Mittwoch, 1. Juni 2011

Keine Rosen, nur Dornen

"Sie wird diesem Mann verzeihen, so wie sie Lorenzo verzeihen wird. Du kennst sie doch. Sie macht das nicht, weil sie so ein guter Mensch ist, sondern weil sie die Freiheit liebt. Der Groll ist wie eine Eisenkugel am Fuß, und sie ist eine, die rennen will." So oder so ähnlich schreibt Olivia Corio in dem Roman, den ich gerade fertig gelesen habe, er heißt "Colpiscimi", was ich jetzt gerade nicht übersetzen kann, da ich nämlich vom Groll übermannt bin. Könnte ich ihn ablegen, wäre ich weniger müde, davon bin ich überzeugt. Vielleicht bin ich nicht so freiheitsliebend wie Mariasole, die Heldin des Buchs, die 90% der Seiten im Koma verbringt. Meinen Groll hat Maria Assunta verursacht, die Tanzlehrerin des Kindes, von der ich noch bis gestern behauptet hätte, sie sei der ernsthafteste Mensch südlich von Bozen bis nach Tamanrasset. Jetzt möchte ich sagen, dass sie genauso ist, wie alle anderen und ich merke, dass mir die letzten Wochen geballten Italientums zugesetzt haben. Ich kann nicht mehr. Ich brauche eine Auszeit, ich brauche einen Kulturwechsel.
Ich muss hier die Schule anrufen, um zu erfahren, wann meine Kinder aus haben, später werde ich aber ohnehin angerufen, dass sie vier Stunden früher abzuholen sind. Das passiert zwei bis drei Mal pro Woche. Ich plane etwas, ich plane alle Eventualitäten ein, aber es gibt immer eine Variante, die ich nicht bedenken konnte. Ich breche meine Arbeit ab, bitte meine Schüler um Verzeihung, arbeite die verlorene Zeit später ein. Wir leben alle für den Tag, nicht für die nächste Woche. Was bei der Regierung beginnt, setzt sich bis zu meinem Mikrokosmus fort.
Eine beruhigende Ausnahme war die seriöse junge Tanzlehrerin, die immer gut vorbereitet ist und rechtzeitig höfliche Briefe schreibt.
Rückblende: Vor zwei Wochen kommt das Kind um fünf Uhr nachmittags nach Hause und sagt: Morgen musst du mich um elf Uhr zu einer Tanzprobe von der Schule aus bringen, wir tanzen Tarantella. Das sind die Sätze, die ich liebe. Ich greife nur nicht nach einem Maschinengewehr, weil ich immer daran denke, dass meine Freundin in der hochzivilisierten mitteleuropäischen Großstadt eines Tages von ihrer Tochter gesagt bekam, sie, die Tochter, müsse übermorgen in einem Leopardenkostüm in der Schule erscheinen, und das im Mai. Meine Freundin hat am nächsten Tag das Leopardenkostüm in einem Second Hand Shop gefunden, es schnell gewaschen und die Lehrerin gefragt, ob sie noch alle Tassen im Schrank hat. Die Lehrerin hat sich entschuldigt. Der Unterschied zu mir ist also nicht SO groß. Ich lebe in keiner Großstadt, habe immer nur bis morgen Zeit und die Lehrerinnen halten sich für völlig normal.
Aber da das Kind gerne tanzt, nehme ich mir am nächsten Tag um elf Uhr Zeit und gehe zur Schule. Ich erfahre, es handelt sich um Proben für eine festliche Aufführung anlässlich des hundertsten Jahrestags der Gründung des Ortskerns der Marina, nachdem die ursprüngliche Siedlung von einem Erdbeben zerstört worden war. Ich erfahre, dass ich das Kind drei Mal pro Woche zur Probe bringen soll, immer am Vormittag. Ich bin irgendwie erschlagen, aber auch enthusiastisch. Das Kind läuft aus der Klasse, gefolgt von seiner Freundin, einem Mädchen, dessen Beschäftigung es bereits mit 9 Jahren ist, sich in alles einzumischen. "Ich kann nicht zur Probe!" ruft das Kind, atemlos, sekundiert von der eifrigen Freundin, "Wir, die wir bei Maria Assunta sind, können nicht, wegen des Balletts!" Ich beruhige das Kind:"Jetzt bin ich schon mal da, gehen wir zur Probe und fragen später Maria Assunta, wo die Unvereinbarkeit liegt." Im Auto weint das Kind, aus Aufregung, aus Angst, etwas Unrechtes Maria Assunta gegenüber zu tun. Seine Lehrerin hat mir erklärt, dass es ausgewählt worden war, an einer Gruppe Tarantellatanz teilzunehmen, andere Kinder singen, andere machen gar nichts. Tarantella ist der hier übliche Volkstanz und es gefällt mir sehr, dass das Kind seine Zeit mit Tarantella statt mit Mathematik verbringen soll. Selbst MM tanzt auf entzückende Weise Tarantella. Ich will die Fähigkeit zu diesem Tanz auch in die DNA des Kindes einprägen. Das Kind hört auf zu schluchzen und wird von mir in einen Saal mit vielen anderen Kindern entlassen. Während der Tarantellastunde telefoniere ich mit MM. Wir sind uns einig, dass es keine Diskrepanz zwischen der Ballettstunde und der Tarantella geben kann und dass wir uns mit anderen Müttern organisieren werden, um das Kind am Vormittag diese