Dienstag, 18. Oktober 2011

Worin ich feststelle, dass ich mich identifiziere

Ich habe so lange nichts geschrieben und ich weiß jetzt warum. Meine Nachbarin Teresa hat mir zu dieser Erkenntnis verholfen. Als sie mir einen Plastiksack mit den letzten Tomaten und den ersten Kaki zum Fenster bringt, erzählt sie mir, wie ihre junge angeheiratete Nichte das Auto mit der Hilfe des kleinen Neffen (des Bruders ihres Ehemanns) eingeräumt hat und schlussendlich ihre kleine, ein paar Monate alte Tochter ebenfalls im Auto verstaut hat. Und die Autotür zugeworfen hat.
Das Auto war verschlossen, der Schlüssel im Auto. Die Tochter im Auto. Nun kommen alle meine wunderbaren Nachbarn zum Einsatz, der Schwiegervater, Teresas Bruder, der alles erfährt und mit einem großen Eisen den Kofferraum aufbrechen will, der Neffe, der alles erzählt, die weinende junge Mutter, die weinende Teresa, Teresas Ehemann, der sagt, die Frauen sollen zu heulen aufhören, sonst beunruhigt sich das Kind, sowie das Kind, das offenbar noch nicht beunruhigt ist. Die Mutter der jungen Mutter hat einen zweiten Autoschlüssel, sie wird angerufen und soll sofort kommen, aber wenn sie nicht rechtzeitig kommt, wird der Schwiegervater mit seinem Eisen den Kofferraum aufbrechen. Nach einer halben Stunde kommt der Vater der jungen Mutter mit dem Schlüssel, wer weiß wie viele Tränen da bereits geflossen sind. Der Vater heißt seine Tochter Idiotin ("Cretina!"), noch mehr Tränen und das Auto wird aufgesperrt und das Kind befreit.
Mit der Hand auf dem Herzen und einem gewollt idiotischen Gesichtsausdruck (der sagen will: ich hätte auch geweint, wäre ich dabei gewesen!) höre ich die Geschichte, die damit endet, dass Teresa mir gesteht, sie hätte die ganze Nacht nicht schlafen können, weil sie sich wie das Kind gefühlt hätte und ihr eng um die Brust gewesen wäre.

Später fällt es mir wie Schuppen von den Augen: ich bin auch drei Kinder und in der Nacht kann ich auch nicht mehr schlafen. Am 12. September hat die Schule begonnen und ich muss nun geometrisch zeichnen, muss lernen was die "geometria euclidica" ist (wobei mir auch sehr eng um die Brust wird), kann Geografie von Ökologie unterscheiden, schreibe Reime und lerne Zungenbrecher auswendig. Ich habe jetzt auch Französisch in der Schule, lerne Schlagzeug und in meiner Freizeit gehe ich in Tanz: modern, klassisch, break. Ich habe große Probleme mit der Orthografie, schreibe aber tapfer Zusammenfassungen von kurzen Geschichten. Ich spiele Flöte im Musikunterricht und weigere mich, eine Poesie von Carducci auswendig zu lernen, weil ich glaube, sie ist im Dialekt geschrieben. Die Prof hat meine Mutter in die Schule bestellt und gesagt, meine Reime machen keinen Sinn. Meine Mutter schreibt mir neue Reime. Ich bekomme eine Eintragung, weil ich Biologie nicht gelernt habe, ich habe nämlich mein Buch in der Schule vergessen. Meine Mutter regt sich nicht auf, aber sie sagt, ohne meine Lehrerin würde es ihr besser gehen. Die Mädchen in meiner Klasse fragen mich, ob ich auf facebook bin, aber bei uns benutzt meine Mutter das Internet zur Arbeit. Wir schauen uns Inhaltsangaben vom Film Hachiko im Internet an und schreiben die kürzeste ab, obwohl meine Mutter sagt, das sind keine Inhaltsangaben, sondern (sicher wollte sie Scheiße sagen). Ein Klassenkollege sagt, ich bin häßlich. In Religion müssen wir zehn Mal schreiben: "Der Respekt ist eine wichtige Sache", dabei hat uns die Mutter vom Religionsunterricht abgemeldet, nur weiß die Schule nicht, was sie mit uns in der Zeit machen soll. Mir ist das egal, aber meine Mutter tobt, weil ich zwei Orthografiefehler in diesem Satz habe und meine Mutter sagt, die depperte Religionslehrerin soll sich wenigstens anschauen, wie ich schreibe.

Ich fühle mich wie die Kinder und es ist mir eng um die Brust. Vielleicht brauche ich einen Psychiater, aber ich denke, eine Haushaltshilfe könnte mir auch einiges geben. Vor geraumer Zeit meinte ich, ein platonischer Geliebter, der mich immer dann anrufe, wenn ich Lob bräuchte, würde mein Leben zum besseren wenden, aber bei eingehender Betrachtung: wer sollte das sein, der dauernd Zeit zum telefonieren hat? Ein Mann, der permanent seine Arbeit unterbricht? Ein Arbeitsloser, der von der Pension seiner Oma lebt? Ein Schüler? (Please don't!)

Vor der Tür meines Arbeitszimmers sind Geräusche zu hören, ich glaube, jemand von den Nachbarn sammelt Eicheln für die Schweine. Ich öffne die Tür nicht, denn entweder es handelt sich um einen seine Arbeit unterbrechenden Mann, einen Arbeitslosen oder Schüler, der mir erzählen möchte, wie toll ich bin oder gar um eine Nachbarin mit einer neuen, Einsicht verleihenden Geschichte. Ich muss erst die letzte verarbeiten. Und ausnutzen, dass die Kinder bis zum späten Nachmittag in der Schule sind.

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