Das Kind und ich warten darauf, dass
die großen Jungs ihre Proben für die Weihnachtsaufführung
absolvieren. Wir stehen in der Aula der Schule. Auf dem Boden wälzen
sich zwanzig bis dreißig Mädchen ohne Musik, erst am Ende ihrer
ungelenk wirkenden Bewegungen wird kurz die Musik eingespielt. Ein Musical , „Canto di natale“, „A Christmas
Tale“ von Charles Dickens, das ich letztes Jahr nach Weihnachten
mit großem Vergnügen gelesen habe. Das Kind schwitzt in der Hand,
in der es seine nicht fertig gegessenen, ekelhaft schmeckenden, aber
süchtig machenden Käseflips oder -flops verkrampft hält. Wir
leiden. Ich starre die Verlobte aus dem Vorjahr an. Nie hat man
erfahren, warum diese wunderbare pathetische und sehr theoretische
Liebesgeschichte zwischen ihr und dem Rallyefahrer geendet hat, und er
wird sehr unwirsch, wenn man darüber sprechen möchte. In
Wirklichkeit ist es auch ganz egal, mir zumindest, ich denke nur
manchmal, man müsste sich am Seelenleben seiner Kinder interessiert
zeigen, was ganz und gar nicht zutrifft. Die großen Jungs sind in
einem Zimmer versteckt und ab und zu kommt einer von ihnen extrem
lässig und doch unlocker durch die Aula auf mich zugestapft, um
Fluchtpläne zu besprechen. Erst der Rallyefahrer, der zum Fußball
muss, dann der große Sohn, den die Panik befällt, ich könne ihn
vergessen, während ich den Rallyefahrer zum Fußball bringe. Ich
gebe ihnen das Kind mit. Der Rallyefahrer öffnet die Tür des
Zimmers und schaut heraus, als wäre er der Direktor dieser Schule
und ich eine wartende Bittstellerin. „Eine Minute!“ deutet er
mir. Ich habe also die Freundlichkeit, zu warten. Das Kind hoffe ich,
amüsiert sich in dem Zimmerchen bei den geheimen Proben mehr, als
bei der Ansicht dieser traurigen stummen Ballettaufführung.
Die Musiklehrerin
kommt an mir vorbei und sie sagt: „Complimenti!“ Einen Moment
lang finde ich das ganz normal. Ich nehme an, sie macht mir
Komplimente für mein Leben, dafür, dass ich Managerin dieser drei
wunderbar aktiven Kinder bin und meine Nachmittage im Auto verbringe,
ohne dabei zu schreien, dafür, dass ich einen Ofen beheize, weil uns
das Geld für die Heizung ausgegangen ist, dafür, dass ich es in
neun von zehn Fällen schaffe, die Kinder mit einem gewaschenen Dress
zu ihrem Sport schicke, auch wenn sie dieses vorher föhnen mussten.
Dafür, dass meine Kinder in neun von zehn Fällen ihre Hausübungen
machen, also sagen wir mal, beim Rallyefahrer in fünf von zehn
Fällen, aber dafür hat er andere Qualitäten. Seine
Italienischprofessorin findet ihn sympathisch, zum Beispiel. Mir
kommt das also nicht komisch vor, dass die Musikprofessorin mir
„Complimenti!“ zuraunt und ich lächle freundlich. „Ihre Kinder
singen wirklich gut!“ „Aber dann gilt das Kompliment ihnen!“
sage ich. Ich bin enttäuscht, aber ich muss ehrlich zugeben, dass
wenn meine Kinder gut tanzen, singen und zeichnen, dann hat das ganz
und gar nichts mit mir zu tun, wenn man von meiner Güte absieht, sie
das machen zu lassen und wenn es sein muss, ausgiebig, denn ich
selbst kann weder das eine noch das andere und zeichnen schon gar
nicht. Außerdem muss man ihr überhaupt Komplimente machen, dass sie
diese beiden Jungs dazu gebracht hat, den Mund aufzuklappen, und in
ein Mikrofon zu röhren, denn sie sind ja dem Leben gegenüber
verpflichtet, aus ihrem Mund ausschließlich das Wort „Nichts“
herauszuquetschen. Zumindest zu Hause, auswärts bereichern sie ihren
Wortschatz eventuell mit Schimpfwörtern. Manchmal vergessen sie auch
kurzzeitig, dass sie pubertieren und sind ganz nett. Diese
Musikprofessorin also, hat bereits letztes Jahr den Rallyefahrer zu
ekstatischem Flötespiel animiert, was mich lange Zeit denken ließ, sie müsse die Doppelgängerin der wohlgeformten Blonden
aus CSI Miami, die mit dem milden Blick und dem ironischen Lächeln, sein.
Weit gefehlt. Die Musiklehrerin schaut aus wie die
Hexe aus dem Märchenbuch, sie hat zwar keinen Buckel, aber eine
Warze auf der Nase. Ok, die Zähne sind ein wenig besser erhalten.
Man muss aber gar nicht an eine Hexe denken, denn sie strahlt Energie
und etwas aus, das man schwer benennen kann, vielleicht ist es
Präsenz, vielleicht Engagement, Interesse, hm, möglichweise sogar
Liebe. Sie lacht viel und hat dabei etwas verschwörerisches.
Irgendwie hat sie es geschafft, sich mit meinen Kindern zu
verbrüdern, die ihr zuliebe jetzt das Gespenst aus der Zukunft und
aus der Vergangenheit singen. „Attento Scrooge!“
„Wir haben sie so
bearbeiten müssen!“ sagt sie lachend und legt dem großen Sohn die Hand
auf den Arm. „Das denk ich mir!“ sage ich, und frag mich, was
hier vor sich geht. Eine andere energische Musiklehrerin mischt sich
ein und erklärt mir, dass es ihnen vor allem darum ginge, die
Jugendlichen, die besonders reserviert seien, dazu zu bringen, sich
zu öffnen. Ohje, ich dachte, sie können singen? Offenbar hätten
die Knaben dann eine Kommission (ich will jetzt aber nicht wissen, ob
die Schulwarte in der Kommission waren, oder kompetentes Personal)
beeindruckt. Was mich beeindruckt, ist, dass mein großer Sohn, der
wirklich nicht für seine spontane Art bekannt ist, ein bezauberndes
Lächeln im Gesicht hat, während die Hand der Lehrerin auf seinem
Arm ruht. Und da beginne ich das Geheimnis der als Hexe verkleideten
Fee zu erkennen. Sie hat die Kinder einfach ernst genommen. Nicht
mehr und nicht weniger. Tutto qua.
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