Mittwoch, 15. Mai 2013

Forever young


Ich bringe die Jugendlichen zur Probe des Orchesters, dorthin, wo der begnadete Dirigent wirkt, der leider so nach Zigarren stinkt. Aber daran denke ich nicht, als ich den Hügel hinunter zum Meer fahre. Ich höre Radio und da ist ein Lied, das ich schon lange kenne: Forever young. Der Name der Gruppe fällt mir nicht ein, aber sie singen auch ein anderes Lied mit dem Titel "Big in Japan". Das Lied ist aus den 1980er Jahren. Ich kenne das Lied auswendig. Ich drehe lauter. Die Jugendlichen schweigen beschämt. Schon wieder einer der peinlichen Ausfälle der Mutter. Mit laut schmetterndem Radio Auto fahren. Oh nein, bitte nicht.
"Let us die young or let us live forever, we don't have the power but we never say never." Ein Schock breitet sich in mir aus: Es ist zu spät. Ich kann nicht mehr um die Gnade eines frühen Tods bitten, ich bin nicht mehr jung. Janis Joplin und Jimi Hendrix waren halb so alt wie ich, als sie gestorben sind. Mir wird heiß. Was hab ich in den letzten 25 Jahren gemacht und wieso kann ich nicht mehr sagen: Love hard, live fast, die young? Ich bin überrascht. Dass mir das erst jetzt auffällt!
Eine Gnade ist mir doch zuteil geworden, wenn man es als solche bezeichnen kann: abgrundtiefe Naivität. Ich glaube immer noch, dass alles möglich ist und sich das Genie in mir doch noch ausdrücken wird können. Manches, was möglich oder auch nicht ist, interessiert mich eh nicht mehr. "But we never say never."
Mit der 1980er Boygroup im Ohr stürze ich in die Orchesterprobe und klopfe inmitten der Kakophonie dem Schlagzeug-Prof. gegenüber deutlich auf die Uhr. Mein Ziel ist, zu signalisieren, dass ich echt keine Zeit habe und das gelingt mir ganz gut. Ich muss meine Kinder kaum mehr wohin verfrachten, das machen jetzt immer die Profs selber, weil ich eine Art Girlande der Hysterie und Gereiztheit um mich geworfen habe, die kaum jemand zu ignorieren wagt. Ich schwebe wieder weg, die Girlande wippt leicht, wie blasierte Kusshände, um mich. Weder der Dirigent, noch der Schlagzeuglehrer, noch der Schulwart werden in diesem Leben meine Geliebten sein und darüber bin ich sehr froh, denn als ich dem frühen Tod entgegeneilte hätte ich das auch noch unterbringen müssen und heute habe ich Zeit, "Krieg und Frieden", wenn schon nicht zu lesen, dann doch immerhin zu hören. Das hätte ich nicht gekonnt, wenn ich jung gestorben wäre.
Aber jetzt habe ich Angst, dass ich für immer leben muss.
Meine Mutter sagt: "So wie die Buben manchmal Fieber bekommen und danach gewachsen sind, geht es mir manchmal schlecht und ich entwickle mich rückwärts. Ich bin jetzt alt und hässlich." "Aber nein, hässlich bist du nicht." sage ich automatisch. "Doch", sagt meine Mutter.
"Let us die young or let us live forever." Ein Fluch, anyway.

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