Proben absolvieren zu lassen. Nach der Probe ist das Kind aufgelöst und glücklich und ich telefoniere viel und schaue in meinen Kalender. Am nächsten Tag spreche ich mit Maria Assunta, sicher, dass das Problem nur im Kopf der kleinen Freundin existiert. Weit gefehlt. Die sanfte Maria Assunta hebt die Stimme: "Ich kann niemandem verbieten, dort hin zu gehen, aber die Aufführung der Tarantella ist am 9. Juni und bei uns ist die letzte Probe am 9. Juni und wer nicht zur Probe kommt, der darf an meinem Ballett nicht teilnehmen." Auf meiner Stirn leuchtet in Neonfarben die Schrift "110 Euro, in zwei Raten zu 55 Euro für Kostüm Modern und Kostüm Klassisch" auf und ich unterbreche den Redestrom Maria Assuntas kühl. "Dann ist es ja klar." Maria Assunta sagt, sie hätte ein Jahr für ihr Ballett gearbeitet. Ich sage: "Wir auch." Sie sagt, Tanz werde nie ernst genommen, nur wenn es darum ginge, etwas aufzufüllen, sei Tanz plötzlich wichtig. Aber Tanz sei Arbeit und sie arbeite das ganze Jahr und sie sehe nicht ein, wieso dieses Aufführungen immer dann seien, wenn ihr Ballett stattfinde. Aha, das ist also nichts Neues, denke ich. Ihr Ballett wurde tatsächlich bereits um Weihnachten angekündigt und das Leben unserer erweiterten Familie kreist um dieses Datum. In Kürze werden wir zu beten beginnen, dass das Kind nicht krank wird. Ich finde, dass mich Maria Assunta unter Druck gesetzt hat und sie ist mir nicht mehr so sympathisch, aber ich respektiere ihre Arbeit und ihre Ernsthaftigkeit. Das Kind hat mitgehört und beteuert, es mache gar nichts, wenn es nicht mehr Tarantella üben geht. Ich denke, ich muss jetzt nichts mehr organisieren und so hat sich die Sache für mich erledigt.
Bis gestern.
Als ich in der Ballettschule das Kind abholen will, erfahre ich, dass am Donnerstag eine Lektion stattfindet, obwohl es sich um einen Feiertag handelt. Ja, sagen die beiden Mütter, die dort ebenfalls warten, Maria Assunta will den 9. Juni einarbeiten, an diesem Tag ist die Probe abgesagt. WAS?????? Von den anderen beiden Müttern, deren Töchter in die selbe Klasse wie das Kind gehen, erfahre ich, dass unsere Kinder die einzigen seien, die nicht an der Tarantella teilnehmen, andere Kinder der Ballettschule gingen sehr wohl zu beiden Veranstaltungen. Ich möchte mit Maria Assunta sprechen, aber sie ist im Gespräch mit einer anderen Frau, die auch sehr rasch aufgestanden ist, als sie gehört hat, dass (Ironie des Schicksals), die Tarantella vom 9. auf den 8. Juni verschoben wurde. Ich frage mich auch, woher die Leute das alles wissen. Ich schaue in der Bar jetzt manchmal auf die Lokalseite in der Zeitung, aber es hilft nichts, wer nicht regelmäßig eine halbe Stunde vor Schulschluss vor der Schule steht, um sich allen Tratsch anzuhören, wird in diesem Ort immer außen vor bleiben. Dann beschließe ich, nach Hause zu gehen, um mit MM zu sprechen. Seit fast 16 Jahren versucht MM mir beizubringen bis 10 zu zählen, bevor ich losdonnere und ich treffe ihn verschwitzt und mit Erde auf dem Hemd an, da er gerade den Garten bewässert hat: "Ich brauche ein therapeutisches Gespräch!". Wenn MM mich lächerlich findet, ist es fast angenehmer, als wenn er findet, jemand hätte ein schweres Unrecht an mir (an diesem Fall an unserem Kind) verübt. Schweres Unrecht begehen ja seiner Meinung nach nur die Herren (und Damen) rund um unseren Premierminister und ich habe mich schon ein bisschen daran gewöhnt, über diese Riege nur noch zu lachen. Ich bin überrascht, wenn aus Europa Verweise gegen Berlusconi kommen. Und jetzt hat Maria Assunta uns mit derselben Verachtung behandelt, wie Berlusconi die hirnlosen linken Wähler, die aus Milano eine Stadt der Zigeuner machen werden und die größte Moschee Europas dort errichten (womöglich an Stelle des Mailänder Doms...).
An diesem Abend versuche ich alles, um nicht immer daran denken zu müssen, dass Maria Assunta auch eine von denen ist, die schamlos mit der Zeit anderer Leute umgehen, die die glauben, dass ernsthafte Menschen sowieso eine Schraube locker haben. Die versuchen sich zu bereichern, egal an wem, Hauptsache bereichern. Die, die an heute denken, aber nicht an morgen.
Schlussendlich schreibe ich in meinen Kalender einen Termin nach der Ballettaufführung: Mit Maria Assunta reden. Ich hätte den Termin lieber schon heute in meinen Kalender gesetzt. Rancore heißt Groll auf italienisch. Aber ich werde ihr gegenüber das Wort Delusione, Enttäuschung gebrauchen.

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