Mittwoch, 21. Oktober 2015

Hymne, 4 Lieder

Jetzt muss ich so urviel arbeiten und dann hab ich am Abend nie viel Zeit.

Und dann will man aber noch was. Da skype ich mit einem Freund und frage ihn, was DAS Lied schlechthin wäre.

Dann denke ich, ja, DAS Lied schlechthin gibt es schon, aber, dann gibt es noch eins. Das für mich. Dann das für immer. Und dann das für jetzt.

Zum Mitspielen.

Das Lied, das einem immer so kommt, das einem an die tausend Mal gekommen ist, immer und überall:

Pink Floyd ........Oh How I wish, how I wish you were here.


Das Lied, das sagt, das bin ich Leute, da kann ich nichts dagegen machen:

America............on a horse with no name. Wegen der Zeile: and it`s good to be out of the rain.


Dann die Hymne, nach dem Motto: Das will ich an meinem 70. Geburtstag hören und mit euch allen das Tanzbein schwingen:


Gloria Gaynor..............I will survive

eh klar.

Und dann darf man das Lied der Jetztzeit auswählen:

Tja, Hozier...........Take me to church.



Hm. Muss morgen eine Umfrage starten. Fühle mich ziemlich alt. Ist aber auch wurscht.

Aber es gibt noch was, und das ist (für mich) noch früher als America, A horse with no name und man fragt sich, ob der Titel was damit zu tun hat: Patti Smith...........Horses.

Und ich weiß, dass ich DAMALS und das ist auch urlange her, in mein Tagebuch geschrieben habe: Solange es Musik und Wein gibt, werde ich mir nicht das Leben nehmen.

Stimmt eh. But how I wish....

Mensch wie war das Leben einfach, Rauchen und Musik und  Dancing Barefoot.



Donnerstag, 15. Oktober 2015

Es ist eh alles ein Wahnsinn

Alles was man schreiben kann, wirkt vulgär, angesichts dessen, was sich abspielt. Und das Private ist wirklich nur mehr zum Teil politisch.
Weil, dass meine Kinder ein Problem haben, mit dem Autobus zu fahren, weil der eingestellt wird, weil ihn die Region Kalabrien schon so lange nicht bezahlt hat, das ist politisch. Aber dass ich ihnen nicht helfen kann, weil ich nicht bei ihnen bin, das ist privat, aber auch nur halb, denn dass ich zum Arbeiten so weit weg fahren muss, das ist politisch. Und außerdem soll der Scheiß-Bus fahren, denn das ist ja wirklich nichts Privates, wenn man ein öffentliches Verkehrmittel will.

Und schon das kommt mir vor, wie Jammern auf hohem Niveau, wie meine Freundinnen sagen, die dort leben, wo das Niveau generell hoch ist.

Was hätte ich gesagt, noch vor ein paar Monaten, wenn man mich gefragt hätte? Sicher hätte ich gesagt: Es geht eh immer nur um Sex. Oder: Es geht ums Begehren. Und (und das hätte ich insgeheim gehofft): Es geht um die Liebe.

Und dann habe ich eines Tages zu meinen Kindern gesagt, müde, wie ich immer war: Mir tut das so leid, dass die Flüchtlinge kein Bett haben.

Es geht also um ein Bett, um ein Paar Schuhe, ums Essen, eh klar, und dann letzendlich um die Liebe. Wofür und für wen auch immer.

