Sonntag, 24. Juni 2012

Weichseln



Es gibt ein chinesisches Sprichwort, das besagt, dass wer immer glücklich in seinem Leben sein will, Gärtner werden soll. Damit sind bestimmt Gärtner im Stadtgartenamt einer wohlhabenden Stadt im nördlichen Teil Europas gemeint. Sie pflanzen im Sommer von 8 Uhr bis 16 Uhr (eine halbe Stunde Mittagspause bezahlt) Blumen. Im Winter trinken sie Tee und mulchen. Sie haben ein fixes Einkommen und sind im besten Fall unkündbar. Wenn sie Karriere machen, dürfen sie planen, welche Blumen im Park gesetzt werden.
Uns kann man vielleicht nicht als Gärtner bezeichnen, sondern eher als Opfer eines gewissen Landbesitzes. "Wir wollten ein bisschen Land haben", sage ich oft, um unseren Hauskauf zu rechtfertigen, der uns in the middle of nowhere geführt und uns eben ein bisschen Land, nämlich 5000 qm, was zu viel für einen Blumengarten und zu wenig für eine Landwirtschaft ist, beschert hat. Auf dem bisschen Land stehen ein paar Obstbäume. Nach der Heimsuchung der Pflaumen, die immer noch andauert, sind nun auch die Weichseln reif. Möglicherweise gehört der Weichselbaum sogar den Nachbarn, aber auf unserer kleinen Straße stellen wir die Leiter auf und zurren die Weichseln in den Korb. Ich erkläre mir meine extreme Unlust, die Weichseln ins Körbchen zu holen, damit, dass letztes Jahr an dem Tag, als wir die Weichseln ernteten, unsere Nachbarin Teresa unverhofft vor mir auf die Knie gegangen ist, aber nicht, weil sie mich so bewundernswert findet, sondern weil ihr plötzlich schwarz vor den Augen geworden ist. Was dann geschah und wie das Kind alle kräftigenden Getränke, die der armen Frau kredenzt wurden, zu sich genommen hat, habe ich in dem Blogeintrag "una domenica bestiale" beschrieben. Das muss jetzt ungefähr ein Jahr her sein und es ist erschreckend, wie wenig wir uns verändert haben. Diesmal ist es nicht so heiß, der läppische orange Hut des großen Sohns ist tief in einer Lade vergraben und der Rallyefahrer stellt sich erst hilfsbereit auf die Leiter und langweilt sich dann schnell. Er beschließt, dass mir die Leiter zu halten viel heldenhafter ist und erzählt mir dabei von allen elektronischen Spielen, die es gibt oder seiner Meinung nach geben müsste.
Teresa taucht nicht auf. Dafür wurde der Opa des Studenten ins Spital gebracht, weil er Schwierigkeiten mit dem Atmen hatte, was nicht weiter verwunderlich ist, weil er ja jeden Tag in der zum Aufenthaltsraum umgewidmeten Garage vor dem eingeschalteten Fernsehgerät sitzen muss. Ich glaube, man muss den Leuten nur zuhören um zu begreifen, was ihnen fehlt. MMs Kusine zum Beispiel, die Mutter der beiden schon halb aus der Kirche exkommunizierten (?) Töchter wurde auch letztens ins Spital gebracht, weil es ihr schlecht ging. Sie ist schwerhörig und trägt ein Hörgerät. Mir erzählt sie gleich, dass sie es nicht aushält, dass dauernd der Fernseher läuft und dass ihre Töchter zu laut reden, vor allem die kleinere (die Witwe, die den Streit mit dem Pfarrer hat). Mich wundert es nicht, dass im Spital festgestellt wird, dass sie keine pathologischen Erscheinungen hat, sondern Panikzustände. Dann muss sie wieder heim und ihre Töchter über sich ergehen lassen. Der Opa des Studenten muss sich vielleicht auch einfach vom übermäßigen Genuss des Fernsehens erholen, zumindest hoffe ich das.
Terasa sehen wir also am Tag der Weichselernte nicht, aber ich habe vor ein paar Tagen mit ihr Kaffee getrunken und ihr versucht, zu erklären, dass ich jetzt auch weiß, wie das ist, in Panik zu geraten, denn bei einem Konzert vor kurzem hatte ich Angst, über einer Tiefgarage zu stehen und einzubrechen, weil das Publikum so entfesselt hüpfte und tanzte und der Boden bebte. Was ich dabei gelernt habe, ist, zu sagen, was einen so bewegt bzw. so nicht bewegt, sondern so lähmt. MM hätte mir gleich gesagt, dass wir nicht über einer Tiefgarage stehen. Aber dieses Problem scheint Teresa mit ihren Panikanfällen ohnehin schon gelöst zu haben. Letztens war sie morgens aufgewacht, erzählt sie, sie verstand gar nicht, warum es ihr nicht gut ging, sie hatte gut geschlafen, aber nun hatte sie ein Gefühl der Leere, im Kopf, im Magen. Sie bat ihren Mann, zu Hause zu bleiben, oder ihren Sohn, wenn möglich. Ich finde das gut und tüchtig von ihr. Sie sagt: "Ich musste nämlich zum Friseur und ich dachte, was mach ich, wenn es mir im öffentlichen Autobus plötzlich schlecht geht". "Ja", sage ich und stelle mir vor, wie schrecklich es ist, wenn es einem in öffentlichen Verkehrsmitteln schlecht geht. Sie sagt, sie hätte eine Pille genommen. Ich sage: "Klar, dafür sind sie ja da." Dann hätte ihr Sohn sie mit dem Auto zum Friseur gebracht. Tatsächlich hat sie eine makellose jugendlich-sportliche Frisur und ich fühle mich alt und schlaff mit meinen Zotteln, da ich doch seit mehreren Jahren aus Gründen, die als Trauma zu bezeichnen sind, eine Friseurin an meinen Haaren nichts anderes habe machen lassen, als die Spitzen zu schneiden. Und dann - unter der Trockenhaube sei es ihr plötzlich wieder ganz anders geworden. "Es ist die Trockenhaube!" rufe ich aufgeregt. "Aber nein," sagt sie ruhig, "es kommt einfach so, man weiß nicht wann und wie."
Heute ist das Kind nicht bei mir, er hätte sicher eine abschließende Antwort gewusst, so verbleiben wir in der Gewissheit, dass wir beide nicht wissen, wann und wie es passiert, aber die Lösung in der Vermeidung von Trockenhauben zu suchen, ist auf jeden Fall zu kurz angelegt.
Mit einem Sack grüne Bohnen in einer Hand und einem Sack Zwiebeln in der anderen eile ich nach Hause, wo meine Kinder das neue Kajak ins Auto bugsieren und sich dabei mit allen Schimpfwörtern bedenken, die ich, wie bekannt ist, nicht mag. Wahrscheinlich dauert es deshalb ein paar Stunden, bis ich mich wieder mit Teresa und ihrem Wohlbefinden beschäftigen kann. Und dann denke ich, dass ich den Friseurbesuch abgesagt hätte.
Um aber wieder zum Garten und dem chinesischen Sprichwort zurückzukommen: Wenn man unter Glück versteht, dass MM im Gurkenbeet sitzt und langsam Unkraut ausrupft, während hinter ihm seine beiden großen Söhne mit Schilfrohrstäben selbst kreierte Martial Arts Kämpfe ausführen und ich in der Küche die weißen Wände mit den Weichseln so anspritze, dass sie blau werden und ich mir überlege, ob ich die Küche nun in diesem graublau streichen soll, dann ja, dann macht ein Garten wirklich glücklich.

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