Montag, 13. Dezember 2010

kollektive Bestrafungen

Vor einigen Wochen verlangten meine grossen Kinder von mir je 50 Cent, da sie das Tagebuch von Anna ersetzen mussten, das von unbekannten Vandalen zerstoert worden war. Jedes Kind in der Klasse musste 50 Cent zahlen. Ich wunderte mich sehr und fragte mich, ob ich auch alle zerstoerten und verlorenen Dinge der letzten Jahre in Rechnung stellen koennte. Ich sagte, wenn die Lehrerin Geld von mir will, soll sie mir das schreiben. Normalerweise sind meine Kinder nicht sonderlich schlau und einfallsreich wenn es um betruegerische Aktionen geht, aber man weiss nie. Die Lehrerin schrieb, sie wolle 50 Cent pro Kind fuer ein zerstoertes Tagebuch. Ich nahm mir vor, die Lehrerin zu fragen, ob sie die Eltern bestrafen wolle oder welche Lehre die Kinder aus dieser finanziellen Beteiligung der Eltern genau ziehen sollen. Dazu kam es aber natuerlich nie, ich hatte jedoch die Gelegenheit mit der Elternsprecherin darueber zu sprechen. Ich fragte sie, was mit diesem Tagebuch los sei. "Ach das!" Sie gestand mir, dass sich ihr Sohn weigerte, die 50 Cent zu zahlen, weil er nicht mal wisse, worum es da ging. Sie habe beschlossen, heimlich die 50 Cent fuer ihn zu bezahlen.
Nun erzaehlt mir der Rallyefahrer, waehrend wir gemeinsam eine Buecherkiste schleppen, dass vielleicht alle in der Klasse bestraft werden, wenn sich der Uebeltaeter nicht stelle, der Maria Rita in einem Brief geschrieben habe, sie stinke wie eine Wanze. Ich bin erleichtert: "Du warst das sicher nicht", sage ich zum Rallyefahrer, "du weisst ja nicht, wie man Wanze schreibt." "Tu puzzi come una ghifa" buchstabiert das Kind, aber er weiss es sicher erst seit dem Vorfall, denn wir nennen die gruenen fliegenden Wanzen "Stinker", da ausser MM niemand der hiesigen Sprache derart maechtig ist, so tief in die Ausdreucke der Flora und Fauna vorzudringen. Ich weiss, dass die Stinker "Jifa" im Dialekt heissen, seit ich Tomaten anbaue, die dann eben von der Jifa befallen werden. Fuer Maria Rita tut es mir leid. Der anonyme Taeter hat auch ihr Brot auf den Boden geworfen oder davon abgebissen, das wurde mir nicht ganz klar. Der Rallyefahrer ist sicher kein Freund von Maria Rita. Vielleicht hat er sich den schrecklichen Satz diktieren lassen? Mein grosser Sohn kann es auch nicht gewesen sein, denn die Zeitspanne, in der er diesen Satz schreibt, ist so gross, dass er unmoeglich so lange unbeobachtet sein konnte. Ich tippe auf eine eifersuechtige Rivalin. Was aber tun, wenn wirklich eine kollektive Bestrafung angewandt wird? In diesem Land, in dem der Ministerpraesident das Demokratieverstaendnis von einem ugandischen Machthaber hat, sind wir ohnehin kollektiv bestraft.

Mein Freund, der Schriftsteller raet mir, mich in den Gemeinderat meines neuen Orts waehlen zu lassen und so das Muellproblem selbst in die Hand zu nehmen. Nachdem ich das Kind zum Schulbus gebracht habe, denke ich darueber nach. Der Wind weht und ich denke, was ich alles hier veraendern moechte. Ich moechte ein Fahrverbot vor der Schule erwirken, das ist nicht so abwegig, im alten Ort ist das auch so. Hier hingegen herrscht bei Schulschluss ein unglaubliches Chaos aus im Schrittempo fahrenden Autos, rennenden Kindern und kreischenden Muettern. Ich bin dabei so verkrampft, dass ich unter den ersten sein werde, die unter einem Auto landen. Ich hasse es und ich stelle mir vor, wie das Fahrverbotsschild aufgestellt wird und mich am Tag danach ein aufgebrachter Elternteil, der sein Kind unbedingt vor der Schule ins Auto setzen muss, mit einer Lupara abknallt. Ich muss es anders machen. "Ich werde der Lehrerin sagen, dass ich das Kind spaeter von der Schule abholen werde, denn ich fuehle mich in diesem Verkehrswahnsinn nicht sicher, das werde ich sagen, soll ich mich aufregen oder cool bleiben?" frage ich MM spaeter. "Wieso machst du es nicht einfach, ohne darueber zu reden?" antwortet er. Ich schweige. "So werden wir die Welt nie veraendern!" gebe ich zu bedenken. "Warten wir halt bis morgen." sagt er. Ich hasse ihn, aber gleichzeitig bin ich froh, dass er nicht so ist, wie ich, das wuerde ich auch nicht aushalten. Besser, das Kind kommt mit dem Schulbus heim, aber das ist leider nicht immer moeglich.

Vor einigen Tagen fand hier die Carabinieri-Aktion Overloading statt, bei der insgesamt 77 Personen festgenommen werden, die im Verdacht stehen, einer kriminellen Organisation anzugehoeren und im Drogenhandel taetig zu sein. 23 davon waren aus unserem Ort. Sogar einer aus Difesa war dabei, dem Weiler oberhalb unseres Ortsteils. Seit Tagen fliegen Helikopter ueber unseren Koepfen. Einem Artikel im Internet entnehme ich, dass in den Bergen oberhalb unseres Orts 1900 indische Hanfpflanzen beschlagnahmt wurden, die im Auftrag eines Boss gepflanzt wurden. Der Ertrag kam den Familien von Inhaftierten zu Gute.

Ich sage zu MM, ich werde mich mal mit dem Abgeordnten fuer den Muell in Verbindung setzen. MM meint, dass in Orten wie unseren es besser sei, gleich mit dem Buergermeister zu reden. Am Samstag sehe ich ihn, er spricht anlaesslich einer Darbietung von Clowns im Stadttheater. Er ist sehr jung und er langweilt mich gleich. Er verspricht, dass nach Weihnachten die Ex-Miss-Italia und andere Kuenstler im Stadttheater auftreten werden. Ich werfe MM einen Blick zu, der sagen soll: Na hoffentlich sind die anderen Kuenstler auf dem Niveau der Miss Italia.
Ich denke, das wird schwierig mit der Muelltrennung. Der Wind weht immer noch und ich habe Zahnschmerzen.
Auf dem Huegel gegenueber ziehen Rauchschwaden. Ich denke an einen Satz, den ich eines Morgens im Radio gehoert habe, vielleicht von Saviano, bei dem es um die Feuer in der Landschaft um Neapel geht. Die Feuer, von den Muellhaufen, die verbrannt werden. Sie sehen schoen aus, zitiert der Radiosprecher. "Nur schade, dass sie Dioxin erzeugen."

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