Samstag, 11. Juli 2015

Sommer, die zweite

Um viertel vor zehn verlassen die einstigen Tick, Trick und Track, jetzt Eiche 1, 2 und 3 gemeinsam mit ihrem verhältnismäßig rachitischem Vater das Haus. Abends wohlgemerkt. Unsere Gemeinde ist im Festfieber, der Ortsheilige wird gefeiert. 4 Tage Markt in der Marina, an denen ich immer nur Stühle sehe, aber angeblich gab es mehr, 1 Tag Umzug des Heiligen im Boot mit angeschlossenem Feuerwerk, das sehen wir von unserem Haus aus, dasauf den Hafes geht, leicht angeschlagen, nach der erneuten Zerstörung der Ölwanne des Autos, 1 Tag im oberen Dorf mit Verkostung lokaler Spezialitäten und Organetto und anderen Darbietungen und heute: Eugenio Bennato. Ich merke, dass ich ihn mit seinem Bruder Edoardo verwechselt habe. Hat da nicht einer in meiner Jugend gesungen und habe ich heute nicht gedacht: Na danke, das brauch ich nicht. Aber der da macht auf Taranta Rock und das hätte ich vielleicht doch sehen müssen. Soll ich nun zu Fuß ins Dorf gehen und abgekämpft meine Familie finden, wenn sie gerade heimgeht? Auto hab ich ja keins mehr. Dabei war ich doch vor kurzem noch so zufrieden bei dem Gedanken, dass ich schlafen gehen kann und mich nicht bis um 2 Uhr morgens durchkämpfen muss, auf dem Hauptplatz des Dorfes, wo ich doch nur die flanierenden Eltern der Schulkollegen meiner Kinder treffe. Da kann ich mich im Herbst auch vor die Schule stellen.

MM ist da ganz anders. Er liebt diese Art Freiluftveranstaltungen. Zum Glück für seine Söhne, die ein paar Tage im Jahr von Couchpotatoes zu Platzhirschen mutieren. Ich werde nun zum Kind, das alleine zu Hause bleiben darf, gleich setz ich mich vor den Fernseher und wähle, zum ersten Mal seit Jahren, aus was ich sehen will. MM sagt, er entspannt sich, wenn er die anderen Menschen sieht. MM sagt, er weiß, dass ich diese Menschen erschießen will.

Heute waren wir wegen der kaputten Ölwanne beim Autohändler. Er hat uns davon überzeugt, dass das geringste Übel sei, die Ölwanne zu flicken und andere Reifen zu kaufen, die das Auto höher machen, auf dass ich die Ölwanne nicht mehr aufschlitze. Dann haben wir lang mit der Frau des Autohändlers geredet. Sie hat erzählt, wie sehr sie den Sommer hasst und dass sie sich schon im Mai einkrampft. Das Leben sei so unordentlich im Sommer. Sie müsse, damit ihre Tochter ausgehen kann, abends in eine Bar mit Live-Musik und sie verstehe echt nicht, warum die erst um halb eins mit der Musik beginnen. Ich auch nicht. Die Frau ist eine schicke Frau Anfang vierzig und keine mit geschwollenen Füßen, die es abends nicht mehr schafft. Sie sagt, ihr Mann finde sie langweilig und sie sagt es mit einer Aura, die drauf schließen lässt, dass ihr Mann sie alles andere als langweilig findet, was auch mir die Lizenz gibt, einen Abend allein vor dem Fernseher zu verbringen.

Ich verstehe schon, dass das Leben nachts stattfindet, wo es doch tagsüber flirrend heiß ist. Umgehen kann ich mit dem dennoch nicht.


Freitag, 10. Juli 2015

Alle schreien immer

Allen voran ich, aber noch nicht in der Früh. In der Früh schreit Carolina, die Katze. Sie schreit den ganzen Schmerz ihres ungewöhnlich langen Katzenlebens gegen die Fensterscheibe, sobald es hell wird. Vielleicht verzeiht sie uns seit etwa 17 Jahren nicht, dass sie draußen leben muss. Sie kann nirgends mehr hinauf springen, aber damit der Hund nicht frisst, was sie fressen soll, wird ihr Fressen hoch oben aufgetischt und sie hinaufgehoben. Wenn man sie hochhebt, schreit sie ebenfalls empört und um vorauseilend bevorstehende Misshandlungen abzuwenden. Der Hund bellt auch gerne gegen die Fensterscheibe, aber erst, wenn er menschliche Bewegungen ausnimmt.

Wenn die ersten Menschen das Haus verlassen, kann man auch meine Stimme hören, mitunter, aber immer seltener. Ich bin irgendwie anders geworden, toleranter? Immer läuft jemand zurück, um Vergessenes zu holen. Seit Jahren, obwohl ich am Anfang geschrien habe.

Die Kinder und MM schreien sicher nicht in der Früh, sie sind eher stumm.

