Samstag, 18. Mai 2024

Simone und Stiller

In der Wohnung über der Wohnung in der großen Stadt wohnt ein komischer Mann, der ein billiges Parfüm benutzt. Man kann es lange im ganzen Haus nachriechen, nachdem er durchgegangen ist. Er scheint auch ein komisches Klo bei sich eingebaut zu haben, denn in meiner Wohnung, die unter seiner liegt, waren plötzlich Wasserflecken an der Decke.

Sechseinhalb Monate später. Die Installateure, die den Schaden behoben haben, malen jenen Teil im Vorzimmer aus, von dem der Putz blättert. Zu diesem Zweck heben sie alle Schchteln, die sich auf dem Regal, das bis zur Decke geht, herunter und ich schlichte sie im Wohnzimmer. Ich will sowieso alles durchsehen, ich will (zum letzten Mal!!) in meinen Sachen Ordnung schaffen. Ich will nicht, dass meine Nachkommen alles ungesehen wegwerfen.

Jetzt. Am Anfang ist es lustig. Eine Drehbuchseite, eine einzelne zwischen Ordnern. Karin und Klaus kommen mit Stiller aus einem Zimmer, Simone wartet davor. Alle vier gehen auseinander. Stiller sieht Simone an, aber Simone sieht Stiller nicht an. (Kein Wunder, wenn alle vier auseinandergehen). Das scheint das Ende eines Fernsehfilms zu sein, bei dem ich Geld verdient habe (aber nicht, weil ich diese denkwürdige Schlussszene, die sich wohl unausweichlich aus den vorhergegangenen Filmminuten ergeben musste, geschrieben habe). Sofort bin ich begeistert. Simone und Stiller. Daraus lässt sich etwas machen. Hat nicht Max Frisch einen Roman names „Stiller“ geschrieben? Würde der Mann meiner Träume nicht auch „Stiller“ heißen? Wäre es sowieso nicht der Traum schlechthin, wenn alle  stiller wären?

Dann. Filmrollen, Dias, Tonbänder, Papier, Papier, Papier. Minuziöse Arbeiten meiner Freundinnen und Kolleginnen, die ich nie im Leben wegwerfen würde. Fotos, Briefe. Anfangs denke ich: das muss ich X schicken, ich möchte wieder mit Y reden. Ich mache weiter. Eine Liebeserklärung auf Zeitungspapier, von jemandem, dessen Name ich kaum entziffern kann. Insgeheim hoffe ich darauf, eine Liebeserklärung von Edi Rama, dem jetzigen Ministerpräsidenten Albaniens zu finden, mit der im Gepäck ich ihn dann zu seinen Plänen mit La Meloni angreife, wobei mich meine Freundin mit dem Handy filmen wird. Aber er hat mir keine Liebeserklärung gemacht, wir waren nur Freunde. Und um jemanden zu fragen, ob er verrückt ist und warum er all seine Prinzipien vergisst, braucht man kein ehemaliges Liebensverhältnis. Man glaubt nur, Liebe würden einen zu allem berechtigen. Aber seit meinem letzten Geburtstag ermächtige ich mich täglich selbst. Because I know!

Eigentlich geht es ja um Ausmisten. Aber offenbar habe ich den Gedanken noch nicht aufgegeben, dass jemand meinen Nachlass verwalten will und ich beschrifte daher die neuen Schachteln, in die ich die alten Papiere lege, möglichst genau. Es ist nämlich mein Leben, das in diesen Schachteln liegt. Erstaunlicherweise interessieren mich heute dieselben Dinge wie vor 30 Jahren. Ich habe einmal zum Thema „Sicherheit“ recherchiert. In dem dazugehörigen Karton findet sich ein Zettel mit dem Logo von „Blausiegel“, einer Kondommarke. Ich bin überrascht, wie weit ich den Suchbegriff damals angenommen habe. Es gibt einen kleinen Abschnitt namens „Klimatologie“. Die Recherche fand Ende der 1980er Jahre statt. Ich muss den Karton schnell wieder schließen. Ich will nicht, dass meine Begeisterung über die wiedergefundene Struktur meines Lebens sich auflöst in einem depressiven „Ich bin ein Boomer und an allem schuld“. Nein, bin ich nicht. Ich wusste schon 1982 dass Plastikflaschen Scheiße sind. Ich habe auch damals Dessouswerbung Scheiße gefunden und ich finde es interessant, die Veränderung des Blicks auf die Frau in der Unterwäschewerbung festzustellen. Damals natürlich dem Ideal entsprechend. Heute dick oder alt. Bitte nicht beides. „Sexy, not sorry“. Ist gelogen.

Aber ich schweife ab. Der Wust an Ordnern löst sich zusehends auf. Ich kann nämlich doch etwas wegwerfen: Kontoauszüge, Versicherungsurkunden für Autos, die ich nicht mehr habe, und sogar eine ganze Schachtel mit Bildern eines Filmkalenders. Nein, ich werde keine Collage draus machen.  
Ich habe mich ein wenig im Verdacht, dass ich eigentlich eine Schachtelfetischistin bin und ich bemühe mich, die Regalwand, die bald hinter einer Jalousie verschwinden wird, mit gleichförmigen und gleichfarbigen Schachteln zu gestalten.

Wenn ich auf der Leiter stehe, bin ich fröhlich und all die Erinnerungsstücke, deren physischer Realität mit dem Erwerb meines ersten Computers ein Ende gesetzt wurde, treiben in meinem Kopf ein leichtfüßiges Unwesen. Ich denke nicht daran, dass die Leute, deren Zeichen in den Kartons liegen, alles alte Leute, so wie ich, sind.  

Was würde auf der letzten Drehbuchseite eines guten Fernsehfilms stehen? Kann es denn gute Fernsehfilme geben? Ich glaube, das Auseinandergehen und das sich keines Blickes würdigen ist so fad. Sicherlich hat Stiller Simone enttäuscht, sonst würde sie ihn ja ansehen. Vielleicht ist es aber auch umgekehrt. Klaus könnte zu Karin sagen: „Ich habe noch zwei Zucchini und zwei Melanzani im Gemüsefach. Die sind schon etwas labbrig und gehören dringend weg. Kommst du mit kochen?“
Simone lassen wir gehen. Sie kauft sich ein Eis.
Stiller bleibt dann allein zurück, so wie es der (mir momentan unbekannte) Autor wollte. Jetzt wird es ein bisschen problematisch, weil die Männer in den Fernsehfilmen nie was dabei haben. Was kann er also tun, auf diesem Gang, vermutlich eine Polizeistation. Er hat kein Taschenmesser, kein Schneuztuch, wahrscheinlich nicht einmal eine Geldbörse. Er kann sein Mobiltelefon aus der Tasche nehmen, aber das ist mir zu langweilig.
Am liebsten wäre es mir, er würde eine etwas vernachlässigte Topfpflanze, die auf dem Gang steht, nehmen und ins Klo tragen, um sie zu gießen. Dabei würden einige Blätter abfallen. Das geht. Man kann die Blätter vorher von wo anders nehmen und ankleben, man muss die Pflanze nicht quälen. Würde die Redaktion kritisieren, dass es zu viele welke Pflanzen in den letzten Filmminuten gibt?

Ich koche mir jetzt einen Kaffee, das kann Stiller auch nicht tun, nicht in der Polizeistaton, dort gibt es immer nur schreckliche Automaten, zumindest in Filmen.
 

Wenn ich mit dem Aufräumen fertig bin, werde ich Stiller ein Ende schreiben, eines, in dem auch er zu einem Kaffee kommt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen