Donnerstag, 20. Oktober 2011

Etwas Kleines und sehr Schönes

Seit geraumer Zeit denke ich über das Nachbarkind nach. Und ich gebe zu, dass diese Gedanken mich irritieren. Ich weiß nicht, welche Faszination dieses Kind auf mich ausübt. Gefallen mir jetzt bereits bartlose 16-jährige? Es handelt sich eindeutig um ein Kind, das noch im Wachsen ist, dem Pickel sprießen und das beim Sprechen einen S-Fehler nicht verbergen kann. Auch mein Kind ist vom Nachbarkind begeistert: "Ich weiß nicht, aber der Typ gefällt mir!". Dem ist nichts hinzuzufügen, jetzt sind wir schon soweit, dass der Mutter und dem neunjährigen Kind dieselben jungen Männer gefallen.
Ich überprüfe mich: Als mir der Junge nahe kommt, weil er das, was ich ihm sagen will, aufgrund lauter Musik nicht verstehen kann, und er sein Ohr in Richtung meines Mundes bewegt, durchfährt kein inopportuner aufregender Schauer meinen Körper, ich begehre ihn also nicht. Was ist es aber dann, dieses Licht, das auf mich scheint?

Als ich in der Küche stehe und marinierte Paprikaschoten esse und dabei auf einer Ebene meines Gehirns über diese Speise nachdenke, nämlich dass MM die Paprikaschoten im Ofen gegart hat, um sie anschließend zu schälen und wie heldenhaft ich das finde und dass eigentlich Schafkäse passen würde, da kommt plötzlich von hinten eine Welle der Erkenntnis angerollt, in der geschrieben steht, dass es sich bei dem erstaunlichen Nachbarkind um einen Engel handeln muss.

Und zwar deshalb, weil er immer lächelt, wenn er mit jemandem zu tun hat. Weil er mit kleineren Kindern spielt. Weil er kleineren Kindern über die Wange streicht und Erwachsene mit ihrem Namen anspricht. Weil er Konversation betreibt (stotternd). Weil er mit weiblichen Wesen im Alter von 12 bis 82 tanzt, unermüdlich. Weil er immer dann und dort auftaucht, wo Hilfe gebraucht wird. Weil er oft Danke sagt und "Das macht nichts", wenn etwas nicht klappt. Weil er einen Glanz in den Augen hat, als würde er immer auf den Christbaum starren.

So wäre ich auch gerne.

Der Junge hat einen Zwillingsbruder, der so ist, wie man sich einen 15- oder 16jährigen vorstellt: rau, lässig, unfreundlich, stumm und ohne Sturzhelm. Die beiden schauen sich auch gar nicht ähnlich und ich finde ziemlich dämlich von mir, dass ich sie anfangs nicht unterscheiden konnte, aber "das machte nichts".
Schon bevor das Kind zu tanzen begann, erklärte mir der Nachbarjunge, eben auch ein Tänzer, dass es in Ordnung ist, dass männliche Wesen tanzen. (Mittlerweile versucht er sich nicht nur im modernen Tanz, sondern auch im klassischen Ballett und dazu hat ihn sicher das Beispiel unseres akklamierten unerschrockenen Neunjährigen gebracht). Jetzt schauen sich die beiden Eleven im Internet Tanzvideos an und unterhalten sich über die weiblichen Mitglieder ihrer jeweiligen Gruppen. Welche seiner Kolleginnen er schön fände, will der Große vom Kleinen wissen. Schön finde er keine, sagt der ehrlich, lieb seien sie aber.

Ich glaube, der Engel hat das Engelhafte von seiner Mutter, von der meine Freundin Teresa sagt: "...und sie beklagt sich nie!" Auch dieser Satz ist wie ein Mantra in meinen Gedanken.

So wäre ich auch gerne.

Ich bin leider nur sehr selten heilig, denn ich bin eher wie der unsympathische Zwillingsbruder. Aber ich habe mir vorgenommen, den beiden Jungs zu empfehlen, einen Sturzhelm auf ihrem knatternden kleinen Motorrad zu tragen, obwohl der Engel keinen bräuchte, der hat ja Flügel für den Notfall.

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