Dienstag, 19. Juni 2012

Maulbeeren


Die Pflaumen sind reif, mehr als das, es gibt eine Explosion an reifen Pflaumen. Wir haben drei Bäume und sie tun so, als wären sie zehn. Ich sage zu meinem großen Sohn: Mach mir in zehn Minuten einen Kaffee, ich gehe Pflaumen ernten. Nach 15 Minuten komme ich mit einem vollen Korb wieder und das mache ich mehrmals täglich. Der arme Heranwachsende muss sich dann mit seinen Kopfhörern und vorgebeugten Schultern in die Küche schleppen. Aber ich will meinen pubertierenden Kindern nicht Unrecht tun, denn für mehr Minuten Computerspiel pro Tag sind sie auch bereit, ihre Seele zu verkaufen und im Garten zu arbeiten. Sie schneiden alleine das Gras auf einem unbebauten Stück im Garten, während das Kind seine letzten Tanzstunden absolviert (bereits mit reduziertem Personal und zusammengestückelten Gruppen, das bringt ihn in den Genuss des Zusammenseins mit zwei wunderbaren grazilen Tänzerinnen, die ein paar Jahre älter sind als er und die Beine ein bisschen höher heben können als er, was ihn illuminiert).
Die Pflaumen muss ich an die Nachbarn verteilen, nachdem ich bereits einmal Marmelade eingekocht habe, meine Schwiegermutter beglückt habe und meine Familie täglich ein Kilo Pflaumen essen muss. Teresa ist nicht zu Hause, also gehe ich zu den unteren Nachbarn und freue mich, den Sohn, den Studenten anzutreffen. Der Opa sitzt auch vor dem Fernseher, er hat geschwollene Beine und ist vor dem Fernseher geparkt, seine sehr schwerhörige und mit mehreren Bypässen ausgestattete Frau darf noch im Garten herumgraben. Der Sohn des Opas, der Vater des Studenten, steht mit den Ziegen im letzten Sonnenschein.
Der Student beeilt sich, mir einen Kaffee zu kochen und das Kind mit Süßigkeiten abzufüllen. Die Mutter des Studenten arbeitet als Haushälterin bei den Eltern von Schulkollegen aller meine Kinder, was mir sehr unangenehm ist, ihnen aber glaub ich noch mehr. Ich weiß, dass die Signora, Mutter der Schulkollegen, nie, aber wirklich nie, nicht einmal eine Waschmaschine anwirft, aber die Signora behandelt mich so säuerlich als wüßte ich noch viel mehr. Die Mutter des Studenten ist noch nicht zu Hause, obwohl es schon sieben ist und sie wird so schnell auch nicht kommen, denn nach ihrer Arbeit bei der Signora (von acht bis sechs) geht sie zu ihrer Schwägerin ins Spital. Die Schwägerin hat eine Risikoschwangerschaft und die Mutter des Studenten gibt der Schwägerin zu essen. Ich glaube zwar, dass selbst Risikoschwangere alleine essen könne, aber da ich auch erlebt habe, dass im Spital immer ein Teil der Familie beim Essen anwesend sein muss und eine Flasche Wein kredenzt wird, nehme ich an, dass die Schwangere nicht gefüttert, aber doch aufgepäppelt wird. Außerdem ist der Vater des Arbeitgebers gestürzt und hat sich die Hüfte gebrochen und ja, der Sohn geht ihn zwar besuchen, aber naja, alles in allem ist es besser, wenn sie, die Haushälterin ihn besucht. Der Arbeitgeber ist ein Rechtsanwalt mit dicken Lippen, die aussehen, als hätte er Botox gespritzt, der Arme. Möglicherweise verteidigt er gratis Mittellose, seine verschiedenen Autos deuten auf anderes hin. Mein Freund ist er nicht und es ist unwahrscheinlich, dass er es je wird. Ich verstehe, dass sein Vater den Besuch meiner netten Nachbarin dem seines Sohnes vorzieht.
"Ich leer die Schüssel mit den Pflaumen aus und du nimmst dir dafür ein paar Maulbeeren mit." sagt der Student und ergänzt, dass sie mich schon lange einladen wollten, die Maulbeeren aufzuklauben, die unter dem Haus in das aufgelegte Olivennetz fallen. Man geht an den Hühnern vorbei, an den Ziegen, an den Schweinen. Die Schweine sind ganz schwarz, denn es ist so heiß, dass sie mit dem Schlauch abgespritzt werden und dann wälzen sie sich glücklich im Schlamm. Glücklich wirkt auch der Maulbeerbaum, unter dessen Krone man jede Art von Liebeserklärung tun könnte, angemessen weit von den zufrieden vor sich hin stinkenden Schweinen entfernt. Gelsi, wie die Maulbeerbäume hier heißen, wurden eigentlich wegen den Seidenraupen gezüchtet und die an Engerlinge erinnernden weißen Früchte mag man entweder gar nicht oder man entwickelt ein Suchtverhalten nach ihnen. Der Student mag sie gar nicht, mein kaffeekochender Heranwachsender kann an ihnen sein Bedürfnis zur Maßlosigkeit zum Ausdruck bringen. Beim Sammeln der kleinen dicken Würmer fragt der Student den kleinen Sohn nach seinem Zeugnis, das Kind denkt aber nur an Schweine und Kaninchen und freut sich über die herabfallenden Früchte. Die Oma des Studenten ist angeblich gar nicht zur Schule gegangen, bzw. hat sie ein paar Mal die zweite Volksschulklasse gemacht. Die Mutter des Studenten hat dann fünf Volksschulklassen absolviert, mehr nicht, denn Mädchen sollten danach nicht mehr zur Schule gehen. Das Mädchen Mutter hätte mit dem Autobus fahren müssen und sie hatte zwei kleine Brüder zu versorgen. Sie ist aber keine Überlebende aus dem vorletzten Jahrhundert, sondern eine Frau in meinem Alter. Sie hat auf der anderen Seite des Hügels gewohnt und sie hat ihren Kusin geheiratet. Ihre Schwiegermutter ist die Schwester ihrer Mutter. Vor längerer Zeit, als wir hier eingezogen waren, vertraute sie mir an, dass ihr Cholesterinspiegel zu hoch sei und das sei wohl auf Stress zurückzuführen, denn "man hat einfach immer diese Gedanken, immer Gedanken." Ich habe das damals nicht verstanden. Heute verstehe ich es ein bisschen besser.

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