Donnerstag, 23. April 2015

Vom Wert der Ordnung und des Chaos - eine Bildbeschreibung

Ich räume auf.

Ich räume mein Büro auf. Ich habe mir im November 2013 geschworen, dass ich im November 2014 einen klaren Verstand haben werde. Das heißt: Wissen was wo ist. Das ist auf eine Art gelungen. Also ich habe gewusst, so ungefähr zumindest, was in welcher Kiste ist.

Irgendwann war ich ein ordentlicher Mensch. Zumindest habe ich regelmäßig Ordnung gemacht. Aber da war ich auch noch jung.

Dann war ich nicht mehr so jung. Und dann waren die Kinder da. Und dann sind wir übersiedelt. Und dann sind die Jahre vergangen. Und dann ist heute und ich stehe mit einer dubiosen Abrechnung aus dem Jahre 2006 da. Aber sie ist so schön angelegt, dass es mir leid tut, sie wegzuschmeißen.

Aus einer Kiste kommen Stadtpläne aus Dublin und das Buch von James Joyce: "Ein Porträt des Künstlers als junger Mann", gekauft irgendwo in einem Antiquariat um 2 Euro (oder Schilling)? Das Buch passt zum Stadtplan, aber vielleicht passt es noch besser in ein Bücherregal. Im Buch sind Rechnungen, aber die kann ich wegschmeißen, sie sind auf Thermopapier und es ist nichts mehr darauf zu sehen. Eine interessante Methode der Auslöschung. Nur eine Rechnung ist auf normalem Papier, sie stammt vom 25.04.2004 und wurde im Muse Cafe in der O'Connel Street gedruckt. 2 Espresso und 1 Cookie für 5 Euro 95 um 16:44.

Ich nehme weitere Dinge aus der Kiste. Ein Heft National Geopgraphic aus dem Jahre 1998, September. Ich blättere es durch und da sehe ich IHN. Da sitzt der Mann meiner Träume auf einem Holzgestell vor einem Barockschloss. Offenbar handelt es sich um "Tsarkoye Selo", denn der Artikel handelt von Katherina der Großen und mein Traummann mag ein Restaurator oder ein Museumsaufseher sein. Er hat blondes, verwuscheltes Haar und blonde Augenbrauen. Er sitzt auf diesem Gestell neben zwei Männern mit schmutzigen Lederstiefeln. Einer von ihnen trägt eine Schirmkappe und streichelt einen beigen kleinen Hund. Mein Mann schaut auf den Hund. Er hat sein rechtes Bein über das linke geschlagen und die Unterarme auf dem Knie aufgestützt. Der rechte Arm liegt über dem linken. In der linken Hand hält er eine Zigarette. Er trägt eine Armbanduhr mit schwarzem Lederband. Er trägt ein hellbaues Hemd, das, wie ich meine, bis zum Bauch geöffnet ist, darunter vielleicht ein Unterhemd. Das Foto erstreckt sich zwar über zwei Seiten, aber der Mann sitzt einfach da im goldenen Schnitt und in Wirklichkeit geht es ja um drei Statuen von Atlas, die zwischen Fenstern mit Rundbögen gebaut wurden. Der Mann hat seinen Kopf gebeugt, ein bisschen so wie der Atlas hinter ihm, der die Welt auf den Schultern hat. Was mag der Mann auf seinen Schultern haben? Eine schwierige Liebe ist das Mindeste.
Er trägt eine beige Hose und schwarze Schnürschuhe. Er ist mager und man sieht die Sehnen auf seinen Händen. Sicherlich arbeitet er mit seinen Händen. Seine Mundwinkel sind nach unten gezogen und seine Ohren sind ein bisschen abstehend. Ich versuche zu erkennen, ob er etwas um seinen Daumen gewickelt hat (den Ring eines Schlüsselbunds vielleicht), aber ich sehe nicht mehr so 100% ig und ich möchte keine Lupe nehmen.

Ich werde nicht nach St. Petersburg fahren (obwohl das vielleicht gar keine schlechte Idee wäre), ich weiß ohnehin wer der Mann ist. Er begegnet mir alle paar Jahre. Manchmal ist er ein Polarforscher, auch auf einem Foto, einmal war er ein rothaariger Mann in  Florenz, der auf einem Markt am selben Tisch mit mir saß. Wir aßen beide Ribollita und stellten rasch fest, dass wir die gleichen politischen Ansichten haben. Der Mann hatte große Hände, sie waren trocken und es waren weiße Farbspuren zu erkennen. Möglicherweise war er Maler und Anstreicher, für mich Maler. Er lebt auch in Wien und ist Künstler in einem Atelier im 2. Bezirk, in dem ich auf dem Klo war, als ich in der Nähe arbeitete. Auf dem Boden in der Nähe des Klos stand eine kleine Espressomaschine, eine kleine Herdplatte, Kaffee, Tassen, Zucker und Löffel. Der Mann machte Bilder in Serien, abstrakte Bilder mit blauer und rosa Farbe, flüchtig wie Wolken an einem Frühlingstag.
Dieser universal vorhandene Mann ist melancholisch, unpraktisch, wenn es darum geht, sein Gefühlsleben in den Griff zu bekommen. Er braucht seine Hände für mehr als nur zum schreiben und vergisst sich selbst, wenn er arbeitet. Er liebt immer die falschen Frauen  und raucht und trinkt zu viel. Er ist leidenschaftlich und das Wohltemperierte ist für ihn zu süß, er hat es gerne stark und bitter.

Klar stelle ich mir vor, wie er mit seinen rauhen Händen über meine heißen Wangen streicht und mich leicht und ein einziges Mal auf den Mund küßt. Zum Abschied. Aber er ist ohnehin immer da. In meinem inneren Schneesturm. Durch den wir so schnell dahinjagen, dass uns heiß wird.

Er ist das, was ich nicht sein kann. Denn ich räume auf, worauf er möglicherweise verzichten würde. Er hätte es nie zu so einem Chaos kommen lassen, denn er, und das weiß ich schon seit Jahrzehnten, kommt mit einem Minimum an Dingen aus und Papierzeug sammelt sich nicht bei ihm an. Verbrennt er es?

Ich mache Ordnung, damit ich die Dinge finde, die mich ans Stürmische erinnern und das ist gut so.