Dann bellt der Hund, wenn ich die Hühner aus dem Stall hole. Er findet es tagtäglich unglaublich traurig, nicht dabei sein zu können. Die Hühner schreien auch, auf ihre Art. Eine Zeitlang hat der Hund auch gebellt, weil er spazieren gehen wollte und bitte gerne mit mir. Er hat nicht verstanden, dass ich morgens Kaffee trinken und meine e-mails anschauen muss.

Jetzt ist es ihm zu heiß und er legt sich in den Schatten. Dann schreit mal lange keiner, außer die Nachbarin nach ihrem Hund: "Zora!"

Dann schreien die Schafe wie alte Männer, denen es das Herz zerreißt. Aber auch die sind gerade im Stall wegen der Hitze oder stumm geworden.

Am Abend schreien auch die Frösche und zwar ohrenbetäubend. Unglaubwürdig. Sie klingen wie Geräuschmacher in einem Tonstudio, die Hölzer einander reiben, so dass sie wie Frösche klingen. Und wenn man in der Nähe ist, vibriert das Trommelfell.

Meine Kinder schreien selten. Und eigentlich kaum aus Wut. Manchmal geben sie irgendwelche pienlichen Brunftschreie von sich. Ein Freund von mir hat wohlwollend bemerkt, dass sie nicht laut sind. Ich glaube, sie haben sich ergeben, gegen mich haben sie keine Chance. Aber irgendwie beunruhigt es mich.

Heute habe ich geschrien. Ich habe zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen die Ölwanne des Autos aufgeschlitzt. Ich habe geschluchzt und MM angerufen, um ihm mitzuteilen, dass ich nie wieder einen Fuß in dieses Auto setze. MM hat versucht, mir die Schuld am Leck in der Ölwanne zu geben und nicht der Straße, dem Auto oder dem Leben. Dann habe ich geschrien, dass mir die Stimme weggeblieben ist. Ich kann das eigenlich empfehlen, wenn man keine Stimme mehr hat, erinnert man sich, dass man so geschrien hat und dass das eigentlich ganz unnötig ist. Meine Kinder meinten, dass es mir vielleicht besser ginge, so ohne Stimme, aber nein, so war es nicht. Im Gegenteil, niemand hat sich wehgetan, es ist ganz und gar sinnlos, sich wegen einer kaputten Ölwanne das Haar zu raufen.

Aber traurig macht es schon.

Später habe ich dem Kind zugeraunt: "Was soll ich nur machen?" "Einfach weitermachen." hat er gesagt. Hab ich da einen Therapeuten großgezogen? Was das Finanzielle betrifft, so hat er mir bereits zehnmal sein gesamtes Erspartes  vermachen wollen. Er braucht auch nicht viel. Fernsehen will er und ab und zu ein Heftchen, das er ausgiebig betrachtet. Und Tagebücher braucht er viele und die sind teuer, denn sie sind aufwendig außen verziert und werden von ihm innen auch verziert. Wenn ich ihn davon überzeuge kann, daraus ein Business zu machen, dann sind meine Autoreparaturen kein Problem mehr.

Ich halte mich an die Anweisungen des Kindes und bereite eine Marillenmarmelade vor, mache eine Nektarinenmarmelade, schneide Nektarinen zum Essen auf, wofür mir alle dankbar sind, schneide Gurken zu Salat und Erdäpfeln und Paprikaschoten für Frittata. Das ist keine schlechte Therapie.

Gemeinsam mit MM trifft der Abschleppwagen ein. Das hat MM gut organisiert. Er hat den Mann, der uns das Auto verkauft hat, angeschrien. Wer weiß, wen der anschreit.

Freitag, 26. Juni 2015

Das Mädchen in mir

Ich kann immer noch auf einen Marillenbaum steigen. Nur überlege ich heute, ob ich mein Kind als Wachposten abbeordnen soll, falls ich runterfalle. Ich freue mich immer noch, wenn ich Marillen pflücken kann. Und ich muss sie nicht mehr meinen Puppen verfüttern. Es ist auch nicht mehr der Marillenbaum von meiner Oma, sondern mein eigener. Ich habe einen Marillenbaum. Wow.

