes Konversation zu betreiben. Das Kind geht nicht in unserem Ort in den Kindergarten, sondern im Nebenort. Auch das kleinere Kind der Gastgeberin besucht dort den Kindergarten und die Schulkollegin meines Kindes wird dort in die Mittelschule eingeschrieben werden. Die Mutter der Schulkollegin hatte auch mich schon früher darauf angesprochen, wohin ich mein Kind in zweieinhalb Jahren schicken werde. In der hiesigen Mittelschule werde mit Drogen gehandelt, sagt sie. Da meine großen Kinder im nächsten Schuljahr bereits (mit Gottes Hilfe, wie meine Schwiegermutter sagen würde) in eine Mittelschule gehen werden, ist das Thema für mich aktuell. In Italien ist eine Mittelschule eine echte Schule der Mitte, nach fünf Jahren Grundschule und einer eventuell höheren oder berufsbildenden Schule danach. Alle Schüler gehen in die dreijährige Mittelschule. Meine Nachbarin hat ihre Kinder in die inkriminierte Mittelschule in unserem Ort geschickt. Ihre Kinder, Zwillinge in der Hochblüte der Pubertät, scheinen die Schule ohne Auffälligkeiten überlebt zu haben. Meine Nachbarin ist eine praktische Frau, sie sagt: Dank daran, dass du sie nicht mit dem Schulbus in eine andere Schule schicken kannst. Ich denke daran. Ich stelle mir vor, wie ich in den nächsten fünf Jahren meine Kinder mit dem Auto in den Nebenort bringe und sie mittags wieder abhole. Ich denke daran, wie dünn wir dann alle sein werden, weil ich kein Geld mehr verdienen kann und wir nichts mehr zum Essen einkaufen können. Ich beschließe, dass meine Kinder sich gegen Drogenhandel an der Schule wappnen müssen.
Die Mutter des gut betreuten Fünfjährigen bringt meine Überzeugung ins Wanken: sie habe sich verschiedene Schulen angesehen (vorbildlich, das machen meine deutschsprachigen Freundinnen auch) und die Struktur der Schule, in dessen Kindergarten das Kind jetzt gehe, hätte sie am meisten überzeugt. Bei dem Wort Struktur sehe ich Versammlungen vor mir, bei denen Lehrer und Lehrerinnen den Eltern ihre pädagogischen Haltungen erläutern, ihre Konzepte darbieten und ihre Projekte ankündigen. Ich schäme mich, dass ich meine Kinder aus egoistischen Gründen in eine Schule mit nicht vorhandener oder schlechter Struktur schicken will. Ich schleppe mich und das Kind nach Hause. Ich möchte auch so gerne überzeugt sein. Oder zumindest mich von etwas am ehesten überzeugen lassen. Ich möchte auch nur ein Kind und das möchte ich liebevoll besorgt anstarren. Ich möchte es jeden Tag mit dem Auto in die schule bringen. Ich möchte, dass mein Mann gesellschaftlich repräsentativ mit einem Bier auf dem Sofa der Gastgeber sitzt. Aber mein Mann rutscht auf allen vieren herum und verlegt einen Holzboden.
Als ich mir vor dem Schlafengehen den Pullover über den Kopf ziehe, fällt es mir wie Schuppen von den Augen: "Sie hat mit Struktur das Gebäude gemeint!" sage ich zu MM. Ich muss mich setzen. Darauf bin ich nicht gekommen, für mich ist es klar, dass eine Schule oder ein Kindergarten nicht gleich einstürzen. Würde ich das Gebäude überprüfen, würde ich die Wandgestaltung analysieren, die Menge an Licht, die Größe der Klos, möglicherweise die Schadstoffe, aber ich käme nicht auf die Idee, die Qualität des Betons und der Ziegel in Betracht zu ziehen. "Klar", sagt MM "das sind öffentliche Aufträge, da können die kriminellen Organisationen mitmischen."
Jetzt verstehe ich auch, warum die fürsorgliche Mutter erzählt hat, in der Schule, in die mein Kind geht, sei ein Kind gegen den Heizkörper gefallen und hätte sich am Kopf verletzt, in einer anderen Schule sei ein Kind von einer schlecht abgesicherten Treppe gestürzt und hätte nun Probleme mit der Schulter. Die Treppe sei nach wie vor ungesichert. Ihr eigenes gut behütetets Kind ist allerdings im Kindergarten mit der besten Struktur von der Schaukel gefallen und hat sich das Nasenbein gebrochen.

In unserem Haus ist die Treppe auch ungesichert und wenn ich die Freunde der Kinder nicht einladen will, dient mir das als Ausrede. Das Zimmer ist fertig. Das Wort Wohnzimmer passt nicht, auch nicht "Soggiorno" oder "Salone", wie die Italiener ihre Repräsentationsräume nennen, die meistens unbewohnt bleiben, da sich die Familie in der Küche aufhält oder noch lieber in der zur Küche umfunktionierten Garage. Das Zimmer ist leer, nur der Holzboden und ein Sofa trösten über das Fehlen der seit Monaten dort gelagerten Baustellenmaterialien hinweg. Seit das Zimmer fertig ist, wollen die Kinder nicht mehr fernsehen, sondern rollen den ganzen Abend auf dem Boden. Auch die Tanzschritte von Michael Jackson gelingen dort. Das Kind nennt es Spielzimmer.

Seit gestern stehen auch Bücherkisten auf dem Boden. Die Übersiedlungsexperten, die für ihre Arbeit um die 3000 Euro wollten, haben keineswegs übetriebene Kostenvoranschläge gemacht. Auch die Schätzung von 300 Bücherkisten ist durchaus realistisch gewesen. Ich bin müde von meiner gestrigen 6-stündigen Orgie mit nur einem Regal (geschätzte 18 Meter Bücher), aber der Horizont ist aufgetaucht.

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