Donnerstag, 20. Januar 2011

Minimalismus und Frau Adler

Mein Alltag ist voller Staub, der auf den Büchern liegt, die ich hierher transportiere und voller guter Vorsätze: einmal im Monat werde ich in Zukunft jedes Buch aus dem Regal nehmen und es absaugen. Ich finde Hefte, auf denen "Cahier des reves" steht was mich inspiriert zu haben scheint, irgendwann vor sieben Jahren zu schreiben: "Träume, dass ich mit Schauspieler Jens im Bett liege. Es ist schön, aber auch schrecklich, denn Jens hat viele Pickel und ist häßlich. Da kommt meine Mutter." Ich mache schnell das Heft zu. Wer ist Schauspieler Jens? Warum kommt meine Mutter? Will ich das wirklich wissen, nach so vielen Jahren? Was habe ich mir damals davon versprochen, meine Träume aufzuschreiben? Ich finde Notizen: "Das Leben von Francesca aus dem Tabakladen". Wie bitte? Kein Datum. Ich denke nach. Nach einem halben Tag fällt mir ein, was ich gemeint haben könnte, aber keine Details. Es geht um Reimmigration oder Reemigration, es interessiert mich auch gar nicht mehr.

Ich versuche, meine Schwächeanfälle mit gutem Tipps aus dem Web zu bekämpfen und lese ausgiebig zum Thema Minimalismus. Dann gehe ich eine Runde durchs Haus und schmeiße Gegenstände weg. Da ich recht zaghaft bin, liegen noch etwa 230 Arbeitsjahre vor mir, bevor ich mich eines minimalistischen Haushalts erfreuen kann. Wie bekannt ist, dient ein aufgeräumter Schreibtisch der Klarheit des Verstandes. Kein Wunder, dass mein Verstand nicht sonderlich frisch wirkt, liegen doch Arbeitshandschuhe, eine einzelne Socke und ein kleines Spielzeugpferd mit einem abgebrochenen Bein neben meinem Computer. Statt darüber nachzudenken, ob ich das Pferd mit dem verstümmelten Bein wegwerfen darf, obwohl es mir nicht gehört, übe ich mich in der Kunst des positiven Denkens und freue mich, dass mein Paar Arbeitshandschuhe komplett ist und nicht auf Partnersuche, wie die Socke.