Aber ich habe Angst. Was ich mir alles brechen kann. Wer mich findet wenn ich runterfalle und wie ich ins Spital komme. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich gedacht, ich sei unverletzbar. Lang bin ich als Terminator gut durch gekommen.

Ich baumle mit den Beinen und der Ast bricht auch nicht sofort ab, wenn ich mich auf ihn setze. Niemand ruft mich zum Essen, das bin ich heute, die ruft. Und meine Kinder setzen sich gar nicht so gerne in die Bäume.

Weil die Terminator-Zeit vorbei ist und auch die des kleinen Mädchens, ist mir klar, dass mir nicht mehr der Sohn des Bauerns, bei dem ich, wenn ich bei der Oma bin, abends die Milch hole, gefällt, sondern die, die mindestens eine so lange Lebenserfahrung haben, wie ich selbst, die mit den Falten um die Augen, eingerahmt von einer Schneise.

Erstaunlicherweise schmecken die Marillen genauso wie die von der Oma.

Donnerstag, 25. Juni 2015

Ma il cielo è sempre più blu

Jemand sagt mir, es wäre besser, wenn ich in die große Stadt zurückkehren würde. Ich sei einsam in Italien. Der Mann, der das sagt, macht mir Eindruck und so also auch seine Aussage.

Ja, stimmt, einsam. Im Sinne von: Die meisten meiner gescheiten Freundinnen sind in der großen Stadt.

Ich gehe durch die Tage und denke: Vielleicht habe ich alles falsch gemacht.

Ich bin bewegt.

Ich zweifle.

Ich zweifle aber auch sehr daran, dass in der großen Stadt alles anders wäre. Ich zweifle daran, dass all die Freunde, die ich vermisse, sich mit mir beschäftigen wollten, statt sich um ihre Familie zu kümmern. Das ist jetzt so. In ein paar Jahren wird es wieder anders sein.

Ich zweifle trotzdem. Bis ich den Himmel und das Meer von Belvedere sehe. Am Sonntag in der Früh, als ich in den Supermarkt fahre, denn am Sonntag bekommen dort große Familien 20% Rabatt. Ich hab eine große Familie. Und ich gehe am Sonntag in der Früh einkaufen, ohne meine Familie, bevor die anderen Familien kommen.

Ich habe einen Kaffee und ein Cornetto intus und ein kurzes Gespräch mit der Frau in der Bar, in der es darum ging, dass das Wetter gar nicht so schlecht ist, wie angekündigt, und dass wir beide nicht wissen, wann denn dieses angekündigte schlechte Wetter eigentlich kommen soll. Wir sind verschont geblieben, sage ich.

Und dann sehe ich das Meer und es überfällt mich unerklärlich wie die Liebe. Es ist tiefblau und es liegt unter mir. Nein, ich habe keinen Fehler gemacht. Das ist für mich.

In all diesem Mist und ich meine hier: Mist, denn die Mülltrennung, die mir so sympathisch wäre, ist etwas, was ich privat betreibe, fällt mir das Lied von Rino Gaetano ein:

Er zitiert all die Scheiße, die einem im Leben passieren kann und dabei sind die unglaublichsten Sachen - der eine ist Bauer, ein anderer kehrt den Hof zusammen, ein anderer ist Spion und es gibt auch den, der seine Tante liebt und die, die in Kalabrien leben. Die, die Pensionen stehlen, die, die eine schlechtes Gedächtnis haben und die, die von einem Zug überfahren werden, sowie die, die von Liebe leben. Und der Himmel ist immer blauer. Wer auf die Mauern schreibt, wer von Millionen träumt, wer eine Strafe erhalten hat und wer die Südländer hasst, chi mangia patate, chi beve un bicchiere, ma il cielo è sempre più blu.

Der Himmel ist immer blauer.

Und zwar nicht dort, wo die anderen sind, sondern dort, wo man ist, auch wenn man so ein Handicap hat, wie die Tante zu lieben, Brillen zu tragen oder in Kalabrien zu leben.

