Sonntag, 20. März 2011

Am Sonntag fliegen ein paar Gedanken

Das Kind starrt auf ein weißes Blatt und überlegt, wie es die Blumen im Buch zeichnen soll. "Aber ich zeichne nicht, so wie sie da sind". Na gut, dann eben nicht. Ich starre auf die weiße Seite in meinem Computer und weiß eigentlich nicht mehr, was ich schreiben wollte. Sind Sonntage schön? Machen dann die Kinder den Eltern das Frühstück oder eine Freude? Ich habe ein Buch von Paul Auster gekauft und will es lesen. Es heißt "Sunset Park". Ich will Kisten ausräumen oder zumindest verstehen, warum ich es nicht tue. Ich will, dass mich eine Psychologin an der Hand nimmt und sagt: "Greif da hin und das an, brav Schatzilein, siehst du, es geht." Nein, es geht nicht. Jeder Handgriff hat einen Erdrutsch an Konsequenzen zur Folge. Die Würste, die uns unsere Nachbarinnen geschenkt haben, müssen aus einem Raum weg, den wir "L'entrata" nennen, ein Raum des mittelalten Teils des Hauses, der durch eine alte Holztür zu betreten ist und der unser Eingang sein soll, sein sollte, jedenfalls jetzt unsere Garderobe ist. Und da dort alle unsere Jacken und Mäntel hängen, riechen die jetzt nach Würsten. Wenn ich die Würste weggebe, muss ich einen neuen Platz finden (im Keller?). Wenn ich in den Keller gehe, erwarten mich dort revolutionäre Dinge, die ich tun müsste. Wenn ich durch das Wohnzimmer gehe, indem ich mich geschickt an Kisten vorbeischlängle, stelle ich fest, dass wir kein Wohnzimmer, sondern einen Lagerraum haben, noch dazu einen ziemlich unordentlichen. Nachbarin Teresa spricht manchmal mit mir vor oder hinter dem Haus, ich mache dann eine vage Handbewegung Richtung herrliches Wohnzimmer mit herrlichen Schiebefensterfronten und versuche ihr mit meinen rasch sprudelnden Worten den Weg zu verstellen, den ihr ihre verständliche Neugier diktiert.
Innerlich liege ich auf einem Bett beim Psychiater oder irgendeinem Menschen, der mit mir sprechen möchte. "Warum fällt es ihnen so schwer, sich von den Kisten zu trennen, Signora Dattilografa?" Ich will widersprechen, aber ich sehe ein, er hat recht. Ich liebe den Zustand des Unfertigen, des Übersiedelns, des Vorläufigen, der Bewegung. Natürlich gebe ich das nicht zu. Aber ich komme zu der Einsicht, dass Bewegung hier nur noch stattfinden kann, wenn ich den Ramsch bewege. Vorläufig bin ich sowieso. Ich bin prekär.
Aber da ist noch etwas, was ich dem Herrn im weißen Mantel(?) sagen möchte: ich bin zutiefst beunruhigt. Ich bekomme immer größere Angst. Meine Angst nimmt mit dem Lebensalter zu. Als Kind hatte ich keine Angst vor der Finsternis, als Jugendliche hatte ich keine Angst vor den seltsamsten Erfahrungen, als Erwachsene hatte ich keine Angst, weder vor dem Neuen, noch vor der Unsicherheit und ich habe mir einiges zugemutet. Ich habe keine Angst vor dem Fliegen und keine Angst zu Ertrinken. Aber seit ich vor einigen Jahren "America" von T.C.Boyle gelesen habe, bin ich zu einem Jammerlappen geworden. Am Ende des Buchs befinden sich die beiden Protagonisten, die sich den ganzen Roman über nicht getroffen haben, gemeinsam in einer Art Sintflut. Dieses Bild geht nicht mehr aus meinem Kopf und ich habe seitdem keinen Regen mit unschuldiger Freude erlebt. Ich lebe in einer erdrutschgefährdeten Gegend. Ich lebe in einer erdbebengefährdeten Gegend. Ich befürchte aber, dass, wenn ich auswandere, sich meine Ängst verändern und anpassen. Gestern hatte ich Angst, dass MM und meine drei Söhne, die im Auto vor mir fuhren, einen Unfall haben könnten. Und immer wieder kehrt das Rutschen und Reißen aus dem Roman von T.C. Boyle in meine Gedanken zurück. Und diese sind sogar unangenehmer als die Vorstellung, die Schulden beim Obermaurer nicht begleichen zu können.

Auf welche drei Dinge möchten Sie nicht verzichten? frage ich mich selbst als wandelnde Frauenzeitschrift. Auf meine Familie, das Internet und Rotwein, antworte ich mit größtmöglicher Sicherheit, wobei das ja eigentlich keine Dinge sind. Und wovor haben Sie am meisten Angst? Das fragt aber keine Frauenzeitschrift. Vor einem Erdrutsch. Ich schaue nicht fern und ich kaufe keine Zeitungen. Die Bilder von Japan im Internet kann ich nur überfliegen. MM erzählt mir von der Tsunamiwelle vom Meer aus gesehen. Ich möchte mich unter den Tisch setzen.

Das Leben ist eine Brücke, du kannst über sie gehen, aber kein Haus auf ihr bauen, sagen die Indianer (in Nordamerika, wie MM zu sagen pflegt, denn auf italienisch gibt es die in Indien und die in Nordamerika). Oder haben sie gesagt. Ich werde mich bemühen, das Leben mehr aus der Sicht der Indianer zu sehen.

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