Samstag, 6. Februar 2010

Into the Wild

Trotz enormer Müdigkeit bin ich auch heute um sechs Uhr aufgestanden, da der Wecker um halb sechs Uhr läutete, und bin mit Kind und MM zur Baustelle gefahren, obwohl keine organisatorische Notwendigkeit bestand. Es tat gut, an einem Samstag dort zu sein, mit nur zwei Installateuren am Hämmern und dem Allroundstar aus der Nachbarschaft, der seit Tagen die Olivenbäume stutzt. Ich schwanke zwischen Verzweiflung und Enthusiasmus und MM versteht die Verzweiflung nicht. Er, der fast täglich hier troubles shootet, erwartet keine Verzweiflung von mir. Aber die unglaubliche Menge an Unfertigem, die immer noch große Menge an Schutt, die offen liegenden Schläuche überall, lassen eher verzweifeln als hoffen. Gleichzeitig sind aber echte Verbesserungen zu sehen. Auf dem Dach gab es bisher ein Mäuerchen, das jetzt weg ist, was dem Haus Größe verleiht und dem Auge Freiheit gibt. Die Treppe ist fertig ausgeglichen und es ist wirklich erstaunlich, wie leichtfüßig man jetzt auf ihr hochlaufen kann. In der ungeliebten Küche wurde auch eine Mauer umgerissen, was immer einen erstaunlichen Effekt hat, weil die Mauern einen Meter dick sind, und die Küche wirkt leichter, fröhlicher, und ich kann mir zum ersten Mal vorstellen, darin etwas buntes zu kochen.

Dann fahren wir in einen kleinen Weiler, ein paar Minuten entfernt, in dem der Mann wohnt, der im Sommer unseren Garten mit seinem Traktor umgegraben hat, und dem wir noch von damals Geld schulden. Seit kein Klo mehr in unserem Haus ist, habe ich die Natur der Umgebung studiert, und zu meinem Entstetzen festgestellt, dass alles, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so wirkt, bewirtschaftetes Land ist. Und dass überall Menschen wohnen. In Wirklichkeit teilen wir "the middle of nowhere" mit ziemlich vielen Leuten. Heute habe ich mein Paradies gefunden: nur ein wenig höher als unser Haus gelegen führt ein Sträßlein zu eben diesem Weiler, mitten durch die Natur, in die ich glaubte, gezogen zu sein, die sich dann eben voller Nachbarn entpuppte. Dort oben ist nichts außer Ginster, Felsen, Wasserfällen, Eichen und mickrigeren Bäumen, von Erdrutschen in Mitleidenschaft gezogenen Straßen, zum Teil ungepflastert, einem Steinbruch und herzigen wilden Blumen. Es gibt eine Quelle, die ein wenig oberhalb der Straße liegt, zu der man hochsteigt wie zu einem buddhistischen Tempel, unten an der Straße stehen Weiden und prall gefüllte Orangen- und Mandarinenbäume. Das ist die Oase in diesem von Gott und den Menschen verlassenen Abschnitt. Der Weiler, in dem noch drei Häuser bewohnt werden, heißt auf Deutsch "Verteidigung". Die 4x4 Pandas, mit denen hier alle fahren, haben extremes Profil an den Reifen, die Schuhe des Kindes vor dem Haus, das wir suchen, sind schlammig, es fährt stolz mit einem kleinen Fahrrad, das noch aus der Zeit seines Vaters zu stammen scheint. Die Mutter des Mannes erzählt uns, dass sie die Ofenrohre des Holzherdes putzt, was sie einmal im Monat tun muss, da die Rohre Kurven machten und sich dort Schmutz ablagert. Der Mann selbst ist "etwas erledigen", und seine Frau weiß nicht, ob er (mittags, nehme ich an) nach Hause komme. Obwohl es ganz ungewöhnlich ist, dass dieser Mann nicht erreichbar ist, da in Italien doch immer alle höchst wichtig an ihren zahlreichen Mobiltelefonen zu Gange sind, passt hier alles zusammen. Wir sind nur zehn oder fünfzehn Minuten von der Staatsstraße und gleichzeitig etwa fünfzig Jahre von dem raschen Leben dort entfernt.
An den Fenstern hängen getrocknete Paprikaschoten, ein freundlicher Sonnenschein versucht die seit Tagen aufgeweichte Erde zu trocknen. Der Wortoutput der Italiener sinkt mit steigenden Höhenmetern. Während in den Städten alle dauernd reden, wird in Hügelhöhe nur noch anfallsartig losgekreischt. Hier, wo man durchaus von Bergen reden kann, werden wir nicht zugetextet, sondern zuerst mißtrauisch begutachtet und dann interessiert eingeladen.

Unser Obermaurer stammt, glaube ich, aus diesem Weiler. Als er einen Lokalaugenschein für seinen Kostenvoranschlag in unserem Haus vornahm, habe ich ihn erst für einen Zeugen Jehovas gehalten. Später habe ich erfahren, dass er tatsächlich als Kind in einer Klosterschule war und Priester hätte werden sollen. Aber dann ist er Maurer geworden. Es müssen die Steine sein. Entweder man hasst sie, oder man liebt sie. Ich weiß aber nicht, ob ihm das klar ist, dass er Steine liebt.

Ich jedenfalls fühle mich besser aufgehoben. Ich mag es, wenn nicht offensichtlich alles zugeordent ist. Früher, als ich Gegenden bereiste, die ich gerne zu meiner Heimat gemacht hätte, wenn auch nur vorübergehend, habe ich mir immer die Frage gestellt, ob das Land den Menschen gehört, die es besitzen, oder denen, die es lieben. Ich weiß, nicht zuletzt aufgrund eines gescheiterten Kaufvertrags, dass alles besessen und alles aufgeteilt ist. Aber heute fühle ich seit langer Zeit wieder die Freiheit, ein Stück Land zu lieben und es als mir zugehörig zu empfinden.

P.S.: Manches wird aber erstaunlicherweise nicht besessen: in der Nähe unseres Hauses gibt es ein altes kleines Haus mit vermutlich umwerfendem Meerblick, das zwei Schwestern, zwei Lehrerinnen gehört hat, die beide seit etwa zwanzig Jahren gestorben sind. Heute weiß man nicht, zumindest erzählen das die Nachbarn, wem das Haus gehört, man kann es also weder kaufen noch verkaufen. Leider ist vor kurzem das Dach eingestürzt. Sicherlich gehört das Haus jemandem, es kümmert sich einfach niemand darum.

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