Dienstag, 16. Juni 2015

Sommer

Die Schulferien haben in Italien offiziell begonnen und der einzige kritische Moment des Schuljahrs, als die Ministerin für Unterricht und Forschung angekündigt hatte, es werde künftig nur noch einen Monat Ferien geben, liegt bereits vergessen zurück. Nein, Mütter und Väter, auch heuer werden die Schüler 13,5 Wochen Ferien haben und rechnet man dazu, dass die meisten seit Anfang Juni die Schule nicht mehr besuchen, 15 Wochen. Für uns sind es 14 Wochen, denn ein paar Tage kann man auch mit wenigen Mitschülern spielen, wenn man klein ist, oder die letzte Prüfung machen, wenn man größer ist. Nur mit jenen herumhängen, die nicht noch mehr Fehlstunden haben können, muss man dann nicht. Ich sehe dieser sommerlichen Unendlichkeit mit einer Mischung aus Gelassenheit und aufkeimender Panik entgegen. In den vergangenen Jahren habe ich mich gut gerüstet mit Sommercamps, Monaten, in denen der nicht richtig begriffene Stoff aufgeholt und in Mammas Büro gelernt wurde und langen Aufenthalten in der großen Stadt. Heuer ist nichts geplant. Denn man kann mit jungen Menschen, die fast 18, 16 und 13 sind, nicht mehr so leicht verreisen. Zumindest nicht als ihre Mutter. Es ist auch ein bisschen Trotz, denn der Ex-Rallyefahrer, nun Fußballer, hat letzten Sommer gesagt, er wolle nicht mehr in die große Stadt fahren. In Wirklichkeit hat es ihm dort gut gefallen, aber ich bin dennoch ein bisschen beleidigt und vielleicht ist eine Pause wirklich nicht das schlechteste.

Noch sind alle entspannt und ich bin verwundert. Sollte mein jahrelanges säuerliches Vorgeben eines Rhythmus doch etwas gefruchtet haben? Nein, kein elektronisches Gerät vor dem Mittagessen. Du kannst lesen. Welche Hausarbeit willst du verrichten, bevor du die Playstation aufdrehst?
Jetzt sage ich nichts mehr und alle zeichnen am Vormittag. Natürlich haben sie dabei Kopfhörer auf, aber sie sind immerhin nicht im Netz. Ich habe in meinem ganzen Leben nicht so viel gezeichnet wie meine Kinder an einem Tag. Nach dem Mittagessen geht es dann ins hedonistische Technikvergnügen. Und wenn dann noch Energie übrig bleibt, ans Meer. Dieser Zustand wird auch nicht ewig dauern. Denn irgendwann werden wir die Zeugnisse abholen und wenn diese positiv sind, wovon ich ausgehe, nachdem ich in den letzen Monaten laut gebellt habe, wenn Wünsche an mich heran getragen wurden, die anstatt des oder zeitlich vor dem Ausbessern des katastrophalen Halbjahrzeugnis, erfüllt werden sollten, wird man hier beginnen, einen Auto-Führerschein und einen Mofa-Führerschein zu machen.

Ich bin überhaupt verwundert, denn die Pubertät scheint etwas Intermittierendes zu sein. Der Fußballer spricht wieder. Zum Beispiel erzählt MM von einem Fall eines geschiedenen Paars, das eine Tochter hat. Die Mutter ist Veganerin und der Vater hat die Mutter verklagt, weil sie die Tochter nicht richtig ernährt. "Wie glaubt ihr, hat der Richter entschieden?" fragt MM. "Sie kommt in eine andere Familie", vermutet der Fußballer. Ich starre ihn fassungslos an. Er hat eine Stimme. Er hat das erste Mal seit zwei Jahren seinen Kopf vom Teller weggehoben. Vielleicht wünscht er es dem Mädchen, in eine andere Familie zu kommen, so wie er es sich vielleicht in den letzten zwei Jahren selbst gewünscht hat. Aber jetzt ist er 16, hat sich seine Balottelli-Frisur abschneiden lassen und lächelt manchmal.
Das Mädchen muss übrigens nach einem ausgewogenen Diätplan ernährt werden, in dem von allem etwas vorgesehen ist.