Gestern morgen traf ich Frau Adler auf dem Weg zum Schulbus. Sie wohnt in einem kleinen alten Haus oberhalb unseres Hauses und ich habe mich immer schon gefragt, wie der Ausblick von da oben sein muss. Sie lädt mich ein, einen Kaffee zu trinken und da es acht Uhr morgens ist, habe ich darauf wirklich Lust. Das Haus steht direkt neben einem etwas überdimensionierten, vor relativ kurzer Zeit erbautem Haus, an dem man unbedingt vorbeigehen muss, um in Frau Adlers Haus zu gelangen, ein Nachteil. Frau Adler bezeichnet das Haus als "Casa della Mamma", denn dort hat ihre Mutter gewohnt, die sie viele Jahre lang gepflegt hat. Frau Adler ist mehr als siebzig Jahre alt und ausgesprochen gut zu Fuß. Ich habe schon immer ihre Bekleidung interessant gefunden, denn ihre Strumpfhosen sind mehrfach kunstvoll geflickt und im Sommer trägt sie ein Kleid, dessen Farben so verblasst sind, dass es wirklich alt sein muss, denn heute hält kein Stoff mehr so lange. Im Winter trägt sie eine Wolljacke. Ihr Haar ist kurz geschnitten, stark ergraut und kunstlos frisiert. Das ist bemerkenswert, weil hier auch ältere Damen eine Vorliebe für das Haarefärben haben und sich dadurch eine Menge an rabenschwarzen, akkurat in Locken gelegten Frisuren ergibt. Ich folge Frau Adler über eine Treppe, die mit dem wunderbaren Stein der hiesigen Berge gebaut wurde, zu ihrem Häuschen. Die kleine Küche ist extra zu betreten, gegenüber sehe ich ein Klo mit einer neuen Klomuschel und ordentlich aufgehängtem Klopapier. Steht die Tür offen, oder gibt es keine? Frau Adler bittet mich in ihr Wohnzimmer, ein niedriger Raum, die Decke mit freiliegenden, weiß gestrichenen Holzbalken. Der Boden ist aus etwas, was ich als Flüssigbeton interpretiere, es ist nicht staubig wie unser Zement, aber doch roh. Sie sagt: "Sehen Sie nur die Unordnung." Ich gebe ein Geräusch von mir, denn ich weiß nie, wie ich auf solche Ansagen reagieren soll. Soll ich sagen: "Bei uns schaut's ärger aus!" Oder: "Wieso, was meinen Sie?" Stühle mit Strohgeflecht stehen übereinander gestapelt, Schachteln stehen auf dem Boden. Frau Adler geht in die Küche, um Kaffee zu kochen und ich sehe mich um: neben der einfachen alten Holztür steht ein Tisch, darauf Wasser in Plastikflaschen und ein kleines, altmodisches Fernsehgerät. Daneben ein Kühlschrank, eine Gefriertruhe und dort geht es schom mit einem Bett ums Eck. Auf dem Bett liegen Bekleidungsstücke ausgebreitet. Ich erkenne eine Winterjacke und Strumpfhosen, eine rote Weste. Aber es ist nicht wenig, es sieht nicht wie vor meinem Bett aus, wenn ich schlafe. Das sind alle Kleider von Frau Adler, denke ich und habe ein mächtiges Flashback: ein Haus in der Toskana, ein Mann der nur das Notwendigste an Kleidern besitzt, sie liegen alle neben seinem Bett. Der Holzboden ist weiß gestrichen, der Mann trägt einen groben Wollpullover, er schreibt. Er raucht. Es ist lange her, ich weiß nicht einmal mehr, ob der Mann wirklich existiert, ob ich ihn erfunden habe, oder ob ich das selbst gerne wäre.
Da kommt Frau Adler und sagt, sie will nur kurz ihre Tochter anrufen. Neben dem Bett steht auf einem kleinen Nachttisch vor einer hellen Holztür das Telefon. Im Haus von Frau Adler ist alles homogen. Das Telefon muss hier seit den 1960er Jahren stehen, es hat noch eine Wählscheibe und ist in dem dezent braunen Ton gehalten, der stellvertretend für die italienische Telefongesellschaft war, als sie noch SIP (Società Italiana per l'Esercizio Telefonico) hieß. Sie wählt eine Nummer und legt wieder auf. Dann ruft ihre in Rom lebende Tochter zurück. Das machen sie jeden Morgen so, denn Frau Adler schläft nicht auf dem mit den Kleidern belegten Bett, sondern bei einer Freundin. Ich sitze auf einem Stuhl inmitten unter den anderen Stühlen, hinter mir steht ein Tisch oder eine als Tisch fungierende Kiste mit einem Plastiktischtuch, daneben eine Truhe, ein Baule, wie es hier heißt, den es in jedem Haushalt gibt. Ich glaube, man verwahrt darin die Bettwäsche. Eine Holztreppe führt auf den Dachboden, dann ist mein Rundblick wieder bei der Tür angelangt. Auf dem Boden stehen zwei sehr alte elektrische Heizgeräte.