Das Kind hingegen wehrt sich, in die Pubertät einzutreten, zumindest, was meine Rolle betrifft. Seinem Vater gegenüber ist Schnauben die einzige Kommunikation, zu mir ist er sehr lieb und kindisch und erzählt mir, dass Katy Perry in ihrer Garderobe vor jedem Auftritt eine Kiste eines Biers, dessen Name ich vergessen habe, gekühlt, versteht sich, haben möchte, eine Kiste Mineralwasser, 3 Flaschen gekühlten Pinot grigio und rote und rosa Blumen. Ich bezeuge offenbar so viel Interesse (ehrlich gesagt am Pinot grigio), dass er am nächsten Tag wieder berichtet:
- Mamma, ich habe dir doch erzählt, was Katy Perry in ihrer Garderobe will, aber jetzt sag ich dir, was Miley Cyrus bestellt: 102 rote Rosen und 102 weiße Rosen.
- Was? sage ich, meinst du 200 rote und 200 weiße?
- Nein, 102.
Von einem Moment auf den anderen bekomme ich einen Anflug von dem, was man in meiner Jugend "Blutrausch" genannt hat. Eigentlich weiß ich nicht, ob einem dann das Blut in den Adern kocht, so dass einem der Hals schwillt, oder ob man im Rausch solange auf jemanden einschlägt, bis man Blut sieht. Auf jeden Fall würde ich gerne beide Sängerinnen mit dem Kopf zusammenstoßen.
- Ich finde das manisch, sage ich ungeduldig. Ich will sagen: ich finde das obszön.
- Wieso? fragt das Kind erschrocken.
- Stell dir vor, du würdest zu mir sagen, ich soll dir 102 Blumen ins Zimmer stellen, aber es müssen 102 sein.
Das kommt ihm auch komisch vor. Mein Kind weiß, dass es Leute gibt, die nichts zu essen haben, ich muss es ihm nicht sagen. Ich weiß auch, dass ich in seinem Alter Rod Stewart verehrt habe und der hat sich wahrscheinlich noch was ganz anderes als Blumen in die Garderobe stellen lassen.
Ich nehme weiter die Wäsche ab und stecke die orangen und roten Wäscheklammern in einen Sack. Das Kind trollt sich wieder, sicher Gossip lesen.


Donnerstag, 23. April 2015

Vom Wert der Ordnung und des Chaos - eine Bildbeschreibung

Ich räume auf.

Ich räume mein Büro auf. Ich habe mir im November 2013 geschworen, dass ich im November 2014 einen klaren Verstand haben werde. Das heißt: Wissen was wo ist. Das ist auf eine Art gelungen. Also ich habe gewusst, so ungefähr zumindest, was in welcher Kiste ist.

Irgendwann war ich ein ordentlicher Mensch. Zumindest habe ich regelmäßig Ordnung gemacht. Aber da war ich auch noch jung.

Dann war ich nicht mehr so jung. Und dann waren die Kinder da. Und dann sind wir übersiedelt. Und dann sind die Jahre vergangen. Und dann ist heute und ich stehe mit einer dubiosen Abrechnung aus dem Jahre 2006 da. Aber sie ist so schön angelegt, dass es mir leid tut, sie wegzuschmeißen.

Aus einer Kiste kommen Stadtpläne aus Dublin und das Buch von James Joyce: "Ein Porträt des Künstlers als junger Mann", gekauft irgendwo in einem Antiquariat um 2 Euro (oder Schilling)? Das Buch passt zum Stadtplan, aber vielleicht passt es noch besser in ein Bücherregal. Im Buch sind Rechnungen, aber die kann ich wegschmeißen, sie sind auf Thermopapier und es ist nichts mehr darauf zu sehen. Eine interessante Methode der Auslöschung. Nur eine Rechnung ist auf normalem Papier, sie stammt vom 25.04.2004 und wurde im Muse Cafe in der O'Connel Street gedruckt. 2 Espresso und 1 Cookie für 5 Euro 95 um 16:44.

Ich nehme weitere Dinge aus der Kiste. Ein Heft National Geopgraphic aus dem Jahre 1998, September. Ich blättere es durch und da sehe ich IHN. Da sitzt der Mann meiner Träume auf einem Holzgestell vor einem Barockschloss. Offenbar handelt es sich um "Tsarkoye Selo", denn der Artikel handelt von Katherina der Großen und mein Traummann mag ein Restaurator oder ein Museumsaufseher sein. Er hat blondes, verwuscheltes Haar und blonde Augenbrauen. Er sitzt auf diesem Gestell neben zwei Männern mit schmutzigen Lederstiefeln. Einer von ihnen trägt eine Schirmkappe und streichelt einen beigen kleinen Hund. Mein Mann schaut auf den Hund. Er hat sein rechtes Bein über das linke geschlagen und die Unterarme auf dem Knie aufgestützt. Der rechte Arm liegt über dem linken. In der linken Hand hält er eine Zigarette. Er trägt eine Armbanduhr mit schwarzem Lederband. Er trägt ein hellbaues Hemd, das, wie ich meine, bis zum Bauch geöffnet ist, darunter vielleicht ein Unterhemd. Das Foto erstreckt sich zwar über zwei Seiten, aber der Mann sitzt einfach da im goldenen Schnitt und in Wirklichkeit geht es ja um drei Statuen von Atlas, die zwischen Fenstern mit Rundbögen gebaut wurden. Der Mann hat seinen Kopf gebeugt, ein bisschen so wie der Atlas hinter ihm, der die Welt auf den Schultern hat. Was mag der Mann auf seinen Schultern haben? Eine schwierige Liebe ist das Mindeste.
Er trägt eine beige Hose und schwarze Schnürschuhe. Er ist mager und man sieht die Sehnen auf seinen Händen. Sicherlich arbeitet er mit seinen Händen. Seine Mundwinkel sind nach unten gezogen und seine Ohren sind ein bisschen abstehend. Ich versuche zu erkennen, ob er etwas um seinen Daumen gewickelt hat (den Ring eines Schlüsselbunds vielleicht), aber ich sehe nicht mehr so 100% ig und ich möchte keine Lupe nehmen.

Ich werde nicht nach St. Petersburg fahren (obwohl das vielleicht gar keine schlechte Idee wäre), ich weiß ohnehin wer der Mann ist. Er begegnet mir alle paar Jahre. Manchmal ist er ein Polarforscher, auch auf einem Foto, einmal war er ein rothaariger Mann in  Florenz, der auf einem Markt am selben Tisch mit mir saß. Wir aßen beide Ribollita und stellten rasch fest, dass wir die gleichen politischen Ansichten haben. Der Mann hatte große Hände, sie waren trocken und es waren weiße Farbspuren zu erkennen. Möglicherweise war er Maler und Anstreicher, für mich Maler. Er lebt auch in Wien und ist Künstler in einem Atelier im 2. Bezirk, in dem ich auf dem Klo war, als ich in der Nähe arbeitete. Auf dem Boden in der Nähe des Klos stand eine kleine Espressomaschine, eine kleine Herdplatte, Kaffee, Tassen, Zucker und Löffel. Der Mann machte Bilder in Serien, abstrakte Bilder mit blauer und rosa Farbe, flüchtig wie Wolken an einem Frühlingstag.
Dieser universal vorhandene Mann ist melancholisch, unpraktisch, wenn es darum geht, sein Gefühlsleben in den Griff zu bekommen. Er braucht seine Hände für mehr als nur zum schreiben und vergisst sich selbst, wenn er arbeitet. Er liebt immer die falschen Frauen  und raucht und trinkt zu viel. Er ist leidenschaftlich und das Wohltemperierte ist für ihn zu süß, er hat es gerne stark und bitter.

Klar stelle ich mir vor, wie er mit seinen rauhen Händen über meine heißen Wangen streicht und mich leicht und ein einziges Mal auf den Mund küßt. Zum Abschied. Aber er ist ohnehin immer da. In meinem inneren Schneesturm. Durch den wir so schnell dahinjagen, dass uns heiß wird.

Er ist das, was ich nicht sein kann. Denn ich räume auf, worauf er möglicherweise verzichten würde. Er hätte es nie zu so einem Chaos kommen lassen, denn er, und das weiß ich schon seit Jahrzehnten, kommt mit einem Minimum an Dingen aus und Papierzeug sammelt sich nicht bei ihm an. Verbrennt er es?

Ich mache Ordnung, damit ich die Dinge finde, die mich ans Stürmische erinnern und das ist gut so.