Frau Adler bringt den Kaffee. Für sich selbst hat sie Milch in einem kleinen Topf gewärmt und gibt ein wenig Kakao dazu, anschließend Stücke von trockenem Brot und Keksen. Sie löffelt aus dem Topf, sie entschuldigt sich, dass sie keine Lust habe, für sich allein eine Tasse zu nehmen, die sie dann abwaschen müsse. Ich verstehe sie, sage ich, wobei das nur für sie gilt. Sie ist so verbunden mit sich und ihrer Welt, dass sie auch keine Zeichen der Verwahrlosung aufweist, wenn sie aus dem Topf isst.
"Ich habe ihr Haus anders in Erinnerung", sage ich. Ich erinnere mich an eine Art klösterliche Zelle, in der, wie ich mir vorstellte, sich Frau Adler abends auf das Bett legte und in derselben Stellung morgens erholt wieder aufwachte, um ihr tätiges Leben auf ihren beiden Beinen wieder aufzunehmen. "Mein Bruder..." sagt sie und macht eine Bewegung mit der Hand vor ihrem Kopf. Ich interpretiere, dass ihr Bruder nicht ganz richtig tickt. Sie erzählt, dass ihr Bruder seinen Anteil des Hauses, nämlich ein Zimmer, das sich hinter der hellen Holztür verbirgt, verkaufen wolle, und da die weitere Schwester ihren Anteil nicht verkaufen wolle, finde er keinen Käufer, denn niemand wolle nur ein halbes Haus kaufen. Da habe sich der Bruder aufgeregt und die Sachen von Frau Adler aus dem Zimmer geschmissen, in das Zimmer der Schwester, das Frau Adler bewohnt. "Meine Schwester will nicht verkaufen, weil ich hier wohne", sagt Frau Adler. Das ist naheliegend. "Und dass ich jahrelang hier mit Mamma war, das zählt jetzt nicht." Tränen steigen ihr in die Augen. Sie sei hier gesessen und der Magen hätte ihr weh getan, als ihr Bruder hier war und sich so aufgeregt hatte. Vor zwei wochen war das passiert. "Aber jetzt ist es vorbei." setzt sie fest dazu und läßt die Tränen wieder verschwinden. "Der Kasten ist da hinten." Sie deutet auf die Tür. Eine Freundin hat ihr einen Kasten gekauft, aber wo soll sie den hinstellen? Der Kasten ist in der Schachtel neben mir. Es muss sich um eine dieser fragilen Konstruktionen mit Plastikstoffbezug handeln. Frau Adler weiß nicht, wo sie den Kasten aufstellen soll. Eigentlich wäre vor der Tür (die der Bruder von innen zugenagelt hat) der richtige Platz, aber dort steht das Telefon, dessen Kabel zu kurz ist, um es woanders hin zu stellen. Und das Kabel kommt aus dem verschlossenen Zimmer. Ich hebe das Telefon auf, aber in diesem Telefon ist das Kabel noch fix installiert, man kann also auch keine Verlängerung anbringen. Frau Adler will vermeiden, ein Kabel außen am Haus anzubringen, offenbar hat sie schon alles gut recherchiert. Also hat sie beschlossen, den Tisch mit den Wasserflaschen vor das Haus zu stellen. Es sei jetzt sowieso kalt, das Wasser bleibe frisch. "Und was wollen Sie im Sommer machen?" frage ich irgendwie unpassend. Ach, was im Sommer sei, werde man sehen. Wichtig sei, dass Gott einem die Gesundheit gebe, sagt sie. Sie stellt ihren Milchtopf zur Seite und will nachschauen, ob die Hennen ein Ei gelegt haben. "Frühstücken Sie doch erst mal fertig", sage ich, aber da ist sie schon zum Hühnerstall unterwegs. Die Hennen haben kein Ei gelegt. Beim Ausblick vom Hühnerhof aus wird mir fast schwindlig. Obwohl ich sie immer um die Höhe beneidet habe, bin ich froh, fünfzig Meter weiter unten beschaulich auf Hügel und Meer blicken zu können. Ich muss jetzt gehen.
Was sie heute tun werde, frage ich. Sie müsse die Weinreben aufheben, denn vor ein paar Tagen habe man ihren Weingarten beschnitten. "Am Wochenende soll es wieder kalt werden." sage ich. Dieser Satz beruhigt uns beide. Sicheres Terrain. Sie ruft mir noch nach, dass es ihr Leid tue, dass sie kein Ei gefunden habe, und sie werde mir eines bringen, sobald die Henne es lege. "Nur, wenn sie zu viele haben!" rufe ich.
Ich laufe nach Hause, um mich um alles zu kümmern, was zu viel ist.

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